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Vergleichende Gesellschaftsforschung Wissenschaftszentrum Berlin

RV/78-3

DIE AUFGABE DER UNIVERSITÄT IM WANDEL DER ZEIT

Festvortrag zum 450. Jahrestag der Universität Marburg, am 1. Juli 1977

von

Karl W. Deutsch

Harvard Universität und Internationales Institut

für Vergleichende Gesellschaftsforschung des Wissenschaftszentrums-Berlin

Publication series of the International Institute for Comparative Social Research

Wissenschaftszentrum Berlin

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Um die Aufgabe der Universität im Wandel der Zeit zu b e ­ trachten, beginnen wir vielleicht am besten damit, zu fra­

gen, was die erste Aufgabe der europäischen Universitäten war. Das war die Aufgabe der Heranbildung von Kadern, von Fachkräften. Nach dem modernen Sprachgebrauch hätte man die Universitäten von Bologna, wo man die Rechtswissen­

schaftler für den Papst ausbildete, von Salerno, wo die Mediziner zu studieren begannen, von Paris, wo man T h e o ­

logen trainierte, als Kaderschmieden bezeichnen können.

Die Heranbildung von Verwaltungskräften. Nach der ersten Heranbildung von Fachkräften aber veränderten sich die Aufgaben der Staaten. Die moderneren Staaten des 15. und

16. Jahrhunderts brauchten Verwaltungskräfte. In der U r ­ kunde des Landgrafen Philipp heißt es "Amtsleute", also Leute, die vielen verschiedenen Aufgaben schnell gerecht werden konnten. Wie der Volkswirtschaftler Joseph Schumpeter

darlegte, war das die Zeit des Überganges vom Feudalstaat zum Steuerstaat, zum Staat mit bezahlten Beamten. Aber für sein gutes Geld wollte der Staat auch leistungswillige und anpassungsfähige Beamte haben, und diese Beamten m u ß ­ ten imstande sein, sich klar und deutlich auf lateinisch auszudrücken. Dazu war das Latein der Kirchenväter leider nicht völlig geeignet, und für den Beamtenstaat und den Steuerstaat entstand die Renaissance-Universität, deren Absolventen sich im klassischen Latein und im römischen Juristenlatein klar und deutlich, zumindest am Anfang die- : ser Bürokratenperiode, auszudrücken wußten. Ein Mensch die­

ser neuen Prägung war Erasmus von Rotterdam; ein anderer, tieferer und machtvollerer Geist war Thomas Morus, der b e ­ reits erfuhr, wie gefährlich es doch ist, der Hüter des Gewissens eines Herrschers sein zu wollen. Das waren doch Renaissance-Gelehrte, die den neuen Aufgaben der Universi­

tät gerecht werden konnten.

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Die Sammlung und Übermittelung bestehenden Wissens. Dann aber gab es eine zweite Aufgabe der Universität, die zu­

nehmend zur Ausbildung von Fachkräften hinzukam, und das war die Aufgabe der Erhaltung, der Übermittlung, der Samm­

lung des bestehenden Wissens. Neben der Ausbildung zur Universität für Fachpersonal kam nun die Gelehrten-Univer- sität, von den Gesetzessammlungen und der Sammlung histo­

rischer Denkwürdigkeiten bis zu den Naturalienkabinetten und Mineralienmuseen, durch die man dann zu sammeln be­

gann .

Die Synthese von Bildung. Neben die Gelehrten-Universität kam dann ein dritter Punkt mit der Hereinnahme auch des synthetischen Teils der Kultur. Hier kam die Bildungs-Uni­

versität, also eine Universität, die es versuchte, der Selbstbildung der Menschen und der Bildung durch die Uni­

versität zu helfen. Sie diente den Versuchen mancher Kinder des Kleinadels und des Großbürgertums, den Bildungs- und Geltungsvorsprung des höheren Adels einzuholen und zu über­

holen, aber ihre Wirkung und Bedeutung reichten weiter. Von der Ausbildungs-Universität zur Bildungs-Universität war immerhin ein ganz beträchtlicher Schritt, ein Schritt, der vielleicht noch nicht in allen Ländern der Welt in West und Ost gelungen ist.

Die Auswahl von Berechtigten. Dann aber gab es einen weiteren Schritt, den Schritt zur Berechtigungs-Universität von heute.

Das Doktorat ist nun der Jagdschein zur Jagd auf eine Stelle, in der man hofft, einige Sicherheit der Beschäftigung , ein auskömmliches Einkommen und eine beträchtliche Portion so­

zialer Achtung zu erjagen. Diese vier Universitätsfunktionen - Ausbildungs-Universität, Gelehrten-Universität, Bildungs- Universität und Berechtigungs-Universität - haben eines ge­

meinsam. Sie sind alle eigentlich Standes- und Eliten-Univer- sitäten: Sie bilden Menschen aus, oder sie geben ihnen Ge­

legenheit zur Bildung. Man sprach im 19. Jahrhundert so gerne

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von Besitz und Bildung, und man stufte die Bildung als eine Art unsichtbare und ungreifbare Form des Besitzes ein. Es waren Universitäten, die ihre Absolventen ganz deutlich vom Rest der Bevölkerung unterschieden und zu unterscheiden wünschten, wie es eine Gestalt in Karl Kraus' "Letzten Tagen der Menschheit" zu einem Offizier sagt: "Sie sind ja akademisch gebildet". In der Welt von

1914 und 1915 fing der Mensch sozusagen beim Einjahrig- Freiwilligen oder beim Akademiker an.

