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Über den Stil der philosophischen Partieen des
Mahäbhärata^).
Von Otto Stranß.
Wenn ich heute übei- den philosophischen Stil des Mahäbhärata einiges beibringen möchte, so soll es sich weder um eine rein ästhe¬
tische Würdigung noch um eine grammatisch - syntaktische Be¬
trachtung handeln. Vielmehr habe ich den weiteren Sinn des
Wortes Stil im Auge, der sich in der äußeren Formung des Ge- 5
dankens und in der inneren Struktur desselben manifestiert. Die
Bedeutung einer solchen Stilforschung liegt auf der Hand. Was
für den Veda, speziell für den Rgveda, in dieser Beziehung geleistet
worden ist, bleibt für das Mahäbhärata noch zu tun. Denn es gilt
hier eine Gefahr abzuwenden, die jedem Forscher der Mahäbhärata- lo
Philosophie bekannt ist. Mit der Rubrizierung der mannigfaltigen
Anschauungen ist es nicht getan, wägen ist auch hier nötig. Und
dazu müssen wir uns klar sein, welches Maß von gedanklicher
Schärfe den epischen Denkern^) zuerkannt werden kann, wo die
unteren und oberen Grenzen ihres Darstellungsvermögens liegen, is
In der Darstellung des Gedankens tritt aber auch die Natur des
Denkens selbst zu Tage: So erlangen wir einen Einblick in das
Innere der Maschine , dadurch allein werden wir ihre Produkte
richtig würdigen können.
Was ich hier darüber sagen kann, ist nur ein Bruchteil dessen, 20
was gesagt werden müßte. An anderer Stelle hoffe ich die heutigen
Andeutungen zu einem Ganzen zu vervollständigen.
1) Dieser Vortrag wurde in der indischen Selition des XV. Internationalen Orientaüstenlcongresscs zu Kopenhagen gehalten.
2) Wenn hier von „epischen Denkern", „epischen Diaskeuasten" usw.
gesprochen wird, so soll damit nicht gesagt sein, daß es sich 11m einen zeitlich oder individuell bestimmten Kreis von Verfassern handelt. Da aber über die Zuteilung dor einzelnen philosophischen Mahäbhärata-Abschnitte an bestimmte Zeiten , Schulen usw. bis jetzt nicht einmal begründete Vermutungen bestehen, so mußte in dem engen Kähmen dieser Andeutungen vorläufig die ganze Masse philosophischer Stücke ins Auge gefaßt werden. Eine solche Betrachtungsweise wird, weit entfernt von dem Vorurteil, eine Einheit finden zu wollen, einer weiter¬
gehenden Forschung vielmehr die Möglichkeit vorbereiten , durch .lUmähliche Difterenzierung zur Erkenntnis von Stilgruppen vorzudringen.
Zeitschrift der D. M. G. Bil. LXII. *3
662 Strauß, Über den Stil der pliilos. Partieen des Mahäbhärata.
Die Darstellungsform der philosophischen Partieen des Mahä¬
bhärata ist bekanntlich die Dialogform. Doch trifft dieser Aus¬
druck im prägnanten Sinne nur auf einen ganz kleinen Teil zu
die große Masse der Samvädas kann nur ganz äußerlich als Dialog
5 bezeichnet werden. Es scheint dem Geiste dieses Zeitalters noch
unerträglich zu sein, die Darlegung eines philosophischen Systems,
einer moralischen Belehrung einfach um ihrer selbst willen hinzu¬
stellen. Man sucht nach irgend einem Rahmen, der die Belehrung
durch eine , wenn auch noch so geringfügige Situation motiviert
10 und ihre Autorität durch die Patenschaft der Götter oder berühmter
Rsis der Vorzeit steigert. Um diesen einzelnen Rahmen schließen
sich dann noch mehrfach größere , so z. B. in einem großen Teile
des Moksadharma der Dialog zwischen Yudhisthira und Bhlsma.
Die einleitenden Fragen des engeren Rahmendialogs pflegen sich
15 in ähnlicher Weise in dem äußeren zu wiederholen. Wir können
auf dieses Verhältnis hier nicht näher eingehen und wenden uns
nunmehr den Fragen zu , einerlei in welchem Rahmen sie stehen.
Die einfachste und häufigste Form besteht in einer direkten
Frage oder Aufforderung, mit welcher der Belehrungsuchende ohne
20 weiteres an den Lehrer herantritt. ,0 Brahmane , gibt es viele
Purusas oder nur einen ? Und welcher unter allen ist der beste
Purusa, welcher ist als ihr Ursprung zu betrachten?" (352, 1).
