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IIUG pre 86-10

PRÄVENTIVE POLITIKÄNSÄTZE

Zur N euorientierung der ökonomischen, sozialen und ökologischen B erich terstattu n g

C hristian L eipert

Erscheint in: Michael Opielka und Ilona O stner (Hrsg.), Umbau des S o zialstaats. Perspektiven sozialer und ökologischer P olitik, Essen:

K la rte x t Verlag, 1986

IIUG, Potsdam er Str. 58, 1000 Berlin (West) 30, Tel.: (030)-26 10 71

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Die Industriegesellschaft hat in den vergangenen 30-40 Jahren einen Gestaltwandel durchgemacht, der sich u.a. in einem ra­

piden Anstieg der öko-sozialen Folgekosten des Wirtschafts­

prozesses äußert. Das etablierte System der ökonomischen Be­

richterstattung - die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, in deren Mittelpunkt die Ermittlung des Bruttosozialproduktes steht - ist ungeeignet, die Zusammenhänge zwischen der Evo­

lution der Industriegesellschaft und der Wachstumsdynamik dieser Folgekosten von Produktion und Konsum empirisch aufzu­

decken. Präventive Politikansätze benötigen vielmehr neue

Systeme der Informationsermittlung und -Verarbeitung, zu denen der vorliegende Beitrag Vorschläge unterbreitet. Es wird ge­

zeigt, weshalb eine Berichterstattung über die Folgekosten der industriegesellschaftlichen Produktions- und Konsumweise konzeptionell möglichst umfassend angelegt werden sollte.

Zum anderen wird eine erste Einschätzung der quantitativen Relationen zwischen den Hauptkategorien öko-sozialer Folge­

kosten in einer Industriegesellschaft am Beispiel der Bundes­

republik Deutschland gegeben.

Summary

Preventive Policy Concepts. On the Need to Reorient Economic, Social and Ecological Reporting

During the past 30 to 40 y e a r s , industrial society has under­

gone structural change which is expressed, among other things, in the rapid rise of ecological and social costs resulting from economic processes. The established system of economic reporting, national accounting, has as its primary function the determination of the gross national product. It is there­

fore not very suitable for explaining empirically the rela­

tionship between the evolution of industrial society and the growth dynamics of consequential costs resulting from pro­

duction und consumption. Preventive policies demand new

systems for conveying and interpreting information, for which this study offers some proposals. It attempts to show why the concepts of reporting the consequential costs of produc­

tion and consumption processes should be as comprehensive as possible. The study also attempts an initial assessment of the quantitative relations between the main categories of ecological and social costs in an industrialized country, using the Federal Republic of Germany as an example.

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kator der Wirtschaftspolitik ist gerade auch in den Wachstums debatten der letzten Jahre damit gerechtfertigt worden, daß dieser den Anstieg der volkswirtschaftlichen Gütermenge an- zeige, aus dem dann eine Reihe wünschenswerter Maßnahmen im Umweltschutz, im Sozial- und Gesundheitsbereich, in der Ent­

wicklungshilfe etc. finanziert werden könnten. Es gibt da­

nach abgetrennte Sphären: die ökonomische, die das Füllhorn an Gütern erzeugt und die nicht-ökonomische, die sich für die Realisierung ihrer Ziele aus diesem Füllhorn bedient.

Diese Sphärentheorie hat in der ökonomischen Theorie eine lange Tradition. Früher hat man mehr von der produktiven und der unproduktiven Sphäre gesprochen, heute ist die Unterteilung in Wirtschafts- und Sozialbereich verbreitet. Allen gemeinsam ist die Fragmentierung der Gesellschaft in verschiedene, von­

einander sauber getrennte Bereiche, wobei dem Produktions­

sektor die zentrale Stellung beikommt, weil alle anderen sich letztlich ressourcenmäßig bei ihm für die Erreichung ihrer Sektorziele bedienen.

Die heutige Politik folgt weitgehend noch diesem Sektorali- sierungsprinzip. Dieser Politiktypus ist - wie zunehmend sichtbarer wird - immer weniger erfolgreich. Wir beobachten heute Kostenexplosionen in einer Reihe nicht-ökonomischer Politikbereiche einerseits und andererseits Unzufriedenheit mit den mageren qualitativen Ergebnissen in diesen Bereichen.

Die Trennung der Bereiche in einen wohlstandsschöpfenden öko­

nomischen Generator und in Wohlstandsverbrauchende unproduk­

tive Bereiche ist durch die Realität überholt. Neben wohl­

standsschaffenden gibt es im Produktionssektor auch immer mehr wohlstandszerstörende Aktivitäten, die einen unmittel­

baren Einfluß auf die Situation im Umwelt-, Gesundheits- und Sozialbereich haben. Im Prozeß der Erzeugung des ökonomischen

"Kuchens" verschlechtern sich zunehmend die Bedingungen in den nicht-ökonomischen Bereichen, für deren Wiederherstellung

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und langfristige Erhaltung immer größere Anteile am Sozial­

produkt benötigt werden.

Die typische Schere zwischen explodierenden Kosten der Wieder herstellung und immer unbefriedigenderen substantiellen

Wohlfahrtsergebnissen ergibt sich aus der Art des Politik­

ansatzes in diesen Bereichen. Da vom Produktionssektor ge­

trennt, können sie lediglich versuchen, durch nachsorgende und reparierende Maßnahmen, die an den Produktionsprozeß an­

gehängt werden, eine "Entgiftung" von Gesellschaft und Natur zu erreichen. Eine isolierte Politik der Steigerung des So­

zialprodukts wird dann absurd, wenn sie ihr Ziel, nämlich Produktionsüberschüsse für andere Bereiche zur Verfügung zu stellen, dadurch verfehlt, daß diese durch die wachsende N o t ­ wendigkeit der Kompensation und Regulierung von produktions­

bedingten Schäden und Beeinträchtigungen (defensive oder kom­

pensatorische Ausgaben) aufgebraucht werden.

Die Erkenntnis des (Folge-) Kostencharakters von defensiven Ausgaben ist ein wichtiges Argument für einen präventiven oder integrierten Politikansatz. Dieser geht davon aus, daß es wohlstandsschöpfende oder Wohlstands(zer-)störende ökono­

mische Aktivitäten gibt. Wohlstandschöpfend sind nur jene, die auch (d.h. zusätzlich zum direkt angestrebten ökonomi­

schen Zweck) im Einklang mit ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Zielen stehen. Aufgabe einer integrierten Poli­

tik ist die Herstellung von Rahmenbedingungen (Ziele, Mittel, Institutionen), unter denen Wohlstandszerstörende zugunsten von wohlstandsschöpfenden Wirtschaftsaktivitäten systematisch diskriminiert werden.

Man kann dies auch als ein Votum für eine langfristig kosten­

sparende Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ansehen. Sie

sucht einen Ausweg aus der Spirale wachsender Sozia]er Kosten im allgemeinen und wachsender Aufwendungen für die Entsor­

gung von Umweltbelastungen und die Reparatur von Umwelt­

schäden im speziellen, in der das herkömmliche Politikmodell steckt. Mit einer integrierten und präventiv ansetzenden

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Politik sollen Produktions- und Konsummuster angestrebt werden, die die Gesellschaft aufgrund ihrer ex-ante Verträg­

lichkeit mit ökologischen, Gesundheits- und sozialen Zielen nur noch mit einem minimalen Bedarf an nachsorgenden und kompensatorischen Maßnahmen belasten.

1 Gestaltwandel der Wirtschaft als Ursache für den rapiden Anstieg von öko-sozialen Folgekosten

Das etablierte System der ökonomischen Berichterstattung - die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), in deren Mittelpunkt die Ermittlung des Bruttosozialprodukts steht - ist gänzlich ungeeignet, die Zusammenhänge zwischen der

Evolution der Industriegesellschaft und der Wachstumsdynamik von ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgekosten des Produktions- und Konsumtionsprozesses aufzudecken. Die VGR ist - basierend auf der von Keynes in den 30er Jahren ent- wickelten makroökonomischen Beschäftigungstheorie 1) - in den

40er Jahren entwickelt worden und ist in ihren Grundzügen bis heute unverändert geblieben. 2)

Aus der ökologisch "aufgeklärteren" Sicht von heute ist die Welt der 40er Jahre als "Cowboy-Wirtschaft" (Boulding) oder als "leere Welt" (Daly) bezeichnet worden. Die Interaktionen zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Systemen waren sehr viel weniger eng als heute. Die Pufferkapazitäten der ökologischen und sozialen Systeme waren für das damals erreichte Niveau von Produktion und Konsumtion und die da­

mals eingesetzten, weniger umweltschädlichen Technologien und Materialien mehr als ausreichend. Umwelt war noch kein Begriff. Die Vorstellung, Umweltgüter seien in unbegrenztem Umfang vorhanden, es handle sich bei ihnen in einem echten Sinne um "freie" Güter, war tief im Bewußtsein der Menschen verankert. Angesichts ihrer Selbstverständlichkeit war sie vielfach im halb-bewußten Zustand angesiedelt oder blieb ganz unbewußt.