Die Produktion von neuem Wissen. Aber inzwischen kam in die Aufgaben der Universitäten ein ganz neues Element hin­

ein, nämlich nicht mehr nur die Bewahrung, Weitergabe oder Verpackung bestehenden Wissens für den geistigen Kleinhan­

del, sondern auch etwas besseres: die Schaffung neuen Wis­

sens. Die Universität wurde nicht nur zur Bewahrungsstätte des Wissens, sondern zu seiner Produktionsstätte. Das dau­

erte lange. Das Schaffen neuen Wissens begann meist außer­

halb der Universitäten. Die ersten Forscher, die Alchimis­

ten, die ersten Kapitäne waren nicht Professoren der Che­

mie oder der Geographie. Man sagt von England, dort habe die Dampfmaschine während des 18. Jahrhunderts mehr für die Universitäten getan als die Universitäten für die Dampfmaschine. Aber langsam und mit gewissen Schwierigkei­

ten - man hat hier an das Marburger Verbot der Philosophie des Rene Descartes erinnert - drang doch das moderne Wis­

sen in die Universitäten ein, und gerade in Marburg wurde bereits im Jahre des Herrn 16o9 der erste Professor der Chemie in ganz Europa auf einen Lehrstuhl berufen. Die W i s ­ sens-Universität wird nun zur Forscher- und Entdecker-Uni­

versität; und hier ändert sich nun ganz fundamental der Charakter der Universitäten.

Ich sprach von den Schwierigkeiten des Überganges. Fundamen­

talwissenschaftlich forschende Gelehrte wurden oft von Uni- versitätsverwaltungen und auch von Herrschern und Regierungen

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zum Anwendungsbezug ermuntert. Man wollte anwendungsbe­

zogene Forschung haben. Als Galileo Galilei die Gesetze des Falles studierte, waren diese noch nicht hinreichend anwendungsbezogen, und so verdiente Galileo Galilei sei­

nen Lebensunterhalt an der Universität Padua durch einen anwendungsbezogenen K u r s . Er lehrte die Studenten der Medizin das Stellen von Horoskopen über das Schicksal ihrer Patienten. Ähnlich ging es Johannes Kepler in Prag.

Er berechnete die Bahnen der Planeten, die aber leider für die Politik des Habsburger Reiches nicht anwendungs­

bezogen waren. Und Kaiser Rudolf II wünschte von ihm eben anwendungsbezogene Wissenschaft - direkt relevant für die Probleme der Entscheidungsträger. Und Kepler lie­

ferte sie. Er stellte seiner Kaiserlichen Majestät Horo­

skope. Heute müssen die Universitäten nicht nur Horoskope verkaufen, aber man spricht noch gelegentlich von "stra­

tegischen Studien".

Dennoch aber hat sich das Wissen langsam durchgesetzt und das Problem des Anwendungsbezugs ist langsam besser begrif­

fen worden. Man erzählt von dem englischen Physiker Michael Faraday, er habe einmal dem Sekretär des Schatzamtes, also dem Finanzminister des englischen Königsreichs, das erste Modell seiner kleinen Dynamomaschine vorgeführt. Es war noch nicht jene, die Siemens nachher praktisch machte, aber es war bereits eine Dynamomaschine, so sagen wenigstens die englischen Historiker der Wissenschaft. "Was ist der prak­

tische Nutzen dieses Gerätes?" fragte der Finanzminister.

"Ich weiß es nicht" antwortete Faraday, "aber ich weiß, daß sie es eines Tages noch besteuern werden."

Die Universitäten wurden zu Produktionsstätten des neuen Wissens auf allen Gebieten. Zugleich wurden sie Stätten

der Verbindung des Wissens, in jenen Gebieten, die wir heute manchmal als Naturwissenschaften bezeichnen, manch­

mal etwas ungenau als exakte Wissenschaften, man denke an die Meteorologie oder wie Seismographie und das Voraussa­

gen von Erdbeben - manchmal als Geisteswissenschaften, manch

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mal als Gesellschaftswissenschaften. In Wirklichkeit ge­

hört das Wissen zusammen, der menschliche Geist ist eins, und die Formen des menschlichen Denkens regen sich gegen­

seitig an. Das wußte der deutsche Philosoph Immanuel Kant sehr wohl, und das mißverstanden Gelehrte wie Rickert und Windelband leider nur allzusehr. Aber der Versuch, eine Mauer der Trennung zwischen Naturwissenschaften und ■;

Geistes- oder Kulturwissenschaften aufzurichten, hat auf die Dauer die Entwicklung beider Gebiete und ihre gegen­

seitigen Anregung nicht verhindern können.