Woher ist diese ganze Welt des Beweglichen und Unbeweglichen
geschaffen worden, und zu wem geht sie beim Untergange ein?"
25 (276, 3)1).
Neben diesen einfachen direkten Fragen findet sich ein weiterer
Typus, der durch den Versuch, die Frage zu motivieren, charakte¬
risiert ist. Diese Begründung besteht teils in einer Anknüpfung
an die äußere Situation, teils darin, daß von einer Lebensbeobach-
30 tung oder von einem bekannten philosophischen Satze ausgegangen
wird. Die Anknüpfung an die Situation findet sich öfter in Fragen
über die Beruhigung. Der Fragende sieht sich einem Weisen
gegenüber, dessen moralisches Verhalten ihm vorbildlich erscheint,
und den er deshalb bittet, ihm die Mittel zur Erreichung eines
s.'> solchen Verhaltens zu offenbaren. So nähert sich der König
Prahrada einem wandernden Brahmanen und preist seiuen erhabenen
Gemütszustand: ,Du verlangst nach Geschenken und bist auch
nicht bekümmert, wenn man dir nichts schenkt Während
die Geschöpfe durch den Strom des Lebens fortgerissen werden,
40 eracheinst du wie einer, . . . der über das Streben nach dharma,
käma, artha erhaben ist ... . Unbekümmert um die Sinnendinge
gehst du dahin, muktaä carasi säksivat. Welches ist deine Weis¬
heit, deine Schriftgelehrsamkeit, dein Lebenswandel?" (179, 5 f.).
)) üie Übersetzungen und die Adhyäyazahlen nacli den von P. Deussen in Geineinschaft mit mir herausgegebenen „vier philosophischen Texten des Mahäbhärata". Die Kapitelznhlen ohne Piirvanangabe beziehen sich auf den Moksadharma.
Strauß, Über den Stü der philos. Partieen des Mahähhärata. 663
An einer anderen Stelle lesen wir, wie Gott Sakra den gestürzten
Prahrada anredet, seine reine Heiterkeit preist und ihn nach der
Erkenntnis fragt, die ihm über das Unglück seines Sturzes hinweg¬
geholfen hat (222, 9 f.).
Man wird den Reiz der Lebendigkeit und Anschaulichkeit, der s
solchen Anreden innewohnt, nicht verkennen und desto mehr die
Trockenheit der einfachen meist von Yudhisthira gestellten Fragen
empfinden. Für den weiteren Rahmen des Mok.sadharma fehlte
freilich die Situation, die in den einzelnen Geschichten so leicht
auszumalen war. Und wo wir eine derartige Andeutung finden, da lo
handelt es sich um entlehnte Motive. Wenn Yudhisthira z. B. sich
im zwölften Buche (277, 1) über die Tötung seiner Verwandten
Gewissensbisse macht, so können wir darin nur eine wenig glück¬
liche Entlehnung aus der Bhagavadgltä erblicken. Und Yudhisthira's
Hinweis auf das von Leichen bedeckte Sehlachtfeld (257, 1), woran X5
er Fragen über den Tod knüpft, ist sogar direkt auS"dem siebenten
Buche (52) entnommen. Dort ist der Hinweis im Anschluß an
die kurz vorangegangene Schilderung des Schlachtfeldes , auf dem
wirklich eben noch Abhimanyu getötet worden ist, durchaus an¬
gebracht und lebendig, während der Hörer des Moksadharma diese 20
Situation längst aus dem Auge verloren hat. Die Bedeutung
solcher Fakten für die Kritik der Komposition ist augenfällig.
Auch die naive Sorglosigkeit der späteren Diaskeuasten tritt hier
hell zutage.
Außer an die Situation knüpft der Fragende auch häufig an 25
eine allgemeine Lebenserfahrung an. So weist Yudhisthira auf
Kala hin (175, 1), der den Untergang aller Wesen herbeiführt; und
in der zugehörigen Beispielgeschichte geht der Sohn von dem Satze
aus: „hsipram hy äyur bhra^yate niänavänäm'' . Häufiger noch
sind es philosophische Lehrsätze, an die sich die Bitte um weitere so
Erklärung anschließt. So fragt Yudhisthira über das Werk, welches,
sei es gut oder böse, den Purusa durch Bindung an die Frucht
fesselt (222, 1). Oder BhT.sma gibt als Thema der gewünschten
Belehrung den Lehrsatz an : „Erlöst von den siebzehn und den fünf
Grundstoften, sowie von den acht Sinnesobjekten und Gunas gehen so
nicht in eine abermalige Geburt ein die Munis, die ihr Gelübde
scharf beobachten' (280, 4 f.). Manchmal nimmt der Fragende
auch direkt auf den Veda Bezug. So erinnert z. B. Janaka an
Aitareya-Upanisad , wenn er sagt : ,Was einem als Kind geboren
wird, das ist man selbst, wie die Sruti lehrt. Wie kommt es nun, 40
daß der Mensch, da er doch vom Brahmanen abstammt, so ver¬
schiedene Richtungen eingeschlagen hat?' (298, 2).