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Die heutige Situation läßt sich dagegen eher mit den Begrif­

fen der "RaumschiffÖkonomie" (Boulding) oder "volle Welt"

(Daly) charakterisieren. Die Interaktionen zwischen ökolo­

gischen und sozialen Systemen sind eng, vielfältig und in­

tensiv. Produktion und Konsumtion haben im Gefolge des sin­

gulären Wachstumsprozesses in den Industriegesellschaften in den 50er und 60er Jahren Größenordnungen erreicht, die die Pufferkapazitäten ökologischer und sozialer Systeme in weiten Bereichen erschöpft haben - mit der Konsequenz teilweise

massiver und irreversibler Schädigungen.

Die Wirtschaft der Industriegesellschaft hat in den vergan­

genen 30 - 40 Jahren einen Gestaltwandel durchgemacht, der sich u.a. in einem rapiden Anstieg der öko-sozialen Folge­

kosten des Wirtschaftsprozesses äußert. Hauptursache ist der historisch beispiellose langanhaltende und stürmische wirt­

schaftliche Wachstumsprozeß, der Ende der 40er Jahre ein­

setzte, unter privat-kapitalistischen Rahmenbedingungen, unter denen ein systematischer Anreiz besteht, privat­

wirtschaftliche Kostenelemente in einem größtmöglichen Aus­

maß nach dem Prinzip "Was nicht verboten ist, das ist erlaubt"

zu externalisieren, auf unbeteiligte Dritte oder die Gesamt­

gesellschaft abzuwälzen.

Folgekosten der industriegesellschaftlichen Produktionsweise treten besonders konzentriert in den Ballungszentren, den Verdichtungsregionen der Industrieländer auf. Dabei muß man berücksichtigen, daß der gesamtwirtschaftliche Wachstums­

prozeß räumlich gesehen als Prozeß einer zunehmenden Konzentration der Produktion, einer Zen­

tralisierung aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten und einer Urbanisierung der Gesamtgesellschaft verläuft. Folgekosten entstehen immer dann, wenn bestimmte

(Toleranz-)Schwellen der Belastbarkeit von Subsystemen von Gesellschaft und Natur im Gefolge von Aktivitäten des ökonomischen Subsystems überschritten werden. Umweltschäden sind zunächst in Ballungszentren sichtbar geworden, ebenso die negativen Folgewirkungen von Umweltbelastungen wie

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schädön* Schon lange sind die wirtschaftsbedingten Umwelt­

schäden nicht mehr auf die Ballungsgebiete beschränkt. Sie haben heute immer häufiger eine regionale, nationale, kon­

tinentale, ja sogar globale Dimension. Das Waldsterben steht für die nationale und kontinentale Dimension. Die Anreicherung der Atmosphäre durch Kohlendioxid - die von Physikern und

Klimaforschern für eine der ganz großen Bedrohungen der Menschheit gehalten wird - und die Vergiftung der Meere und Ozeane stehen für die globale Dimension.

Weitere Folgekosten entstehen in Verdichtungsräumen aufgrund der Verdrängung von Menschen aus den Stadtzentren durch

Unternehmen und andere Organisationen, die höhere Bodenpreise bezahlen können, aufgrund der Zersiedelung des Umlandes,

die durch die rasche Verbreitung des Individualverkehrs ge­

fördert wurde, und aufgrund der in den letzten Jahrzehnten auch politisch gewollten räumlichen Trennung von Funktionen

(Arbeiten, Wohnen, Einkäufen, Freizeit). Steigende Arbeits­

wegekosten, der wachsende Grad der Automobilisierung, der in einem weiten Bereich auch einem siedlungsstrukturellen Zwang zur Autohaltung geschuldet ist, die in Ballungsregionen ungleich höheren ökonomischen Belastungen durch höhere Mieten, Baukosten, Bodenpreise und Kosten des Wohneigentumerwerbs, höhere Unfallzahlen mit entsprechenden Folgekosten, stark steigende private und staatliche Aufwendungen für innere Sicherheit angesichts steigender Kriminalitätszahlen und

wachsender Angst, Kosten des Lärmschutzes (Lärmschutzfenster), höhere Krankheitsanfälligkeit aufgrund der kumulativen W i r ­ kungen eines mit zuviel Streß verbundenen Lebensstils, von Bewegungsmangel, Rauchen, Fehlernährung und Umweltbelastun­

gen und wachsende Aufwendungen zur Erreichung weiter ent­

fernter Erholungsgebiete sind eine Reihe wichtiger Indikatoren von Folgelasten der industrialistischen Produktions- und

Konsumweise in Ballungsregionen.

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2 Notwendige Neuorientierung. der ökonomischen/ ökologischen und gesellschaftlichen Berichterstattung

Der eben skizzierte Gestaltwandel der Wirtschaft der Indu­

striegesellschaften kann mit den vorhandenen Instrumenten der volkswirtschaftlichen Rechnungslegung nicht identifi­

ziert werden. Es ist nichts ungewöhnliches, daß Denkge- wohnheiten, Erkenntnismittel und Diagnoseinstrumente der Realität, die sich rasch ändern kann, hinterherhinken. Was den nötigen Gestaltwandel bei unseren Systemen der Infor­

mationsermittlung und -Verarbeitung angesichts der Heraus­

forderung der Folgekosten- und Ökologieproblematik angeht, so ist es freilich ratsam, von der vorherrschenden National­

ökonomie - dem neoklassischen Hauptstrom - keine Anstöße in Richtung auf grundlegendere Änderungen zu erwarten. Aber auch von den politischen Instanzen und der Administration sind kaum Anstöße für grundlegende Neuperspektiven ökonomisch­

ökologischer Berichterstattung zu erwarten. Diese sind noch total auf das traditionelle Wachstumskonzept eingeschworen.

Ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum ist das Hauptziel

der Wirtschaftspolitik der Regierung. In dieser Frage herrscht auch völliges Einverständnis zwischen den die Kapitalin­

teressen verkörpernden Unternehmerverbänden und den wirt­

schaftspolitischen Instanzen. An einer grundlegenden Verän­

derung der VGR und an einer ökologisch und sozial qualifizier­

ten Wachstumsmessung sind diese einflußreichen Akteure in unserer Gesellschaft nicht interessiert.

Anstöße für eine Neuorientierung bei der Ermittlung gesell­

schaftlicher Kosten und Erträge der Produktion und bei der Berichterstattung über die Wechselbeziehungen zwischen Öko­

nomie und Ökologie müssen von den ökologisch sensibilisierten und von den Folgekosten der industriegesellschaftlichen

Produktion besonders stark betroffenen Gruppen der Gesell­

schaft kommen.

Was sind die Hauptdefizite der vorhandenen Systeme ökonomi­

scher Berichterstattung? Wo gilt es besonders dringlich,

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Neuentwicklungen zu befördern?

1) Die VGR berücksichtigt überhaupt nicht die sozialen Kosten der Wirtschaftstätigkeit. Wir brauchen in Zukunft dringend eine Berichterstattung über die Sozialkosten der industriegssellschaftlichen Produktions- und Konsumweise - und zwar aus einer Vielzahl von Gründen. Ich komme darauf zurück.

2) Das Sozialprodukt kann immer weniger als Indikator des Outputs, der Endproduktion, der Nettoproduktion der Gesell­

schaft interpretiert werden. In dem Maße, in dem auf die Folgekosten des Wirtschaftsprozesses mit Nachsorge- und Re­

paraturaktivitäten reagiert wird, enthält das Sozialprodukt zunehmende Anteile defensiver oder kompensatorischer Aus­

gaben. Diese sind aus gesamtgesellschaftlicher Sicht als zusätzliche Kosten und nicht als Erträge der Produktion zu interpretieren. Wir brauchen mithin eine ökologisch und sozial qualifizierte Nettoproduktions- und Nettokonsummessung.