Es gab dann Kombinationen der drei Typen: Ausbildungs-Uni­

versität, Gelehrsamkeits- Universität und Bildungs-Univer­

sität mit einem Schuß Berechtigungswesen und mit einer wachsenden Beimischung der Entdeckung neuen Wissens.

Zunächst war dieses Entdeckungselement noch sekundär. Aber es nahm zu. Das Wissen wuchs. Wir wissen heute, daß seit etwa dem Jahre 16oo sich die Zahl der wissenschaftlichen Informationen alle 15 Jahre verdoppelt hat. Es gibt heute eine Million mehr Veröffentlichungen und Gelehrte auf den Gebieten der Wissenschaft als es das damals gab. Schließ­

lich hat die Erzeugung neuen Wissens das Übergewicht e r ­ reicht, und damit beginnt eine neue Zeit in der Funktion der Universität. Sie erwirbt eine neue Funktion, die zu einem beträchtlichen Teil in ihr selbst und aus ihr selbst, aus ihrer Rolle als Produktivkraft des Wissens, erwachsen i s t .

Die Universität als Vorhut und Wachstumsspitze der Gesell­

schaft . Die heutige Aufgabe der Universität, so möchte ich Ihnen vorschlagen, ist vielleicht die Heranbildung und die erleichterte Selbstbildung einer Avantgarde, einer Vorhut von Führungs- und Stützungskräften in einer Atmosphäre von Entdeckungen. Das Wichtigste ist, daß die Gesellschaft ge­

stützt und geführt wird von Menschen, die wissen, daß wir nicht alles wissen, von Menschen, die wissen, daß viel von dem, was wir zu wissen glauben, vielleicht auch gar nicht

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so sicher ist und daß vor allem das, was wir nicht wissen, für uns wichtig und zum Teil entdeckbar ist, wahrschein­

lich im Prinzip entdeckbar ist. Man könnte das so aus- drücken: die Welt ist entdeckbar, aber nicht erschöpfbar.

Eine Vorhut ist keine Elite. Eine Elite ist anders, oder sie versteht sich als anders, als der Rest der Bevölke­

rung. Eine Avantgarde, eine Vorhut, tut heute, was viele andere später tun. Was als Universitätsbildung in einer Generation anfing, geht als Volksbildung, als Erwachsenen­

bildung, als Universalbildung in einer anderen Generation weiter. Ich habe zu Hause unter den Schätzen meiner Familie eine kleine Plakette, in der meinem Vater und meiner Mutter gedankt wird für 25 Jahre der Arbeit am Bildungsverein Deut­

scher Arbeiter in Prag. Solche Bildungsvereine, Volksbil­

dungsanstalten und Volkshochschulen setzen die erzieheri­

schen Arbeiten der Universitäten fort, äie machen das W i s ­ sen, das es dort gibt, breiten Schichten zugänglich.

Die Universität selbst aber bleibt eine Begegnungsstätte der Menscheit mit dem Unbekannten. Sie ist die Schneide unseres Vordringens in das Unbekannte, oder - um das Bild zu ändern - sie ist eine der grossen Wachstumsspitzen des menschlichen Geistes. So wie man an der Wurzel eines Baumes oder an den obersten Schößlingen des Baumes die Wachstumsspitzen sieht, so ist die Universität eine Wachstumsspitze der Gesellschaft.

Und diese Entwicklung ist bei weitem noch nicht abgeschlossen

Vom Sinn der Universität zur Politik der Universität. Diese Auffassung aber hat beträchtliche Implikationen, beträchtli­

che Folgen für den Sinn der Universität und für die Politik der Universität. Universitätspolitik bedeutet hier das poli­

tische Handeln aller an der Universität beteiligten Einzel­

nen und Gruppen: der Studenten, der Fachkräfte, des Univer­

sitätspersonals - ich lese, daß es in Marburg 5.5oo gibt, die die technischen Aufgaben und die Haushaltsaufgaben der Universität versorgen - bis hinunter zu dem letzten Kranken,

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der Insulinspritzen bekommen muß und zum letzten Kind, dem man noch eine Injektion gegen die spinale Kinderlähmung geben kann. Welches nun sind die vordringlichsten dieser vielen Implikationen, an die wir denken können?

Lernfähigkeit, Freiheit und Zweifel als Produktionsbedin­

gungen des Wissens. Beginnen wir mit dem, was mir das Vor­

dringlichste erscheint: die Freiheit der Forschung und der Diskussion, des Lernens und der Lehre. Ein amerikanischer Erziehungspolitiker, Logen Wilson, sagte einmal: "Eine Mit­

telschule lehrt, eine Universität lernt und lehrt." Diesen Unterschied sollte man festhalten. Ein echter Student und eine echte Studentin sind Menschen, die gelernt haben, zu

lernen.

Das ist nicht nur von theoretischer Bedeutung. Man berech­

net, daß viele Berufe von heute in etwa 20 Jahren veralten.