In dieser Frage finden wir aber auch noch ein anderes Moment,
das uns von besonderer Wichtigkeit scheint: Die Reflexion.
Der Fragende weist auf Widersprüche oder Schwierigkeiten hin, 45
deren Lösung er erbittet. Und dieser kritische Zweifel bleibt nicht
bei den Widersprüchen zwischen Veda und Leben stehen , er be-
4.5*
664 Strauß, Über den Stil der philos. Partieen des Mahäbhärata.
gnügt sich nicht auf Unstimmigkeiten, wie die gleichzeitige Em¬
pfehlung von pravrtti und nivrtti (Aktivität und Passivität) hin¬
zuweisen, sondern er berührt auch das metaphysische Gebiet : „Wenn
keiner nach dem Tode ein Bewußtsein behält, was kann, wenn dem
5 so ist, Nichtwissen oder Wissen für eine Bedeutung haben ? Dann
steht es doch fest , daß alles vernichtet wird , und bedenke auch
dieses, welchen Unterschied es dann begründen kann, ob einer un¬
besonnen oder besonnen war" (219, 2 f.). Die Bedeutung dieser
Zweifel für unsere Untersuchung liegt darin , daß sich hier ein
10 kritischer Geist zeigt, der sich im Gegensatze zu einer sehr ver¬
breiteten Harmlosigkeit des Mahäbhärata-Hörers nicht alles kritik¬
los vorsetzen läßt. Aber während es sich hier nur um kurze
Fragen handelt , verdanken wir dieser kritischen Seite des philo¬
sophierenden Epos einige hochwichtige Diskussionen, in denen jeder
1.-) der Unterredner in ausführlicher Weise den Gegner angreift bezw.
seinen Standpunkt verteidigt und uns dadurch einen unschätzbaren Einblick in die geistige Operationsfähigkeit dieser Denker tun läßt.
Wir werden darauf noch zurückkommen. Ansätze zu solchen Dis¬
kussionen finden wir in den Einwürfen, wie sie sich, freilich nicht
20 allzu zahlreich , in einzelne Belehrungen eingestreut finden. So
macht Yudhisthira gegen die Lehre von der Ahimsä den Einwand:
„Das leibliche Bedürfnis und Notfälle erheben Einspruch gegen
die, welche nicht töten wollen; wie kann, ohne daß man dergleichen
unternimmt, der Unterhalt des Körpers von statten gehen?"
25 (2 6 6, 13). Solche Einwürfe sind neben ihrer Bedeutung für die
geistige Beweglichkeit auch ä.sthetisch und kompositioneil wichtig.
Sie beleben die Einförmigkeit des Vortrags und bringen den Ge¬
danken von neuem in Fluß , indem sie zu weiteren Auseinander¬
setzungen anregen; Fragen, die diesem Zwecke dienen, finden sich
so zahlreich, ohne daß sie wie die erwähnten Einwürfe eine besondere
Gedankenarbeit leisten.
Wir haben bis jetzt die Fragen nur als solche betrachtet.
Erwägt man aber die im Vergleich zur Antwort unverhältnismäßige Kürze dieser Fragen, so ergibt sich noch eine andere Betrachtungs- s.") möglichkeit. Man könnte nämlich die Antworten als unabhängige
Ausführungen auffassen , zu denen dann nachträglich eine Über¬
schrift erfunden wurde , die sich nun in der Gestalt einer Frage
präsentiert. Unter diesen Gesichtspunkt fällt z. B. der Versuch
der Verfasser, die Quintessenz der speziellen Geschichte auf eine
40 allgemeine Formel zu bringen. So finden wir zu der Geschichte
von Mauki (177), der sich über den Verlust seiner letzten Ochsen
mit der Erkenntnis irdischer Vergänglichkeit tröstete, folgende
Einleitungsfrage des Yudhisthira : , Wenn einer, nach großen Dingen
strebend , den Reichtum nicht erlangt • und doch von Durst nach
45 Reichtum beherrscht wird , was muß der tun , um glücklich zu
werden?" Oder Yudhisthira fragt (223, 1): „Wie beschaffen ist
das Bewußtsein, mit welchem ein Fürst, der aus seiner glücklichen
Strauß, Über den Stil der philos. Partieen des Mahäbhärata. 665
Lage gestürzt wurde, auf der Erde lebt, nachdem er durch die
Schläge des Kala zermalmt ist?" Eine solche Frage kann man
nur stellen, wenn man die Geschichte vom gestürzten Bali kennt.