3) Neben der umweit- und wohlfahrtsbezogenen Qualifizierung der Sozialprodukt- (der Strom-) Rechnung 3) steht heute die Entwicklung einer umfassenden Vermögens- oder Beständerech- nung (incl. der Naturbestände) an 4) . Die Verabsolutierung der Stromgröße Sozialprodukt als Wohlstandsmaß und Erfolgs­

indikator der Wirtschaftspolitik - wie sie besonders charak­

teristisch für die Nachkriegsjahrzehnte bis zum Ausbruch der Erdölkrise Mitte der 70er Jahre war - birgt die Gefahr in sich, daß wir vor lauter wirtschaftlichem (Tages-) Erfolg den Boden unter den Füßen zu verlieren drohen, d.h. den A b ­ bau an Beständen von Naturressourcen, von deren Erhaltung die langfristige Sicherung eines angemessenen Lebensstan­

dards abhängig ist, übersehen. Die "Bestands"-Vergessenheit des Denkens in den 50er und 60er Jahren - das freilich bei den Entscheidungseliten in Wirtschaft und Politik auch heute noch das herrschende ist - war total.

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Auf die entscheidende Bezugsgröße für Wohlfahrtsüberlegungen - die Kapitalbestände, die die wohlstandsrelevanten konsum­

tiven Nutzungen abgeben - hatte bereits Anfang des 20. Jahr- hunderts Irving Fisher 5) hingewiesen. Diese Erkenntnis ging dann in den 30er und 40er Jahren bei den Arbeiten für die VGR, die auf die Anforderungen einer kurzfristigen Konjunk­

tur- und Beschäftigungspolitik zurechtgeschneidert werden sollte, verloren. Hier stand die Messung der laufenden Pro­

duktion, die für die entscheidende Bestimmungsgröße der Be­

schäftigung gehalten wurde, im Zentrum. Boulding war Ende der 40er Jahre der erste Ökonom - ein einsamer Rufer in der Wüste -, der die zentrale Erkenntnis von Fisher in einen Öko­

logischen Kontext absolut knapper Umweltgüter und natürlicher Ressourcenbestände stellte. 6) Er bezeichnete das Ziel eines maximalen Wirtschaftswachstums als einen Kollektivirrtum der Ökonomen. Aus ökologischer Sicht sei das Gegenteil anzustre­

ben: die Sicherung eines gesellschaftlich definierten Wohl­

standsniveaus bei Minimierung der dafür erforderlichen Pro­

duktion und K o n sumtion.

Boulding macht deutlich, daß die Verwendung des Konsums, der Produktion und des Einkommens als Wohlstandsmaße ein in der Ökonomie weit verbreiteter Irrtum ist, der zumindest auf Adam Smith zurückgeht und einen großen Teil des ökonomischen Denkens und der Schriften zum Gegenstand des Einkommens so­

wohl falsch als auch schädlich mache. Er schreibt: "Konsum ist nichts, was angeregt oder gewünscht, sondern etwas, was vermieden und reduziert werden sollte." 7) An anderer Stelle konstatiert er schroff: "Konsum ist der Tod des Kapitals und die einzig durchschlagenden Argumente für den Konsum sind die Argumente für den Tod selbst." und weiter: "Jede Einsparung beim Konsum erhöht unsere Fähigkeit des langfri-

o \ stigen Überlebens." ;

In den 70er Jahren waren es Georgescu-Roegen und vor allem P a l y , die die wichtigsten theoretischen Arbeiten zum Konzept einer umfassenden Beständerechnung und ihrer Verknüpfung mit

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einer Rechnung der laufenden Produktion (Kosten) sowie einer Nutzen- oder Wohlfahrtsrechnung vorgelegt haben. 9) Daly

arbeitet seit kurzem auch an dem Versuch, aus seinen noch sehr abstrakten Vorstellungen Ansatzpunkte für konkrete

Systeme der Berichterstattung und Rechnungslegung zu gewin- nen. 10) Während in der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Berichterstattung über Stand und Entwicklung von Naturres­

sourcen noch keine Aktivitäten zu verzeichnen sind, liegen in verschiedenen Ländern und internationalen Organisationen schon konkrete Ansätze vor. Bekannt geworden sind vor allem Ansätze aus Frankreich, an denen seit Anfang der 70er Jahre gearbeitet wird (Rechnungslegung über das natürliche Erbe) ' und Norwegen (System der Rechnungslegung über Ressourcen) 121' . Auf internationaler Ebene sind beim Umweltprogramm der Ver­

einten Nationen (UNEP) und in der Umweltabteilung der Welt­

bank Aktivitäten zum Aufbau einer Berichterstattung über natürliche Ressourcen im Gang. 1 3) Das World Resources Insti­

tute in Washington entwickelt im Auftrag von UNEP einen

"Global Resources Report", der Anfang 1987 veröffentlicht werden soll und sich jährlich mit 12 Bereichen befassen wird:

Bevölkerung, Landnutzung, menschliche Siedlungen, Landwirt­

schaft, Wälder und Weideland, Tierwelt, Energie, Trinkwasser, Meere und Küsten, Atmosphäre, globale Systeme und Kreisläufe sowie politische Strategien und Institutionen.

4) Sehr eng mit dem Konzept einer Berichterstattung über Stand und Veränderungen der Naturressourcen ist die Idee einer ökonomisch-ökologischen Berichterstattung verknüpft.

Bekanntlich werden Produktion und Wirtschaftswachstum in der VGR in den Grenzen des Güter- und Einkommens-"Kreislaufes"

bestimmt. 14) Eine Erweiterung des ökonomischen "Kreislauf"- Begriffs im Sinne einer Einbeziehung der stofflichen Bezie­

hungen mit der Natur ist heute in der ökonomischen Theorie und in der VGR dringend geboten. Ansätze hierzu sind vor­

handen, sei es die Entwicklung von Sattelitenkonten der VGR zur Registrierung der Ökonomie-Umwelt-Relationen, die Er­

weiterung von Input-Output-Tabellen um Spalten für die

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Emissionsstrukturen der Produktion und des Konsums sowie für Umweltschutzaktivitäten der Produzenten oder die Orientie­

rung an einem "Stress-Response-Ansatz" (Registrierung umweit belastender Aktivitäten, Beschreibung der Belastungs- und Schadenssituation, Erfassung aller Aktivitäten zur Beseiti­

gung und Verminderung von Umweltbelastungen sowie zur V e r ­ meidung zukünftiger Umweltbelastungen und zur Entwicklung umweltfreundlicher (Wirtschafts-) Strukturen) .1 5)

3 Für eine Berichterstattung der sozialen Kosten der indu­

striegesellschaftlichen Produktions- und Konsumweise Es gibt bisher keine regelmäßige und umfassende Berichter­

stattung über Sozialkosten der Marktwirtschaft in einer Indu striegesellschaft. ; K.W. K a p p , der vor über 35 Jahren das heute immer noch wichtigste Buch zum Problem der Sozialen Kosten der Marktwirtschaft geschrieben hat 1 7) , hat beginnend mit seiner Dissertation 1936 in vielen seiner Veröffentli­

chungen die Notwendigkeit des Aufbaus einer derartigen Be­

richterstattung betont und ihre Institutionalisierung gefor­

dert. Er schreibt dort (vor 50 Jahren!): "Es wäre eine inter­

essante Aufgabe der Statistik, einwandfreie Methoden für die Erfassung der Nachteile und Schäden auszuarbeiten, die der Gesellschaft in einer freien Marktwirtschaft durch die nur nach dem Prinzip der höchsten Rentabilität bestimmte Tätig- keit selbständiger Unternehmer entstehen." 18)'

Kapp definiert Sozialkosten als alle jene "direkten und in­

direkten Verluste, die Drittpersonen oder die Allgemeinheit als Folge einer uneingeschränkten wirtschaftlichen Tätigkeit zu tragen haben" 1 9) . Kein Forscher hat dabei später ein so breites Spektrum von Kategorien sozialer Kosten untersucht wie Kapp selbst. Er befaßt sich in seinem Buch nicht nur mit den Sozialkosten der Luftverunreinigung, der Wasserverschmut­

zung, der arbeits- und umweltbedingten Gesundheitsschädigung und der Ressourcennutzung - Kategorien, die uns heute umweit- und gesellschaftspolitisch besonders auf den Nägeln brennen.