Denken Sie daran, daß Frieidrich Ebert Sattlergeselle wurde, bevor er Präsident der Deutschen Republik wurde. Was hätte ein Sattlergeselle auch sonst im Automobilzeitalter anfan­

gen können? Denken Sie also daran, daß wir vielleicht heu­

te in Schulen, Universitäten und Lehrstellen vielleicht wie­

der Sattlergesellen für morgen ausbilden; oder einfacher ge­

sagt: viele Berufe werden innerhalb von 2o Jahren gründlich verändert werden. Aber Sie, meine Kommilitonen, werden, wenn es in der Welt friedlich zugeht und die Menschheit überleben kann, etwa 4o Jahre im Berufsleben stehen. Sie werden also mindestens einmal sehr gründlich umlernen m ü s ­ sen; und wenn Sie in der Universität gelernt haben, wie man lernt, wird Ihnen das leichter fallen, und Sie werden Ihrer Gesellschaft nützlicher sein, als wenn Sie das nicht können.

Die zweite vordringliche Frage ist das Recht des Zweifels.

"Die Wissenschaft" schrieb Bertolt Brecht in seinem Theater­

stück "Das Leben des Galilei", "ist ein Kind des Zweifels".

Wer nicht zweifeln darf, der kann beinahe nicht lernen.

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Friedrich Nietzsche schrieb als junger Mann in seinem Tage­

buch von dem riesigen Schwungrad des Sokratismus, von der Gewohnheit, alles in Frage zu stellen, von der nach des jungen Nietzsche Ansicht die ganze gewaltige Entwicklung der Wissenschaft und der Technologie des modernen Zeital­

ters ausgegangen sei. Die Fachphilosophen und die Fachphilo­

logen haben sich schon damals mit Nietzsche gestritten, sie werden sich vielleicht auch noch heute mit Nietzsche streiten. Aber es gibt Augenblicke, wo ein junger Mensch von Genie Einsichten nach Hause bringt und in sein Tage­

buch setzt und vielleicht nachher veröffentlicht, die tie­

fergehen und weiterreichen als die Fußnoten selbst der g e ­ lehrtesten Philologen. Es gibt einen Unterschied zwischen der Einsicht und den Einzelheiten, obwohl es wichtig ist, daß diese Einsicht dann auch wieder redlich belegt werden kann. Dennoch ist dieses Element der Einsicht aus der Uni­

versität nicht wegzudenken.

Wie kann man die Freiheit des Zweifels, die Freiheit des Lernens erhalten? Zuerst einmal durch die Vielfalt der Ka­

näle zum Infomationseinschub, wenn ich das so technisch ausdrücken darf. Das bedeutet eine Ablehnung von Autorität und Zensur. Man berichtet von dem grossen deutschen Chemi­

ker Beilstein, dass er als Herausgeber einer Fachzeitschrift einem jungen Chemiker zurückschrieb "Ihre Arbeit ist glän­

zend, ich werde sie veröffentlichen, aber sie hat keine Zu­

kunft". Er veröffentlichte die Arbeit mit diesem Kommentar, und dann wurden diese chemischen Verbindungen für 4o Jahre nicht weiter untersucht. Der amerikanische Wissenschafts­

philosoph David Herz schrieb dazu, man könne vielleicht die Eminenz eines Akademikers daran messen, um wieviel Jahre er imstande sei, die Entwicklung seines Fachgebietes zu ver­

zögern.

Die Universität muß sich wehren gegen Autorität und Zensur von oben und von unten, von links und von rechts und von der Mitte her. Sie muß sich aber auch wehren gegen die Zeit­

verschwendung an Irrtümer und Wirrköpfe und muß also eine

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gewisse Vorsicht walten lassen bei der Beschäftigung mit ungeprüften Vermutungen. Dennoch aber, obwohl die Zeit der Universitäten und ihrer Lehrer und ihrer Hörer kostbar ist, muß man von Zeit zu Zeit eben doch auch die ungeprüften Vermutungen auf ihre mögliche Bewährung und Bestätigung hin untersuchen.

Dazu kommt dann noch die Freiheit der Dissoziation. Autori­

tät heißt, daß man alle Botschaften aus seiner gegebenen Quel le hinnimmt, weil die Autorität in der Quelle sitzt und

nicht im Inhalt der Nachrichten. Nichtautoritäres wissen­

schaftliches Denken heißt, daß man jede Nachricht auf ihren eigenen Wert hin prüft, oder wie es ein amerikanisches Vo l k s ­ sprichwort so schön ausdrückt: "Traue deiner Mutter, aber mische die Karten."