Künstlerisch ist diese Form der Frage natürlich ein Unding, aber
wenn wir uns nicht an die Frageform klammern, wird es doch 5
interessant sein, zu sehen, in welchem Maße die epischen Diaskeuasten
imstande waren, die Moral der Geschichte in einen kurzen Vers
zusammenzupressen. Auch sonst finden wir in den Fragen häufig
gewisse Richtlinien für die Antwort. So lesen wir: „Welche Fehler
werden durch das Manas abgestreift, und welche werden durch die lo
Buddhi gelockert, welche stellen sich immer wieder und wieder
ein, und gegen welche ist zufolge der Verblendung das Ankämpfen
nahezu fruchtlos?" (212,25). Dieses Streben, für die Antwort
gewisse Kategorieen bereitzustellen, findet seinen Höhepunkt in
einer Form, in welcher Frage und Antwort ganz genau aufeinander- 15
gepaßt sind: in den Rätselfragen. Nur ein Beispiel:
„Wovon ist diese Welt umhüllt ? Warum erglänzt der Mensch
nicht? Warum läßt er seine Freunde im Stich? Warum kommt
er nicht in den Himmel ?"
„Von Nichtwissen ist diese Welt umhüllt, wegen der Selbst- 20
sucht erglänzt der Mensch nicht, aus Habgier läßt er seine Freunde
im Stich, aus Welthang kommt er nicht in den Himmel" (301, 39 f.).
Die weite literargeschichtliche Perspektive, die diese Rätsel¬
fragen eröffnen, müssen wir hier unberücksichtigt lassen.
So eng wie bei den Rätselfragen ist die Verknüpfung von 25
Frage und Antwort selten. Aber wenn auch die kurzen Fragen
die Antwort häufig nicht ganz umfassen, so läßt sich doch im all¬
gemeinen eine erträgliche Entsprechung konstatieren. Erstreckt
sich aber die Antwort auf mehrere Adhyäyas , so leiden die Be¬
ziehungen zur Frage erheblich. Diese größeren Samvädas werden 30
gewöhnlich von einer Häufung einfacher direkter Fragen eingeleitet,
was ich für einen Dispositionsversuch der Diaskeuasten halte. Ein
kurzer Blick auf den Erfolg dieser Versuche wird zur Beurteilung
der geistigen Disziplin dieser Männer nicht unwichtig sein.
Die große Belehrung Manus (201—206) wird durch eine Reihe 35
von Fragen des Byhaspati eingeleitet, die sich bei näherer Betrach¬
tung in sieben Punkte einteilen lassen. Obgleich nun die An¬
einanderreihung dieser vielgestaltigen Fragen unzweifelhaft nur er¬
folgt, um die sechs folgenden Adhyäyas zu umfassen, so sehen wir
bei sechs Fragen von den sieben ganz deutlich , daß sie durch 40
Entlehnung gewisser Schlagworte bestimmten Versen des ersten
Adhyäya angepaßt sind. Daß die folgenden Adhyäyas trotzdem
einigermaßen passen, liegt an ihrem verschwommenen, immer wieder
auf Ähnliches zurückkommenden Gedankengang. Bei anderen
solchen Fragenhäufungen läßt sich die geringe Fähigkeit, die Haupt- 45
gedanken herauszuerkennen, noch deutlicher feststellen, indem be¬
deutende Kategorien ausgelassen sind, während ausdrücklich in den
4 I
666 Strauß, Über den Stü der philos. Partieen des Mahäbhärata.
Fragen hevorgehobene Punkte nur ganz kurz gestreift werden.
Handelt es sich hier nur um eine gewisse Sorglosigkeit dem Hörer
gegenüber, der nicht so nachprüfen kann? Mir will es mehr
scheinen, als sei Erstrebtes nur unvollkommen erreicht worden.