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Weitere Kapitel waren den Sozialkosten der Arbeitslosigkeit, des technologischen Wandels, der falschen Standortwahl und der Überkonzentration in Ballungsräumen, der geplanten Ver­

kürzung der Lebenszeit von Gütern und der Verkaufsförderung, des ruinösen Wettbewerbs, u.a. gewidmet.

Bei Kapp war die Sozialkostenanalyse Systemkritik und Theorie kritik. Er sah die Ursache für das Entstehen und für das

rasche Wachstum von Sozialkosten in dem in der privaten Markt Wirtschaft institutionell verankerten Zwang der Unternehmen

zur einzelwirtschaftlichen Kostenminimierung. Das bedeutet gleichzeitig ein systematisches Interesse an einer maximalen Externalisierung von Kostenkomponenten auf Dritte oder die Gesamtgesellschaft. "Tatsächlich muß die Wirtschaft des freien Unternehmertums als eine Wirtschaft der unbezahlten Kosten bezeichnet werden, ’unbezahlt' insofern als ein er­

heblicher Anteil der tatsächlichen Produktionskosten in den Kalkulationen des Unternehmers gar nicht erscheinen." 20)

Der system- und theoriekritische Impetus der Sozialkosten­

analyse von Kapp ist von der ökonomischen Profession nicht rezipiert worden. Sie hat das Phänomen der Sozialkosten i.S.

von Kapp so zurechtgestutzt, daß es bequem in das vorhandene Theoriegebäude eingepaßt werden konnte. In der traditionellen mikroökonomischen Theorie stand hierfür die Theorie externer Effekte zur Verfügung, mittels derer soziale Kosten formal

als negative externe Effekte in der Theorie erfaßbar waren.

Parallel dazu wurde die inhaltliche Reichweite des Sozial­

kostenbegriffs radikal eingeschänkt, und zwar im wesentlichen auf negative Umwelteffekte von Produktions- und Konsumpro­

zessen. Auf diese wurden das traditionelle ökonomische In­

strumentarium angewandt und entsprechende wirtschaftspoliti­

sche Vorschläge zur Internalisierung bestimmter negativer externer Effekte mittels Verhandlungslösungen oder Abgaben abgeleitet, die vollkommen im gegebenen institutioneilen Rahmen der kapitalistischen Marktwirtschaft b l i e b e n .21)

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Nach dem Buch von Kapp ist kein weiterer Versuch einer um­

fassenden Synthese der Sozialkosten der Produktion in - gegenüber der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik - radikalkritischer Perspektive unter­

nommen worden. Das herkömmliche Paradigma der Wirtschafts­

theorie und der Wirtschaftspolitik behindert ausgedehnte Forschungen zu den Folgekosten industriegesellschaftlicher Produktion. Derartige Arbeiten bilden darin einen Fremd­

körper. Sie werden entweder entschärft - also ihrer kriti­

schen Perspektive beraubt, wie das bei der Adaption des Kapp'sehen Konzeptes der Sozialen Kosten in den neoklassi­

schen Kanon der Mikroökonomie der Fall war - oder ausge­

schieden mit der Konsequenz, daß sie dann als Herausforde­

rung nicht mehr wahrgenommen werden.

Heute besteht angesichts des gesellschaftlichen Interesses an einer alternativen - ökologisch und sozial verträglichen - Wirtschaftspolitik zum ersten Mal die Chance, unter Beibe­

haltung der kritischen Theorie- und Systemperspektive den blinden Fleck - nämlich die Unkenntnis über Art, Umfang und Wachstumsdynamik der Sozialkosten und -Schäden - sukzessive zu beseitigen. Hierfür sprechen eine Reihe von Initiativen in Politik und Verwaltung, die längerfristiger Natur zu sein scheinen.

Es überrascht nicht, daß die Diskussion über Art und Umfang und soziale Betroffenheit von Sozialkosten des Wirtschafts­

prozesses am intensivsten bei den Grünen läuft. Für die treffende und empirisch fundierte Kritik der herkömmlichen umweltblinden Wirtschaftspolitik und für die Entwicklung und Begründung einer ökologischen Alternative zur etablierten Wirtschafts-, Verkehrs-, Energie- und Technologiepolitik be­

nötigen sie ganz besonders systematisch aufbereitete und regelmäßig ermittelte Informationen über die Sozialkosten des Wirtschaftsprozesses.

Gegenwärtig bereitet die Bundestagsfraktion der Grünen eine Große Anfrage an die Bundesregierung zu den "Folgekosten

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der Industriegesellschaft" vor, die noch im 2. Vierteljahr 1986 eingebracht werden soll. Dies wird zweifellos eine der größten "Großen Anfragen" der Grünen in der laufenden Legis­

laturperiode werden. Der Umfang dieser Anfrage ist der Be­

deutung und Komplexität des Problems geschuldet. In dieser Anfrage soll der innere systembedingte Zusammenhang der di­

versen Komponenten von Folgekosten - die häufig nicht als Ausdruck einer einheitlichen Systemtendenz gesehen werden - deutlich gemacht werden. Dies ist nur möglich, wenn die

Breite der mit dieser Problematik angeschnittenen Teilaspekte in der Anfrage auch sichtbar wird.

Diesen GesamtZusammenhang der Folgekostenprobleme unverkürzt zu reflektieren und politisch zu diskutieren, war auch für die verschiedenen an der Ausarbeitung beteiligten Arbeits­

kreise der Bundestagsfraktion keine ganz leichte Aufgabe.

Die Neigung, komplexe Probleme analytisch aufzuteilen und sie dann vorschnell als Fachprobleme den jeweiligen Experten zur Weiterbehandlung zu übermitteln, ist auch bei den Grünen nicht unbekannt.

In der Anfrage an die Bundesregierung werden Fragen zum Um­

fang und zur zeitlichen Entwicklung einzelner Folgekosten­

komponenten sowie zu möglichen Folgerungen gestellt. Im ersten Teil werden Fragen zu den ökologischen Folgekosten (Kosten der Luft-/ Wasser- und Bodenverunreinigung), zu den ökonomi­

schen Folgekosten (Kosten ungenutzter Kapazitäten, volkswirt­

schaftlicher Fehlallokationen und des technischen Fortschritts), zu den sozialen Folgekosten (Gesundheitsschäden, ökonomische Folgen der Gesundheitsschäden, Verschwendung im Gesundheits­

wesen) sowie zu den Folgekosten einzelner Produktionszweige (Chemische Industrie, Landwirtschaft, Rüstung/Militär, Ver­

kehr, Energie) und schließlich zur quantitativen Abschätzung gesamtwirtschaftlicher Folgekostengrößen formuliert.

Gegenstand des zweiten Teils sind Anfragen zur Änderung der VGR und der Systematik der öffentlichen Haushalte sowie zur Änderung des wirtschaftspolitischen Zielkataloges. Es ist zu erwarten, daß von dem politischen Prozeß, den diese Anfrage

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auslösen wird, wichtige Impulse für die Entwicklung neuer Informationsinstrumente ausgehen werden.

Die Sensibilisierung der politischen Akteure für die gewach­

sene Bedeutung der Sozialkosten dokumentieren weitere Anfragen und andere Initiativen bei den Grünen und beim ökologischen Flügel der SPD. Die SPD hat schon 1985 eine Anfrage zu

den sozialen Kosten der Luftverschmutzung eingebracht, die freilich bis heute noch unbeantwortet ist. Damit teilt sie das Schicksal einer Anfrage der Grünen zu den gesellschaft­

lichen (Folge-) Kosten des Verkehrs, die erst nach 13 oder 14 Monaten "Bearbeitungs"-zeit beantwortet wurde. Die Ant­

worten der Bundesregierung auf einen Großteil der Fragen waren derart dürftig, daß selbst konservative Tageszeitungen den Grünen das Kompliment nicht verwehren wollten, sie hätten mit ihrer Anfrage eine offene Wunde der Bundesregierung - ihr Desinteresse und ihre Ignoranz hinsichtlich der Folge­

kostenproblematik - freigelegt. Weitere Anfragen liefen zu dem Problem der Bedeutung und der ökonomischen Implikationen der umweltbedingten Gebäudeschäden oder laufen zum Problem des Zusammenhangs von Umwelt und Gesundheit.