Mir sagte einmal ein Professor der theoretischen Physik:

"Einstein hatte eine geniale Einsicht in das Wesen der Rela­

tivität, aber die Quantentheorie hat er niemals ordentlich verstanden." Das ist Dissoziation, und dadurch, daß es m ö g ­ lich ist, verschiedene Ideen verschieden auseinanderzuneh­

men, ist es möglich, freier und vielfältiger, reichhaltiger und realistischer zu denken; denn wo die Dissoziation an­

fängt, kann die freie Rekombination erfolgen. Seit vielen Jahrhunderten haben Menschen in ihrem Denken die Flügel von den Körpern der Vögel dissoziiert und dann im rekombinatori­

schen Verfahren in ihrer Einbildung diese Flügel an den Schultern von Menschen befestigt und so den Gedanken des menschlichen Fluges entwickelt. Ich habe fliegende Menschen­

gestalten in Steinfiguren indischer Höhlen gesehen. Die Griechen hatten kein Monopol auf Ikarus. Die Inder, Indianer die Germanen dachten an den Flug der Menschen. Wieland der Schmied hatte der Sage nach haltbarere Flügel als Ikarus ge­

baut. Aber diese Fähigkeit, zu dissoziieren, zu rekombinie- ren und neue Kombinationen aus alten Bestandteilen zu schaf­

fen, die so neu sind, daß es sie vorher noch nie irgendwo in der Welt gab, das sind Grundfähigkeiten des menschlichen Geistes, und das sind Grundverfahrensweisen der Universität.

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Daraus folgt, daß wir diese Freiheit, Information auf­

zunehmen, Information zu bewahren, Information aus dem Gedächtnis zurückzurufen, Information zu dissoziieren, Information neu zu rekombinieren, mit Sorgfalt vertei­

digen müssen. Wer anderen ein Dogma aufzwingt oder a n ­ deren die Rede oder Denkfreiheit wegzunehmen sucht, wer den Andersdenkenden niederschreit oder einsperrt, der ist ein Feind der Wissenschaft. Wer statt von Gedanken die Gewalt anwendet, wird Wegbereiter der autoritären Reaktionen - gleichgültig welchen Wortschatz er verwen­

det.

Wir haben das in den Vereinigten Staaten traurig erfah­

ren. Nach den Frustrationen und Enttäuschungen des Korea- Krieges hatten wir einen Senator Joseph McCarthy, der begann, alle möglichen Andersdenkenden als "Risiken", als Bedroher der Sicherheit hinzustellen. Wir hatten unsere Jahre der Berufsverbote. Jeder Staat muß bestimmte Ein­

richtungen schützen, muß dafür sorgen, daß seine Sicher­

heit nicht völlig in Gefahr kommt. Aber jede bloß mögli­

che Gefahr für wahrscheinlich zu halten, ist nicht Vor­

sicht, sondern Paranoia. In Amerika haben wir das aus bitterer Erfahrung lernen müssen. Der große konservative Staatsmann Englands, Edmund Burke, schrieb einmal, der Staatsmann sollte in Nichts sparsamer verfahren als in der Produktion von Übeln; und Berufsverbote sind übel.

Sicherheitsüberprüfungen sind übel. Je weniger man davon anwendet, je behutsamer man bei ihnen vorgeht, je mehr man den Menschen ihre Eigenständigkeit beläßt, desto besser.

Es gibt Universitäten nicht viele 1oo Kilometer von hier, meist in östlicher Richtung, wo die Universität politisch engagiert sein muß, wo der Andersdenkende noch viel schnei ler am Lehren oder an der Anstellung gehindert wird. Wir kennen das, und wir wissen, in welche Richtung die Leute wandern, wenn sie wandern können. Ich kann nur hoffen, daß so wie wir nach vielem menschlichen Leid uns aus der

McCarthy-Zeit der Panik und der Furcht erholt haben, bis

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wir halbwegs ein Gleichgewicht in Amerika gefunden haben - ich hoffe, wir halten dieses Gleichgewicht - , hoffe ich, daß auch Sie in der Bundesrepublik Ihr Gleichgewicht be­

wahren und vertiefen werden.

Dazu kommt noch ein Zweites: Freiheit allein ist nicht eß­

bar. Wir brauchen eine materielle Sicherstellung der Stu­

denten. Denken Sie an ein Zitat von Friedrich Schiller:

"sprecht mir, ich bitt' euch, nicht von der Würde des Men­

schen. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, dann gibt sich die Würde von selbst." Wie Sie vielleicht wissen, hat das Bertolt Brecht später etwas kürzer ausgedrückt. Aber eine Gesellschaft, die ihre Studenten nicht materiell halbwegs sicherstellt, ähnelt einem Bauern, der sein Saatgut zer­

stört oder verkommen läßt; denn die Studenten sind das Säatgut unserer Zukunft.

Der englische Historiker Arnold Toynbee schrieb in einem Buch über die Weltgeschichte über Assyrien, das Königreich Assyrien sei schließlich zu einer gepanzerten Leichen ge­

worden. Es war hoch gerüstet, die assyrischen Streitwagen standen völlig auf der Höhte, der Zeit, ja sie waren militär­

technologisch führend. Die assyrischen Könige waren gepanzert, ihre Wagenlenker waren gepanzert, aber im sozialen Körper Assyriens ging es bergab. Innerhalb des militärischen Pan­

zers zerfiel die Gesellschaft. In unseren Vereinigten Staa­

ten, in der Sowjetunion, in vielen anderen Ländern sind die Panzer in glänzender Ordnung. Wie gesund sind die Organis­

men, die in diesen Panzern stecken? In einer Welt, die heute überbewaffnet ist und unterernährt, müssen wir viel­

leicht überall dafür sorgen, daß unsere sicherheitsbedach­

ten, militärisch hoch gerüsteten Gesellschaften nicht zu gepanzerten Leichen werden. Denn dort, wo die Ernährung, die Unterernährung physisch ist, wie in den Entwicklungsländern, ist die Gefahr nicht allein vorhanden. In unseren Ländern, wo die Panzer größer und besser und manchmal elektronisch

gesteuert sind, gibt es eine seelische und soziale Unter­

ernährung des Gesellschaftskörpers, die nicht weniger g e ­ fährlich sein könnte.