6 Nach diesen Bemerkungen über die Fragen und das Verhältnis
zwischen Frage und Antwort wenden wir uns zur Betrachtung des
Gedankenablaufs in den Antworten. Das Stoffgebiet dieser Vorträge
umfaßt im wesentlichen drei Teile: Erstens Stücke ethischen Ge¬
halts, die teils Regeln der Moral oder des brahmanischen Lebens-
10 Wandels darbieten, teils das Verhalten des Grhastha, des Yogin usw.
schildern. Diese Stücke enthalten oft nur wenige einfache Gedanken,
wodurch eine übersichtliche Darstellung auch bei etwas lockerer
Disziplin erleichtert wird. Andererseits freilich fehlt bei einer
gewissen Häufung von Regeln bezw. Eigenschaften eine traditionelle 15 Aufeinanderfolge, die der Darstellung einen Rückhalt geben könnte.
Zweitens Stücke spezifisch philosophischen Gehalts , enthaltend
Schöpfung und Vergang, Psychologie, Physiologie, Erkenntnistheorie
und Metaphysik. Diese Stücke besitzen ein gewisses Rückgrat
einmal in dem natürlichen Verlauf von Schöpfung zu Vergang,
20 dann auch in dem tatsächlichen Zusammenhang der darzustellenden
Phänomene. Auf der anderen Seite sind die Verhältnisse aber
schwieriger als auf ethischem Gebiet, leichter als dort entsteht hier
Verwirrung, wenn die gerade Linie der Darstellung durch Ab¬
schweifungen verlassen wird. Als dritter Faktor stellt sich die
25 Vergeltungslehre, die Lehre vom karman dar. Sie steht seltener
allein , sondern zieht sich als roter Faden durch die meisten Dar¬
legungen , denn sie ist, sofern sie die Erlösung behandelt, Zweck
und Ziel des Ganzen.
Nach dieser allgemeineren Charakteristik versuchen wir einige
so Haupttypen des Gedankenablaufs kurz anzudeuten. Die einfachste
Form ist hier die Aneinanderreihung von Regeln oder Eigen-
schaft€n , wie sie ethischen Abschnitten häufig eignet. Eine be¬
stimmte Reihenfolge besteht nicht , Reflexionen fehlen , nur selten
beleben Bilder den trocken-lehrhaften Ton. Diesem Typus nahe
s.T verwandt ist der spiralenförmige. Die gerade Linie des Gedanken¬
ablaufs wird hier immer wieder zu schon behandelten Problemen
zurückgebogen. Wenn uns der Verfasser von den Leiden des welt¬
lichen Lebens zu der erlösenden Tätigkeit der Buddhi geführt hat,
dann kehrt sein Denken wieder zur verirrten Buddhi zurück, um
40 dann von neuem zu der erlösenden Erkenntnis zu gelangen (205).
Ähnlich windet sich die Betrachtung zwischen Verstricktheit und
Befreiung (212); an anderer Stelle ist es tfsnä, die den Lauf des
Gedankens immer wieder zurückwendet. Die hier zutage tretende
Sprunghaftigkeit geht aber noch viel weiter , indem sie sich nicht
45 nur auf schon Behandeltes bezieht, sondern von einem Punkt zum
anderen verbindungslos fortschreitet. Auf die Schilderung der
Indriyas nebst bala (276) folgt plötzlich eine Theorie des Traums,
4 I
Strauß, Uber den Stil der 2M0S. Partieen des Mahäbhärata. 667
an eine Betrachtung über das Manas finden wir Bemerkungen über
das Schenken angefügt (293), auf eine Diskussion über karma,
daiva, svabhäva folgt plötzlich eine Preisung des Tapas usf.
Manchmal glauben wir, die Veranlassung des Gedankensprungs zu
erkennen: Wenn von dem schlechten Guna des Tamas die Rede r.
war, liegt der Hinweis auf Bezähmung nahe, wird von den Fesseln
des irdischen Leibes gesprochen , so finden wir uns durch eine
Assoziation mit dem irdischen Grundübel der Geschlechtslust plötz¬
lich bei einer Theorie der Spermaentwicklung usw. Hierher ge¬
hören auch Abschnitte, in denen eine Anzahl bestimmter Gedanken 10
wie Dominosteine in den verschiedensten Kombinationen zusammen¬
gestellt werden. Im Anfang des Manu-Brhaspatisamväda (201 ff.)
sind diese Gedanken die folgenden: Die Natur der Seele, die Ver¬
gänglichkeit des Leibes, die Erlösung des von den Sinnendingen
sich abwendenden Weisen, die Verstrickung des Unweisen, die Ver- 15
geltung , das höchste Ziel. Die Zeit gestattet es mir nicht , zu "
zeigen, welch buntes Spiel mit diesen Gedanken getrieben wird.