Interessante Entwicklungen kann man gegenwärtig in der SPD und in der Verwaltung beobachten. I. Hauchler - Mitglied der Bundestagsfraktion der SPD - hat kürzlich einen Vorschlag

für eine neue Gesellschaftliche Wertrechnung publiziert 22) , der in der SPD-internen Diskussion einen qualitativen Sprung gegenüber der Mehrheitsposition von W. Roth darstellt. Wäh­

rend die Roth-Position in der SPD lediglich das Ziel eines möglichst hohen quantitativen Wirtschaftswachstums durch jenes eines qualitativen Wachstums austauscht, es aber nicht kon­

kretisiert und ansonsten in ihrer wirtschaftspolitischen Dis­

kussion vollkommen im etablierten Rahmen der VGR verbleibt, gibt es mit dem Hauchler-Vorschlag in der SPD zum ersten Mal eine Basis, von der aus ein - der heutigen ökologischen und sozialen Problemlage angemessenes - politisch relevantes System der gesellschaftlichen Leistungs-, Kapital- und Wohl­

fahrtsrechnung entwickelt werden kann.

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In der umweltpolitischen Argumentation der Bundesregierung war in den letzten Jahren ein interessanter Umbruch festzu­

stellen. Waren früher die Kosten des Umweltschutzes eher Anlaß, vor überzogenen Forderungen zu warnen und die Gefähr­

dung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit herauszustel­

len, so erleben wir seit geraumer Zeit, daß den Kosten des Umweltschutzes politisch auch Positives abzugewinnen ist.

Offenbar hat der Argumentationsnotstand in Sachen Arbeits­

losigkeit als Katalysator eines Einstellungswandels gewirkt.

Doch nunmehr herrscht in der offiziellen umweltpolitischen Diskussion eher eine ’’Tonnenideologie". Der Bundesbürger wird bei allen möglichen Anlässen mit Milliardensummen bombardiert, die im Umweltschutz verausgabt werden und damit Arbeitsplätze schaffen oder sichern oderin Zukunft im Gefolge neuer Gesetzes Vorhaben (z.B. TA Luft) oder nötiger Sanierungsmaßnahmen (z.B.

Altlastensanierung) aufgebracht werden müssen.

Zur Begründung von mehr Umweltschutz werden gerade in der Politik immer wieder die Nutzen des Umweltschutzes, die in den vermiedenen Umweltschäden liegen, herausgestellt. Eine geradezu magische Rolle spielt dabei eine OECD-Ziffer, wonach sich die Umweltschäden in den Industrieländern auf ca. 3 - 5 % des Sozialprodukts belaufen. 23) Geht man dem Ursprung dieser Zahl nach, wird man nicht fündig werden. Keiner kann Auskunft darüber geben, auf welchen Analysen eine Aussage beruht, die in der Öffentlichkeit eine derart hervorragende Rolle spielt.

Vielleicht ist diese Diskrepanz zwischen der politischen B e ­ deutung dieser Schadensziffer und der mangelnden wissenschaft­

lichen Substanz Anlaß für ein neues Forschungsprogramm der Umweltpolitik der Bundesregierung über "Folgekosten von Umweltschäden. Konzeptionelle, methodische und empirische Probleme". Inwieweit das vorhandene plurale Spektrum von For­

schungsansätzen dadurch Impulse erhalten wird, ist freilich noch nicht abzusehen.

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4 Kategorien von Folgekosten

Eine Berichterstattung über die Folgekosten der industriege­

sellschaftlichen Produktions- und Konsumweise sollte konzep­

tionell möglichst umfassend angelegt sein. Nur für eine Poli­

tik, die im Blick auf alle Kategorien von Folgekosten konzi­

piert und durchgeführt wird, kann die gesamtgesellschaftliche Rationalität des ganzen "Unternehmens" beansprucht und ten­

denziell sichergestellt werden. So schwierig diese Aufgabe auch erscheinen mag, so alternativlos stellt sie sich als Perspektive für die Zukunft dar mit Rücksicht auf die bis

jetzt aufgelaufenen Fehlentwicklungen, die ihre Ursache in der mangelnden Beachtung des gesamten Konsequenzenfeldes und da­

mit in der Maximierung von Partialindikatorwerten haben.

Zwischen einzelnen Kategorien von Folgekosten können Substi­

tut ionsbe Ziehungen bestehen. Orientiert man sein Urteil nur an der Entwicklung einer Kategorie, so gelangt man notwendi­

gerweise zu einer - gemessen an dem Gesamtergebnis - verzerr­

ten Einschätzung. So kann etwa eine Substitutionsbeziehung zwischen den Umweltschutzaktivitäten und dem Umfang an Schäden infolge nicht-vermiedener Umweltbelastungen bestehen. Betrach­

tet man ausschließlich den Anstieg von Umweltschutzausgaben, so wäre ein Urteil auf steigende Folgekosten der Gesellschaft durch Umweltprobleme (hier: steigende monetäre Umweltschutz­

belastungen) vorschnell, weil durch den Anstieg dieser Akti­

vitäten u.U. Umweltschadenskosten und andere nicht-ökonomi- sche Belastungen reduziert werden.

Eine "flächendeckende" Perspektive ist auch ratsam mit Blick auf die Erfassungsproblematik von Folgekosten. Manche lassen sich leicht oder auch weniger leicht in monetären Größen aus- drücken; andere sind quantifizierbar, aber nicht monetari- sierbar;' und wiederum andere lassen sich nicht einmal einiger­

maßen plausibel quantifizieren, sie sind intangibel. Nun b e ­ steht in den quantifizierenden Sozialwissenschaften und den

(19)

auf monetäre Größen ausgerichteten Wirtschaftswissenschaften eine eindeutige Tendenz, die monetären gegenüber den nicht­

monetären und die quantifizierbaren gegenüber den nicht- quantifizierbaren Größen zu selektieren. Ökonomische Kosten- Nutzen-Analysen sind hierfür ein Beispiel. Die flächendeckende Perspektive dient hier als Korrektiv gegen die starke pro­

fessionelle Tendenz zum Reduktionismus.

Und schließlich läßt der kumulative Charakter von Folgekosten eine Orientierung an einem umfassenden Folgekostenkonzept rat­

sam erscheinen. Der kumulative Charakter von Sozialkosten zeigt sich einmal deutlich im Umweltbereich, wo in der.Luft, in den Gewässern und im Boden Akkumulations-, synergetische und Umwandlungsprozesse von Schadstoffen auftreten, deren Gesamtwirkung das Schadensniveau, das sich aus einer Summa­

tion der Einzeleffekte ergeben würde, weit übersteigt. Kumu­

lative Wirkungen ergeben sich ferner zwischen verschiedenen Folgekostenkomponenten, z.B. zwischen der Betroffenheit durch Umweltbelastungen im Wohnviertel und durch gesundheitsschäd­

liche Arbeitsbedingungen im Produktionsprozeß Q,der zwischen der multiplen Betroffenheit von Hausfrauen, Kindern und Rent­

nern durch Umweltbelastungen im Wohnquartier und in Freizeit­

anlagen, da diese Gruppen zu einem überdurchschnittlich hohen Prozentsatz über kein Auto und damit über keine Aus­

weichmöglichkeit verfügen. Die Abwälzung von Sozialkosten verschärft in der Regel Verteilungsprobleme von Lebenslagen in der Industriegesellschaft. Die ohnehin vorhandene Tendenz zur Verstärkung von sozialen Ungleichheiten wird dabei ins­

besondere durch den kumulativen Charakter dieser Abwälzungs­

prozesse zu einem brisanten gesellschaftlichen Phänomen. In einem Exkurs nach diesem Abschnitt wollen wir dies kurz in­

haltlich umreißen.

In einer ersten Grobstrukturierung lassen sich die Folgekosten von Produktion und Konsum in vier Kategorien unterteilen:

- defensive Ausgaben

- ökonomische Folgebelastungen durch zusätzliche Einkommens-, Renten- und Krankengeldzahlungen der Versicherungsträger

(20)

- Produktions-, Einkommens- und Vermögensverluste sowie

- eingetretene Schäden bei Mensch, Natur, Kunstwerken, Bauten und Produktionsanlagen.