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Eine weitere Aufgabe der Universität ist vielleicht die Anerkennung zwingender Schlüsse. Wissenschaft ist nicht beliebiger Glaube an alles, was plausibel klingt. Karl Jaspers, der Philosoph, in seinem Buch "Die Idee der Univeristät", betonte das ganz anders: Man müsse doch die Deckungen, die Schlüsse, die Arbeiten der Logiker, der Mathematiker, der Naturforscher, aber auch der

Historiker und der Geisteswissenschaftler, ernst nehmen.

Wir schulden ihnen zumindest vorläufige Anerkennung bis zur Entdeckung gegenläufiger Indizien. Was entdeckt wird, ist nicht unrevidierbar, aber es kann nicht leicht­

fertig übersehen oder verworfen werden.

Die Arbeitslosigkeit ist ein ernster Vorwurf gegen jede Gesellschaft, in der sie groß wird. Sie ist ein Grund der Verzweiflung unter vielen Studenten in vielen Ländern - nicht nur in der Bundesrepublik. Aber Verzweiflung ist ein schlechter Ratgeber. Eine Generation von Studenten, die die meine ist, wurde von der großen Wirtschaftskrise von 1929-33 bis an den Rand der Verzweiflung getrieben, und in Ihrem Lande und in anderen Ländern haben verzwei­

felte Studenten schließlich sich extremen Bewegungen hin­

gegeben, die die Studenten aus der Arbeitslosigkeit in die Soldatengräber von Afrika und Rußland führten. Auch das darf man nicht vergessen.

Wir wissen nicht genug von den Interessen der Menschen.

Seit den Theoretikern des 19. Jahrhunderts nahm man an, daß verschiedene Gesellschaftsklassen ihre eigenen Inter­

essen sehr wohl verstünden. Meist hat man es dann so ge­

macht: Man sagte, die eigene Gruppe, die Gruppe des Spre­

chers, verstünde ihre Interessen nicht, darum brauchte sie den Sprecher, daß er ihr die Interessen erkläre. Aber die anderen Gruppen, die wüßten ihre Interessen sehr, sehr wohl. So sahen Geschäftsleute überall diabolisch wohlorga­

nisierte hochrationale kommunistische Verschwörungen. Wo sind die Zeiten, da man Moskau und Peking als Teil einer einzigen Verschwörung ansah? Und umgekehrt dachten die

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Linksradikalen, die Kapitalisten verstünden ihre Inter­

essen glänzend. Wallstreet und die Plutokraten wüßten es alles ganz genau. Die Nazis haben dann all das in einen Topf geworfen, aber auch wieder einen einheitli­

chen Gegner von infamer Schläue entdeckt. Diese Vor­

stellungen waren falsch. Wie konnten sie entstehen?

Bei einem Computerexperiment, wo man gegen einen Gegner spielen muß, wurden Studenten gegen einen Gegenspieler eingesetzt, der unsichtbar hinter einem Wandschirm saß.

Dann nahm man das Gegenteam heraus und ersetzte es durch den Computer, der aufs Geradewohlspielen program­

miert war, also auf reinen Zufall. Dann fragte man die Studenten auf der anderen Seite des Wandschinns, geben sie uns doch bitte eine psychologische Skizze ihres Gegners, und daraufhin fand man an der Universität von Michigan, daß die Studenten in der grossen Mehrheit

sagten:"Unser Gegner ist unerhört schlau und unerhört boshaft." So wurde an der Universität Michigan der Teufel im Laboratorium wieder erzeugt.

Die Verteufelung dessen, was man nicht versteht, und die Schwierigkeit, die eigenen Interessen zu durchschauen, sind ganz wichtige Probleme der Sozialwissenschaft von heute. Es gibt Augenblicke, wo man keine Zeit hat, In­

teressen bis ins letzte Detail zu analysieren; wo die Menschen so schnell als möglich handeln gemäß dem, was

sie eben im Augenblick für ihr Interesse halten. Wenn sie nachher finden, daß sie sich geirrt haben, ist es eben schlimm, aber sie tuns. Das ist Notstandsdenken und Notstandshandeln.

Aber die Kosten jedes Notstandes wachsen mit seiner Dauer.

Je länger der Notstand, desto größer die kognitiven Kosten, desto größer die Wahrscheinlichkeit kumulativer Irrtümer, desto größer die seelischen und gesellschaftlichen Schä-

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digungen. Die Ideen der russischen Revolution, man möge doch gegen die Armut eine Art Krieg führen, haben dazu geführt, daß man dort dachte, man könne doch die Metho­

den des Krieges zur Änderung der Gesellschaft einsetzen.