Aber schon aus dem Gesagten wird klar, was diese Vorträge nicht
sind: nämlich systematische Belehrungen.
Das mangelnde Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung der 20
Gedankenfolge hat auch zusammenhängenderen Stücken geschadet.
Ein eigentümliches Beispiel dafür bietet Panca^ikhas Vortrag (219).
Auf den ersten Blick sieht man nur Unordnung. Dann aber ent¬
deckt man einen zusammenhängenden Gedankengang, die Säflkhya-
evolutionen betreffend, der jedoch durch zwei umfangreiche Unter- 25
brechungen entstellt ist, nämlich durch eine Betrachtung über die
Erlösung (14—19) und durch eine Gunaschilderung (25—31). Die
erste Unterbrechung beruht auf der schon erwähnten Neigung, die
Erlösung, die ja natürlich das Ziel der ganzen Belehrung ist, immer
wieder als Hauptsache in Erinnerung zu bringen. Die zweite ge- so
hört an sich in den Zusammenhang, aber die breite Behandlung
einer Sache, die ihrem Wert fürs Ganze nach nur als kurzer Hin¬
weis behandelt werden dürfte , zeigt einen erheblichen Mangel an
Kompositionsgefühl. Noch empfindlicher sind die Unterbrechungen
moralischer Darlegungen durch medizinische Digressionen, die eben- ss
falls den Charakter des Selbstzwecks angenommen haben (333).
Auf das Fehlen dieser medizinischen Abschweifungen in dem ent¬
sprechenden Adhyäya (209) des Vanaparvan, ein für die Textkritik
sehr wichtiges Faktum, kann ich hier nicht eingehen.
Neben diesen Mängeln der Komposition finden sich aber auch 40
gute klare Dispositionen (176; 274 usw.), die freilich an Zahl
hinter den mangelhafteren weit zurückstehen. Und was sich im
größeren Abschnitt als klare Scheidung zeigt, das leistet im kleineren Umfang, ja selbst im Einzelverse die antithetische Darstellungsform.
Diese Kunstform aber hat als Ursprung eine Neigung, die häufiger 45
auf die Klarheit des Gedankens ungünstig gewirkt hat, ich meine
die Neigung zum Gleichklang, zum Schema und damit wiederum
668 Strauß, Über den Stä der philos. Partieen des Mahäbhärata.
zusammenhängend zur Aufzählvmg mit und ohne Zahlen. Diese Denker
glauben , die Dinge erkannt zu haben , wenn sie sie nennen und
zählen können. Doch auf all dies muß der flüchtigste Hinweis
genügen. Wir eilen , noch einige Worte über die wichtigen Dis-
ä kussionen zu sagen, die uns für die Erkenntnis der geistigen Kapa¬
zität der Mahähhäratadenker besonders ergiebig scheinen. Der
Standpunkt der sich gegenüberstehenden beiden Unterredner pflegt
von dreifacher Art zu_ sein : 1. Die altvedische Lehre, die das
blutige Opfer, die vier Äärama's usw. fordert. 2. Der vergeistigtere
10 Upanisadstandpunkt, der auf Gesinnung und Erkenntnis einzig Ge¬
wicht legt und 3. der skeptische Standpunkt in mehr oder minder
rigoroser Fassung. Schärfe der Argumentation finden wir dabei
wesentlich auf der skeptischen Seite, zur dialektischen Verteidigung
der auf dem vedischen Dogma oder auf metaphysischen Über-
15 Zeugungen ruhenden Lehre sind die epischen Denker noch nicht
reif. Wenn aber auch die Meinung der Zweifler zu klarer Dar¬
stellung kommt, so sind die Verfasser doch stets mit dem Herzen
auf der anderen Seite. Aber wie wenden sie nun ihrer Seite den
Sieg zu, wenn der Gegner sich als dialektisch stärker erwiesen hat?
20 Dies bildet eine Hauptschwäche der Diskussionen. Entweder sucht
der Zweifler sich mit dem Orthodoxen auf einer mittleren Linie
zu verständigen, oder er erklärt sich trotz seiner guten Gründe für
besiegt oder — und das ist natürlich das Schwächste — der Ver¬
fasser entzieht dem Zweifler einfach das Wort, sodaß der Ortho-
25 doxe als Sieger hervorzugehen scheint, weil er unwidersprochen das
letzte Wort behält. Hören wir nun einige Angreifer. Bharadväja
führt Gründe gegen die Existenz des Jiva an (186): 1. Der Präna
bewegt, atmet, redet — also ist der Jiva unnötig. 2. Das Feuer
erzeugt Körperwärme und verdaut — also ist der Jiva unnötig.