Von diesen Kategorien von Folgekosten sind im Prinzip die ersten drei ökonomisch bewertbar. Defensive Ausgaben sind jene, mit denen lediglich der Zweck verfolgt wird, Schäden, Verschlechterungen und Verluste der Umwelt-, Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie eingetretene Nachteile beim Einkom­

menserwerb zu kompensieren, zu beseitigen oder vorbeugend zu vermeiden. Man kann sie auch als jene Folgekosten definieren, die im Bruttosozialprodukt enthalten sind. Denn sie sind Aus­

druck (defensiver) ökonomischer Aktivitäten, deren mittels Marktpreisen bewertetes Ergebnis ja bekanntlich wie alle an­

deren ökonomischen Aktivitäten einer Periode (unter Eliminie­

rung aller Vorleistungen) in das Bruttosozialprodukt des be­

treffenden Jahres eingeht. Defensive Ausgaben sind also jene Komponente der Folgekosten, mit der die konkrete und empi­

risch abgesicherte Kritik an der Verwendung des Bruttosozial­

produkts als normativ überhöhter Wachstums- und Wohlfahrts­

indikator und an der undifferenzierten Wachstumsorientierung der gesamten etablierten Politik vorgetragen werden kann.

Bei der zweiten Kategorie handelt es sich einerseits um

Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall und Krankengeldzahlungen für jene, die im Gefolge ökologischer Schäden und/oder gesund­

heitsschädigender Arbeitsbedingungen erkrankt sind bzw. einen Unfall erlitten haben und andererseits um Zahlungen der

Renten- und Unfallversicherungen an jene, die aufgrund von Arbeitsunfällen, arbeitsbedingten Erkrankungen und gesund­

heitsschädlichen Umwelteinwirkungen vorzeitig aus dem Pro­

duktionsprozeß ausgeschieden sind.

Bei der dritten Kategorie - den Einkommens-, Produktions- und Vermögensverlüsten - geht es um

- Einkommens- und Produktionsverluste aufgrund von umwelt- und arbeitsbedingten Erkrankungen, Berufsunfällen, vorzei-

(21)

tigen Verrentungen und vorzeitigen Todesfällen

- Produktions- und Einkommensverluste aufgrund von ertrags- und einnahmenmindernden Wirkungen von Umweltschäden, z.B.

in der Fischerei-, Holz-, Forst- und Landwirtschaft und im Fremdenverkehrsgewerbe sowie

- Vermögensverluste aufgrund des Verbrauchs nicht-regenerier- barer Ressourcen (Materie und Energie) und aufgrund von Umweltschäden, z.B. in der Forst-, Land- und Fischerei­

wirtschaft, durch Schädigungen von Gebäuden, Produktionsan­

lagen, Brücken, Kunstwerken, etc., durch Gebäude- und Bodenwertverluste in stark verschmutzten Gebieten.

Der vierte Bereich umfaßt sämtliche realen Schädigungen, Wohlfahrtseinbußen und Erschwernisse, soweit sie von den ersten drei Kategorien noch nicht abgedeckt sind. Es handelt sich um jene kaum monetarisierbaren ökologischen und sozialen Folgekosten, die nicht durch entsprechende konterkarierende Aktivitäten beseitigt bzw. vermieden worden sind. Bedenkt man beispielsweise, wie spät und mit welch unzureichenden Mitteln der Kampf gegen Umweltverschmutzung, ungesteuertes Städtewachstum und Umlandzersiedlung aufgenommen worden ist und daß wirkungsvollere Maßnahmen meist erst dann ergriffen wurden, nachdem schwerste Schädigungen offenkundig geworden waren (letztes Beispiel: die ökologischen Auswirkungen des Waldsterbens), so spricht vieles dafür, daß dieser Kategorie

in einer Gesamtbilanzierung zentrale Bedeutung zukommt.

Eine quantitative Abschätzung von Umfang und zeitlicher Entwicklung einer Reihe von Komponenten der ersten drei Folgekostenbereiche ist heute im Prinzip möglich. 24) Aus­

sagen über den Umfang und das Entwicklungstempo von realen Schadenspositionen in den verschiedenen Bereichen (mensch­

liche Gesundheit, Pflanzen- und Tierwelt, ökologische

Systeme, gebaute Umwelt, Produktionsapparat etc.) sind heute noch mit einem besonders großen Unsicherheitsgrad behaftet.

(22)

Große Probleme ergeben sich auch bei der Aufspaltung von multifaktoriell bedingten Gesamtgrößen auf einzelne Verur­

sachungsfaktoren. Man denke nur an den Gesundheitsbereich.

Wie groß ist der Anteil der vorzeitigen Verrentungen (mitt­

lerweile jeder zweite Rentenfall), die auf Erkrankungen zurück gehen, an deren Auslösung gesundheitsschädliche Umwelt- und/

oder Arbeitsbedingungen beteiligt waren? Inwieweit sind die gesamten Ausgaben des 'Gesundheits'-Wesens, die mittlerweile

200 Mrd. DM jährlich deutlich überschreiten, durch gesund­

heitsschädliche Umwelt- und Arbeitsbedingungen und durch gesundheitsbelastende Konsum- und Verhaltensmuster hochge­

trieben worden? Wenn man sich auf die Ermittlung der Behand­

lungskosten von Atemwegskrankheiten konzentriert, weil hier der Zusammenhang von Umweltbelastungen und Erkrankungshäufig­

keit nicht bestritten werden kann, oder auf die Kosten von Krebserkrankungen, von denen 30% allein die Folge von Zigaret- tenrauch sein sollen 25) , dann hat man zwar einen Anfang mit der Ermittlung von Folgekosten im 'Gesundheits'-Bereich ge­

macht, aber nur die Spitze des Eisbergs identifiziert.

Wie kann man ganz allgemein die Größenordnungen zwischen den verschiedenen Folgekostenkategorien beurteilen - unter Außer­

achtlassung der vierten, bei der quantitative Abschätzungen extrem problematisch sind? Vieles spricht dafür, daß Ein­

kommens-, Produkt ions- sowie Vermögensverluste die defensiven Ausgabenbelastungen in quantitativen Dimensionen deutlich übertreffen.

Dies ist darauf zurückzuführen, daß defensive ökonomische Aktivitäten ein typischer Spätindikator gesellschaftlicher Folgeprobleme sind. Unsere Wirtschaftsgesellschaft, die ge­

radezu fixiert auf möglichst hohe Wachstums-, Produktivitäts­

und Profitziffern ist, reagiert systematisch extrem spät auf Folgeprobleme, und zwar in der Regel erst dann, nachdem schwere Schäden als Folgeprobleme des Wirtschaftsprozesses sichtbar geworden sind. Dieses späte Reaktionsmuster hat wiederum zwei typische Konsequenzen. Einerseits erklärt es die bedeutenden Dimensionen der schadensbedingten Einkommens-,

(23)

Produktions- und Vermögensverluste. Zum anderen führt die späte Reaktion zu einer Technologiewahl, die selbst wieder gesamtwirtschaftlich gesehen als Fehlallokation, als ökono­

misch irrational angesehen werden muß.

Anhand der Reaktion der Gesellschaft auf das Waldsterben läßt sich zeigen, daß erst der Nachweis völlig unerwarteter großräumiger Waldschäden im Gefolge der weiträumigen Vertei­

lung produktions- und konsumbedingter Emissionen die Verab­

schiedung der Großfeuerungsanlagenverordnung beschleunigte.

Die Schäden, die seit 3 - 4 Jahren sichtbar sind, sind aber das Ergebnis einer über Jahrzehnte andauernden und zunehmend verstärkten Streßbelastung des Ökosystems Wald, dessen Puffer kapazitäten nunmehr offenbar erschöpft sind. D.h.: Die von den Umweltsünden der Vergangenheit herrührenden Schäden w e r ­ den jetzt erst sichtbar. Diese zum großen Teil irreversiblen Schädigungen haben dauerhafte Vermögens- und Einkommensver­

luste zur Folge, die Jahr für Jahr wirksam sind und zu Buche schlagen. Diese in Gang befindliche Schadensentwicklung wird durch marginale Korrekturen der Umweltpolitik in den kommen­

den Jahren vermutlich kaum tangiert.