Heute, 1977, sind es 60 Jahre seit dieser Revolution, und es ist immer noch in Rußland ein Verbrechen, ein satirisches Theaterstück zu schreiben. Sie sehen, die Methoden, die in ein, zwei oder drei Jahren in der Re­

volution den Menschen eingebleut worden sind, ändern ihren Charakter, wenn sie 60 Jahre andauern. Das hat es in der französischen Geschichte zur Zeit der Jakobiner auch gegeben.. In einer kurzen Notzeit haben die Jakobiner vielleicht Frankreich gerettet, das ist möglich. Auf die Dauer wäre ihre Herrschaft unerträglich gewesen.

Es ist wichtig zu sehen, welchen riesigen Unterschied der Zeitfaktor macht über die Berechtigung oder Nichtbe­

rechtigung des Notstandsdenkens. Die Ethik von 1914 im Weltkrieg, die Ethik von 1917 in der russischen Revolu­

tion, die Ethik von 1939 bis 1945 im Kampf gegen den Faschismus waren in ihrer Zeit völlig verständlich, aber sie sind heute überaltert. Sie können uns in soziale und politische Fallen führen, aus denen ein Entkommen sehr schwer möglich sein würde. Im Atomzeitalter ist Wahllosig­

keit in den Mitteln, Rücksichtslosigkeit, Bereitschaft zu extremem Handeln unendlich gefährlicher und potentiell selbstmörderischer als es das noch in den großen sozialen Kämpfen vor 3o und 4o Jahren war. Wir brauchen eine Ethik, mit der die Menschheit das Atomzeitalter überleben kann.

Im großen gibt es dieses Problem in der Weltpolitik und Rüstungspolitik. Im kleinen gibt es das an jeder Univer­

sität. Theologische Streitgespräche führen nicht viel wei­

ter. Und es wäre ein Jammer, wenn es sich zeigte, daß wir in den Universitäten in den Sozialwissenschaften viele Theologen haben, die den Glauben an Gott aufgegeben haben, aber die das odium theologicum beibehalten haben.

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Konflikte führen zur Konflikteskalation und zur Gefahr der Vernachlässigung der wahren Aufgaben der Universi­

tät. Ja, was sind denn diese Aufgaben der Universität?

Wir leben im Zeitalter des Übergangs zur informations­

reichen Gesellschaft. Die Gesellschaft von heute und von morgen ist nicht nur, wie man manchmal so ober­

flächlich sagt, nachindustriell, im Gegenteil, man wird auch weiter drei und vier Industriearbeiter brauchen, um einen in Informatik zu beschäftigen. Aber langsam verschiebt sich das. Nach den Berechnungen des ameri­

kanischen Volkswirtschaftlers Fritz Machlup, ursprüng­

lich aus Österreich, stellt sich heraus, daß jedes Jahr in den letzten 3o Jahren ein halbes Prozent der ameri­

kanischen Arbeitskräfte in einen Informationsberuf übergegangen ist. Also statt Massen herumzuschieben oder Energie in Leitungen zu leiten, bewegen diese Leu­

te Papiere und Tonbänder, drücken Druckknöpfe, betätigen Lochkartensätze, Datenbänder und Kontrollhebel, kurz:

sie manipulieren Information. Das reicht von den Buch­

druckern und den Korrektoren bis hinauf zu den theore­

tischen Physikern und den Philosophen. Aber zusammen be­

schäftigt das heute ein Drittel der Arbeitskräfte in Amerika. A m Ende dieses Jahrhunderts wird die Hälfte un­

serer Arbeitskräfte in informationsverarbeitenden Berufen stehen. In der Bundesrepublik geht das nicht anders vor sich. Wir werden überall in eine hochinformierte Gesell­

schaft übergehen.

Das bedeutet auch eine weitere Aufgabe. Es ist die Notwendig keit des Übergangs von der Halbtechnologie zur Hochtech­

nologie. Halbtechnologie bedeutet, daß man einige Glieder in einen zusammenhängenden Kettenprozeß bereits moderni­

siert und mechanisiert hat, aber nicht die anderen Glieder.

Man hat also z.B. eine glänzende Autobahn von einer Stadt in die andere, aber keine Parkgelegenheiten für die Autos, wenn sie von der Autobahn herunterkommen. Es gibt Dutzende

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solcher Fälle der Teilmodernisierung mit neuen Disprotor- tionalitäten. Hochtechnologie hieße, daß man den ganzen Prozeß in den Griff bekommt und die Technologie auf alle Glieder anwendet, so daß die Engpässe endlich ausfallen.

Halbtechnologie ist die Technologie, die Engpässe schafft.

Hochtechnologie ist Technologie, die die Engpässe bewäl­

tigt.