30 3. Nun könnte der Jiva , als windartig angenommen , dem Winde
beigemischt sein , dann müßte er entweder beim Tode mit den
Winden den Körper verlassen, — das tut er aber nicht, — oder
er müßte nach dem Tode für sich fortbestehen, wie aus dem Meere
geschöpftes Wasser, das durch die Trennung auch nicht vernichtet
35 wird , sondern als ein anderes fortbesteht. Daß auch dieses nicht
der Fall sein kann, ergibt sich aus dem von Bharadväja später an¬
geführten Argument, daß man bei der Zerlegung des toten Körpers
keinen Jiva findet. In der stillschweigenden Annahme dieses Argu¬
ments liegt schon eine Schwäche. Aber die Kindlichkeit, die hier
40 das scharfe Denken immer wieder unterbricht, wird noch deutlicher
durch die anschließende Betrachtung, die die eben noch ernsthaft
bekämpfte Annahme als von vornherein sinnlos hinstellt. An einer
anderen Stelle erhebt Yudhisthira Einwendungen gegen die Ewig¬
keit und Unverbrüchlichkeit des vedischen Dharma (261). Unter
■15 den sechs Argumenten , die ein hohes Maß von Folgerichtigkeit
aufweisen, heben wir zwei hervor: 1. Der Begriff des Dharma be¬
ruht auf einem Zirkelschluß, denn was gut ist, ist doch erst aus
Strauß, Über den Stü der phüos. Partieen des Mahäbhärata. 669
dem Wandel gewisser Leute gefolgert worden. Dharma ist also
nicht ewig. 2. Nur durch die Länge der Zeit ist Dharma zu einer
scheinbar ewigen Norm geworden usw. In dieser Beweisführung
ist größere Geschlossenheit als in der vorangehenden zu konsta¬
tieren. Daß diese offenbar der leichteren Faßlichkeit des Dharma- 5
Problems gegenüber dem Jlva-Problem zuzuschreiben ist, scheint
mir für die Beurteilung der geistigen Kapazität bedeutungsvoll.
Und wie sehen nun die Heden der Angegriffenen aus? Bhrgu
setzt den Argumenten des Bharadväja nur einen bedenklichen Ver¬
gleich für die Fortexistenz des Jiva nach dem Tode entgegen. Auf lo
den berechtigten Einwurf Bharadväja's aber erwidert er mit einer
Schilderung vom unvergänglichen Wesen des Ätman — und damit
ist die Diskussion über die Existenz des Jiva erledigt. Der von
Yudhisthira angegriffene Bhlsma aber erwidert mit der Erzählung
von der Unterredung des Jäjali und Tulädhära über blutige Opfer 15
und Ahimsä, sowie über die Notwendigkeit der Äärama's für die
Erlösung. Hier ist der Schlußadhyäya für uns von besonderem
Interesse. Dieser stellt nämlich einen Kompromiß dar, wie er auch
in den Upanisad's öfter gewählt ist, indem nämlich äahdabrahma
und yat param unterschieden werden. Die Darstellung erweckt 20
in uns freilich Zweifel, ob diese feine Unterscheidung dem Sprecher
so recht klar geworden sei. Für die dritte Art der erwähnten
Schlußtypen finden wir im Vanaparvan ein gutes Beispiel. Draupadi
legt dort dem Yudhisthira dar, wie die Menschen nur Glieder¬
puppen in der Hand des Kvara seien , dieses Verhältnis aber das 25
ungerechteste von der Welt sei , denn entweder müßte der lävara,
der als der wirkliche Täter hinter dem willenlosen Menschen steht,
die schlechten Werke selbst büßen , was aber dem Begriff seiner
Allmacht widerstreitet; büßt er sie aber nicht, so herrscht eben
einfach die sinnlose rohe Gewalt. Gegen diesen scharfen Angriff 30
auf eine sittliche Weltordnung weiß Yudhisthira, ebenso wie vorher
Bhfgu und Bhlsma, nur mit den Behauptungen der überlieferten
Lehre zu antworten. Der Höhepunkt seiner Äusfühiningen ist das
matte Argument, daß die Pflichterfüllung doch ihren Lohn bringen
müsse, da die weisen Rsis der Vorzeit sie sonst nicht betrieben 35
hatten. Was entgegnet aber darauf Draupadi ? Weit entfernt sich
auf ihre eben bewiesene dialektische Schärfe zu stützen, bittet sie
für ihre ketzerische Auffassung um Verzeihung, entschuldigt sich
mit ihrer trostlosen Lage und schwenkt zu Yudhisthira's Seite über.