Das Ungleichgewicht in den quantitativen Dimensionen der Einkommens- und Vermögensverluste und der defensiven Ausga­

ben der Emissionsbegrenzung wird noch dadurch verstärkt, daß in unserer naturentfremdeten Gesellschaft selbst dann, wenn man es wissen kann, was für die Natur und in der Folge für den Menschen auf dem Spiel steht, nur halbherzig reagiert wird. Alle Kenner der Materie sind sich darin einig, daß die Emissionen aus der Energiewirtschaft, der Industrie und aus dem Verkehrsbereich ungleich stärker und rascher reduziert werden müßten als es durch die bisherigen Maßnahmen der Bun­

desregierung der Fall ist. Die einseitige Parteinahme für Wirtschaftsinteressen scheint so tief in das herrschende poli­

tische Denken eingegraben, daß man sehenden Auges die irre­

versible Vernichtung der Natur in Kauf nimmt und das noch als Ausdruck staatsmännischer Verantwortung begreift.

(24)

Würden die Emissionswerte so drastisch gesenkt, wie es öko­

logisch notwendig wäre, würden die Investitionen und laufen­

den Betriebskosten des Umweltschutzes noch stärker anschwel­

len, als es jetzt schon mit den moderaten Maßnahmen der Bundes­

regierung der Fall ist. 1983 gab das Produzierende Gewerbe ca. 3,7 Mrd. DM für Umweltschutzinvestitionen aus (4,6 % der gesamten Investitionen) ' und ca. 6 Mrd. DM für den laufen­

den Betrieb dergesamten vorhandenen Umweltschutzanlagen (Personal, Energie, Hilfs- und Betriebsstoffe, Ersatzteile etc.) 27) . Diese Ausgaben werden in den kommenden Jahren - auch aufgrund der neuen gesetzlichen Regelungen der TA Luft und der nicht mehr aufschiebbaren Altlastensanierung - zwar deutlich ansteigen, aber bei weitem nicht so, wie es bei einer drastischen und raschen Emissionsbegrenzungspolitik der Fall w ä r e .

Absehbar ist eine doppelt ineffiziente Entwicklung: ein per­

manenter Anstieg der ökologischen, aber auch der ökonomischen und gesundheitlichen Schäden und ein Anstieg der ökonomischen Ausgabebelastungen im Umweltschutz, dem keine wesentlichen ökologischen Entlastungswirkungen gegenüberstehen. Die Crux einer reparierenden und nachsorgenden Umweltpolitik ist, daß sie auf der Grundlage einer extrem umweltschädlichen und auch sozial und menschlich belastenden Produktions-, Konsum- und Technologiestruktur enorme Aufwendungen nach sich zieht, wenn der Produktionsapparat immer vollkommener - sozusagen

durch den Überzug einer zweiten Haut - gegen Umwelt-"lecks"

geschützt werden soll. Die Kosten der Emissionsminderung bzw. Schadstoffentsorgung steigen explosiv an, wenn bestimm­

te Reinigungsgrade überschritten werden. Die Vorbelastung unserer Ökosysteme und der Menschen ist aber schon derart hoch, daß heute vielfach ein Anstieg des Reinigungsgrads von 99 % auf 99,9 % erreicht werden muß, was enorme Kosten­

steigerungen mit sich bringt.

Das Reaktionsmuster der Gesellschaft auf Folgeprobleme der Produktion steuert die Technologieentwicklung in die falsche Richtung, und zwar in Richtung auf Technologien der Gefahren-

(25)

abwehr, des Löschens von Umweltbränden, der Nachsorge und Sanierung. Wartet man so lange auf eine Reaktion, bis schwer­

ste Schäden aufgetreten sind, dann braucht man dringend Ent­

schärfungseinrichtungen, die an den vorhandenen Produktions­

apparat angehängt werden. Für die Entwicklung von Vorsorge­

technologien, von neuen Materialien, Produktionsverfahren und Produkten, die schädliche Emissionen gar nicht erst entstehen lassen oder sie drastisch vermindern, bleibt dann keine Zeit.

Gesamtwirtschaftlich äußert sich dies in einem eindeutigen überwiegen von Nachsorgetechnologien auf dem Umweltschutz­

markt und in einer überwiegenden Ausrichtung des Umweltschutz bezogenen FuE-Prozesses auf die Erfindung und/oder Verbesse­

rung von Nachsorgetechnologien.

(26)

5 E x k u r s : Verschärfung sozialer Ungleichheiten von Lebens­

lagen im Gefolge von kumulativen Wirkungen von Folgekosten des Wirtschaftsprozesses

Umwelt

Die Abwälzung von Umweltschäden seitens umweitverschmutzen­

der Unternehmen bedeutet eine kalte Umverteilung von Vermögens-, Einkommens- und Lebenslagen zugunsten der Kapitalbesitzer. Im Ergebnis geht es den Unternehmen besser (die Gewinne sind höher, als wenn sie die Umweltschäden vermeiden würden) und den b e ­ troffenen Bevölkerungsschichten schlechter.

Theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen zeigen auf, daß die ärmeren Schichten durch die Umweltschäden stärker betroffen werden als die einkommensmäßig besser gestellten Be­

völkerungsgruppen. Die ärmeren Bevölkerungsschichten leben tra­

ditionell in der Nähe der Quellen der Verschmutzung. Die Arbei­

ter wurden im 19. Jahrhundert normalerweise unweit der Betriebe, in denen sie arbeiteten, angesiedelt. Untersuchungen zeigen

ferner, daß die ärmeren Schichten bevorzugt in jenen Stadtteilen leben, die aufgrund der Richtung der Windströmung am stärksten von den Emissionen der lokalen Industrie heimgesucht werden. So sind Arbeiter doppelt und dreifach belastet, einerseits durch gesundheitsbeeinträchtigende Arbeitsbedingungen und andererseits durch eine Wohnumwelt, die stark immissionsbelastet ist.

Die Umweltbelastung ihrer unmittelbaren Wohnumgebung ist als be­

sonders gravierend anzusehen, weil sich bei ihnen normalerweise auch die Freizeitaktivitäten im Umkreis des heimischen Stadtteils abspielen. Ihnen fehlen die finanziellen Reserven, um sich häu­

figer den gesundheitsbelastenden Wirkungen ihrer Wohnumwelt zu entziehen - sei es durch Fahrten in entferntere Erholungsräume oder durch häufigere Kurzurlaube. Dies gilt in besonderer Weise

für diejenigen Bevölkerungsgruppen - wie Kinder, Hausfrauen, Rentner -, die überdurchschnittlich häufig über kein Auto ver­

fügen und damit auf Freizeitmöglichkeiten in Wohnnähe angewie­

sen sind. Diese Ausweichmöglichkeiten stehen den wohlhabenderen

(27)

Schichten normalerweise zur Verfügung, abgesehen davon, daß sie in weniger verschmutzten Gegenden wohnen bzw. die

finanziellen Möglichkeiten haben, durch Umzug in eine weniger verschmutzte Gegend sich den gesundheitsbelastenden Wirkungen der lokalen Umweltbelastung zu entziehen.

Von der Lärmbelästigung - nach Umfrageergebnissen die Haupt­

umweltgeißel der Industriegesellschaft in den Augen der Be­

völkerung - sind besonders stark Hauptstraßen-Anlieger b e ­ troffen. Auch dies ist gleichbedeutend mit einem negativen Verteilungseffekt für die unteren Einkommensgruppen.

Eine Verteuerung der Lebenshaltung im Gefolge von Umweltschä­

den ergibt sich auf vielfältige Weise. Diese trifft natürlich die relativ ärmeren Bevölkerungsschichten am härtesten, weil dort im Grunde keine Reserven mehr vorhanden sind. Beispiele bilden die Steigerung der Abgaben- und Steuerbelastung, weil ein Großteil der Folgekosten der Umweltzerstörung dem Staat und seinen Parafisci aufgebürdet wird, wie z.B. steigende Krankenversicherungs- und Rentenversicherungsbeiträge (auf­

grund der Folgekosten der Gesundheitsschäden), steigende Lohnsteuer- und/oder Konsumsteuerbelastung (aufgrund der

Folgekosten im Infrastrukturbereich, der steigenden Zuschüsse der staatlichen Haushalte zur Renten- und Krankenversicherung etc.), vermehrte Erholungsfährten, Umzüge mit der Folge höhe­

rer Transportkosten, Einbau von Lärmschutzfenstern, vermehrt auftretende Reparaturen und Neuanstriche an den Wohngebäuden und Reinigung von Fenstern und Textilien, Einkommenseinbußen aufgrund höherer Erkrankungshäufigkeit oder vorzeitiger Ver­

rentung.

Wohnen in den Ballungszentren

Folgekosten der Agglomeration (der räumlichen Konzentration und Zentralisierung der Produktion) äußern sich u.a. darin, daß das Wohnen bei gleichem Komfort in Ballungszentren deutlich teurer ist als in ländlichen Regionen oder in kleineren und Mittelstädten. Werden diese Mehrbelastungen bis zu einem

(28)

bestimmten Umfang bei den Besserverdienenden auch durch rela­

tiv und absolut höhere Gehälter in den Ballungszentren ausge­

glichen, so ist dies bei Rentenempfängern bzw. bei den Bevölke­

rungsgruppen, die kein Erwerbseinkommen beziehen, nicht der Fall. Sie sind also allein aus diesem Grunde schon in den Bal­

lungszentren stärker m it Wohnkosten belastet. Hinzu kommt noch, daß Mieter mit geringem Einkommen häufig durch Mietzahlungen relativ viel stärker belastet sind als besser verdienende Haus­

halte. Ihre Aufwendungen können bis zu 40 % ihres Einkommens erreichen (mehr als 25 % für die Nettomiete zuzüglich weiterer

10 % für die Nebenkosten), während besser verdienende Mieter häufig nur 10 % des Einkommens hierfür verausgaben müssen. 28)

Verkehrsausgaben

Folgekosten der räumlich hochkonzentrierten Produktionsweise äußern sich in den großräumigen Verdichturgsgebieten auch darin, daß ein ständig steigender Anteil des Einkommens für Transport­

zwecke verausgabt werden muß. Aufgrund der großräumigen - wirtschaftsinduzierten - Zersiedlung der Ballungsgebiete in

den letzten 20 - 30 Jahren sind heute große Teile der Bevölke­

rung gezwungen, ein Auto zu halten. Anders können vielfach Arbeit und Leben in der Industriegesellschaft nicht mehr bewäl­

tigt werden. In Zukunft wird die relative und absolute Belastung des Einkommens durch die Kosten der Pkw-Nutzung weiter steigen

(steigende Steuern, Einbau und Kontrolle von Katalysator und

anderen Techniken der Abgasentgiftung, steigende Benzinpreise etc.) Aufgrund des siedlungsstrukturell begründeten Zwangs zum Besitz eines Autos sind ohnehin schon diejenigen Bevölkerungsgruppen, die kein Auto zur Verfügung haben, in ihrer Lebensqualität besonders beeinträchtigt. Die Erreichbarkeit von Zielen, die ein zentrales Stück Lebensqualität ist, ist bei diesen dadurch enorm eingeschränkt (Rentner und andere einkommensschwache Gruppen, H a u s f r a u e n (e t c .). Muß etwa ein Arbeitsloser aufgrund seines schrumpfenden Einkommens auf sein Auto verzichten, be­

deutet dies in vielen Fällen den Einsturz seines Lebens- und Aktivitätsniveaus und in der Folge eine Verschlechterung seiner Wiederbeschäftigungschancen.

(29)

Anmerkungen 1Keynes (1936).

2Auch die gegenwärtig stattfindende Revision des Systems der VGR der UNO ('System of National Accounts'), an dem sich die nationalen Systeme der UNO-Mitglieder orientieren, wird

- wie jetzt schon abzusehen ist - jene Grundlagen nicht in Frage stellen. Aller Erfahrung nach wird das neue System, dessen Revision bis 1990 abgeschlossen sein soll, bis über die Jahrtausendwende Gültigkeit besitzen. Vgl. United

Nations, Economic and Social Council, Statistical Commission (1984) .

3Eine Stromgröße ist zeitraumbezogen definiert, z.B. die Produktion von Gütern und Dienstleistungen oder der Ver­

brauch von Rohstoffen und Energie in einem Jahr.

4Eine Bestandsgröße ist dagegen zeitpunktbezogen definiert, z.B. die Bevölkerung eines Landes oder der Bestand an Pro­

duktionsanlagen in einer Volkswirtschaft am 1.1.1986.

^Fisher (1930).

6Boulding (1949/50).

7Boulding (1948), S. 101.

Q

Boulding (1949/50), S. 81 und 85 (Übersetzung der Zitate von C .L .).

9Georgescu-Roegen (1971) und Daly (1977).

10Daly (1983).

11Weber (1983).

12o.V. (1983).

1 3Näheres hierzu ist zu finden in Leipert (1985a).

1 4Schon der in der Ökonomie gängige Begriff des Güterkreis­

laufs ist fehlerhaft. Er sollte auf die Beschreibung der Geldströme (hier des Einkommens) beschränkt bleiben.

15Vgl. Spies (1984).

1 6Wir verwenden beide Begriffe - den der Sozialkosten und den der Folgekosten - synonym. Einbezogen sind damit auch die wirtschaftlichen Aktivitäten zur Reparatur oder Kompensation von negativen Folgen von Produktion und Konsumtion (z.B.

Umweltschutzaktivitäten). Auf den ersten Blick könnte man meinen, sie seien keine Bestandteile der Sozialkosten - eingedenk der Kapp'sehen Definition von Sozialkosten, die wir oben zitiert haben. Aber selbst Kapp erwähnt die

(Schadens-)Beseitigungs- oder Vermeidungsausgaben von Unter­

nehmen als mögliche Indikatoren zur Quantifizierung von Sozialkosten der Umweltbelastung (vgl. Kapp 1963).

In einer evolutorischen Sicht des Sozialkostenphänomens wer­

den letzte Zweifel beseitigt. Die Beseitigungs- oder Vermei­

dungsaktivitäten, die in die privatwirtschaftlichen Kosten­

rechnungen der Unternehmen eingehen, sind eine zeitlich ver­

schobene Folge des Abwälzens von unternehmensspezifischen

(30)

Umweltkosten auf Dritte oder die Gesamtgesellschaft und damit kausal diesem Prozeß zuzurechnen. Eine Gesamtab­

schätzung der Sozialkosten hat deswegen auch die Ausgaben­

bestandteile in den Kostenrechnungen der Unternehmen zu berücksichtigen, die eine zeitlich verrückte Folge dieser Kostenabwälzungsprozesse sind.

1^Kapp (1979).

18Kapp (1936) , s. 42.

19Kapp (1979), S. 10.

20Kapp (1979), S. 195.

21Die Theorie präformiert das Ergebnis. In einem gleichge­

wichtsorientierten zeitlosen Modell stellt ein marginaler externer Effekt nur eine geringfügige Abweichung vom Gleich gewicht ohne dynamische Folgeprozesse dar. Hier reicht

eine wirtschaftspolitische Maßnahme, die nur marginal korrigierend eingreift. Daß die Existenz und die Folgewir­

kungen von Sozialkosten tatsächlich eine erhebliche A b ­ weichung von einem möglichen Zustand der allgemeinen Be­

friedigung der (ökonomischen, sozialen und ökologischen) Grundbedürfnisse der Bevölkerung signalisieren und deshalb nicht nur marginale, sondern weitgreifende strukturverän­

dernde Maßnahmen der Politik angezeigt sein könnten, wird durch die spezifische Struktur und Anwendung des ökonomi­

schen Gleichgewichtsmodells ausgeschlossen.

22Hauchler (1985).

2 3OECD, The State of the Environment,in: The OECD-Observer, Nr. 98 (1979), S. 33.

24Der Autor hat in mehreren Veröffentlichungen erste Teiler­

gebnisse empirischer Berechnungen von Folgekostenkomponen­

ten vorgelegt. Vgl. Leipert (1984), (1985b), (1985c). Mit der Veröffentlichung umfassender Berechnungen ist Ende

1986/Anfang 1987 zu rechnen.

25Stein, R . , Wie man Krebs verhütet und wie man damit leben kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.3.1986.

2 6

statistisches Bundesamt, Fachserie 19, Reihe 2: Investi­

tionen im Umweltschutz 1983.

27Nach Berechnungen des Internationalen Instituts für Um­

welt und Gesellschaft, die 1986 veröffentlicht werden.

2 8

Nach Angaben von G. Jahn vom Mieterbund auf einer Presse­

konferenz am 29.11.1982.

(31)

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Referenzen

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