Zum Schlüsse möchte ich noch auf einen Adhyäya (218) hinweisen, 40
der, ein Unikum im Mahäbhärata, verschiedene Lehrmeinungen an¬
zudeuten und zu widerlegen unternimmt. Aber hier ist die Dar¬
stellung so eigentümlich verschwommen, daß man trotz einzelner
scharfer Gedanken nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, wo eine
Lehre aufhört und eine andere beginnt. Wir stehen hier an der «
Grenze der Leistungsfähigkeit epischen Denkens, denn eine solche
stilistische Schwäche scheint mir die Unklarheit der Gedanken not-
4 8«
670 Strauß, Über den Stil der philos. Partieen der Mahabharata.
wendigerweise vorauszusetzen. Daß aber doch ein gewisses Quan¬
tum geistiger Konzentration geleistet wird, habe ich im Voran¬
gehenden zu zeigen gesucht.
Wie ich schon am Anfang sagte , müssen meine heutigen
5 Ausführungen sehr unvollständig bleiben. Besonders über die
häufigen kleinen und großen Vergleiche hätte noch Wichtiges bei¬
gebracht werden können. Aber der Grundgedanke ist vielleicht
doch deutlich geworden : Die Forderung nämlich, bei jedem Adhyäya
und jedem Verse nach seinem und seiner Umgebung stilistischen
10 Charakter zu fragen, ehe man ihn als Baustein einer Darstellung
der Mahäbhärataphilosophie einfügt.
♦ 8 *
671
Die Zeit Kalidasa's.
Von T. Bloch.
Daß Kälidäsa am Hofe eines der Gupta-Könige von Nord-
Indien gelebt hat, ist eine Ansicht, die in letzter Zeit, zuerst vrohl
von Bühler, und nach ihm verschiedentlich ausgesprochen worden
ist. Es sei mir im folgenden gestattet, auf ein paar Stellen aus
den ersten Gesängen des Raghuvaipsa aufmerksam zu machen , in 5
denen man kaum umhin kann , Anspielungen auf einige Fürsten
dieses Geschlechts zu erblicken.
Ich beginne mit IV, 20. Die Stelle lautet: lksu-cchäya-nisä-
dinyas tasya goptur gunodayam a-kumära-kath-odghätam Mli-
gopyo jagur yaJah. Kälidäsa liebte idyllische Motive — man 10
denke nur an den ersten Akt der Sakuntalä und an die Schilderung
der Einsiedelei Kautsa's ') am Anfang des fünften Sarga des Kaghu-
varaäa — immerhin befremdet jedoch das Bild, das Kälidäsa in
jener Strophe des RaghuvamSa entwirft, besonders bei einem Dichter
wie Kälidäsa, dessen Schilderungen sonst durchaus den Eindruck 15
des Anschaulichen und Natürlichen hinterlassen. Daß Zuckerrohr¬
felder neben Reisfeldern vorkommen, hat ja nichts auf sich. Aber,
wenn die Feldhüterinnen sich dort niederlassen , so geschieht es
kaum , um dort Schatten zu suchen , sondern höchstens um die
weidende Herde von dem süßen Rohre fern zu halten, oder um 20
für sich selbst ein paar Stengel abzuschneiden, deren nahrhafter
Saft den Hunger verscheucht, den die indischen Hirten zu Käli-
■däsa's Zeit wohl ebenso empfunden haben, wie ihre Nachkommen
heutigen Tages, da sie sicher, wie diese, bis zum Anbruch der
Nacht auf die einzige substantielle Mahlzeit warten mußten, die 25
sie erhielten.
Das Gesuchte und Gekünstelte an dem Bilde läßt uns somit
vermuten, daß Kälidäsa jene Situation nicht um ihrer selbst willen
geschaffen hat , sondern dem Wortspiel zu liebe , das in dem Verse
enthalten ist. Die Gegenüberstellung von {k.m und goptur im so
1) Candragupta II. besuchte die Hiilile in Udayagiri in ZentraMndien in Cemeinschaft mit dem Kautsa Säba, der auch Vlrosena hieß, einem Dichter aus Pätaliputra: s. Fleet, Gupta Inscriptions, p. 35.