Ein anderes Indiz der Veränderung unserer Gesellschaft sind die steigenden Informationsraten, überlegen Sie sich, wie viele Einheiten der Information - im Gewerbe nennt man das bits of information - in einem Kilo Eisen stecken und wie viele in einem Kilogramm Schweizer Uhren. Aber gehen Sie weiter, nehmen Sie einmal an die Rate von Ent­

scheidungen pro Kilogramm Material, und dann gehen Sie einmal zur Miniaturisierung über, zu den Steuergeräten der Raumfahrt, zu den gedruckten Miniaturstromkreisen, zu den Transistoren und den Mikroprozessoren. Ähnlich gibt es eine Informationsrate pro Einheit, der Energie, wie etwa pro Kilowatt. Informatik ist Schwachstromtech­

nik, nicht Starkstromtechnik. Und es gibt auch eine In­

formationsrate zur Zeit. Wieviel Information pro Sekunde müssen wir in Rechnung stellen, um um 5 Uhr nachmittags im Stoßverkehr nach Hause zu fahren? Es gibt Informatik in bezug auf das Geld, denken Sie an die Budgets. Wenn Sie eine Autobahn bauen, brauchen Sie heute dreimal so viel Beschilderungen wie früher. Da gibt es erst ein Schild, <3-as Ihnen sagt, daß ein Signal kommt, dann kommt

ein Signal, das die Ausfahrt erklärt, und dann kommt ein Signal, daß die Ausfahrt da ist. Man muß also dem Auto­

fahrer, der mit 1oo Kilometern angebraust kommt, alles dreimal sagen, damit er es begreift; und wehe, wenn man das nicht täte. Schließlich gibt es die Informatik als Informationsrate der Arbeitskräfte, und da sagte ich Ihnen schon, wir steuern in den hochmodernen Ländern in der

Information von einem Drittel der Arbeitskräfte bis zur Hälfte am Ende des Jahrhunderts hin.

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Schließlich gibt es eine Verwandlung der Produktions­

funktionen. Der Club von Rom hat uns mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß, wenn wir weiter mit der Tech­

nologie von heute produzieren, uns langsam alles aus­

gehen wird, oder beinahe alles - das Metall, das Öl,so­

gar die Energie den heutigen Methoden der Kernspaltung des Urans. Nun ist das an sich eigentlich eine ganz alte Geschichte. Man nennt sie das Gesetz vom sinkenden Grenzertrag. Wenn man eine Technologie anwendet, die auf die Verwendung verschiedener Ingredienzien beruht, dann ist es sehr wahrscheinlich, daß, wenn man diese Technologie in immer grösserem Maße anwendet, schließ­

lich mindestens ein Bestandteil oder eine Beimengung knapp wird oder ausgeht. Das wird dann die kritische Men­

ge, und dann wird der ganze Prozeß teurer, schwerer oder funktioniert gar nicht. Es gibt nur ein Mittel gegen die­

ses Gesetz von dem sinkenden Ertrag der unbeschränkten Ausdehnung unveränderter Technologie: Man muß die Techno­

logie ändern. Man muß die Produktionsfunktionen ändern.

Man braucht also neue Entdeckungen und Erfindungen, neue Arbeitsweisen, Innovationen - also Veränderungen im V e r ­ halten der Menschen - nicht als Luxus, sondern als unab­

dingbare Notwendigkeit.

Wer aber hat diese neuen Ideen? Hier muß ich Ihnen ein un­

bequemes Wort sagen: Es sind allzu häufig die Intellektuel­

len. Was ist ein Intellektueller? Es ist jemand, der ge­

lernt hat, mit abstrakten Ideen auch außerhalb seines e n ­ gen Fachgebietes umzugehen. Daher gibt es Schuhmacher, die Intellektuelle sind, und Steueranwälte, die es nicht sind.

Aber die Fähigkeit, Ideen über das eigene Fachgebiet hinaus anzuwenden, diese Fähigkeit, die, wie ich Ihnen vorschlage, den Intellektuellen ausmacht, ist nun ganz wichtig. Denn in dem Maß, in dem auch an der Universität Fachgebiete älter werden, lösen sie die Probleme, die in der Mitte des Fach­

gebietes angesiedelt sind. Ein gutes Fachgebiet ist ja schließlich eine Körperschaft von Menschen, die imstande sind, ihre Arbeiten gegenseitig zu beurteilen und sich daher eben vor Wirrköpfen und vor Narren zu schützen -

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wenigstens meist e n s .Wenn die Fachgebiete ihre Hauptprob­

leme im Herzen des Fachgebietes lösen, wo bleiben dann die ungelösten Probleme übrig? In den Grenzgebieten. Die neuen Entdeckungen sind häufig Grenzgänger zwischen Fach­

gebieten, und dort sind die Intellektuellen, die unruhi­

gen Köpfe, die Leute, die wir einstellen, nicht nur o r ­ dentlich Physik zu studieren, sondern philosophisch zu spekulieren, Leute wie Norbert Wiener, der Mathematik und Biologie und Logik studierte, oder wie Bertrand Russel, der Philosoph und Mathematiker zugleich war, eben zu Hause.

Diese Leute brauchen wir. Intellektuelle sind für eine Ge­

sellschaft kein Luxus, sie sind eine Notwendigkeit. In diesem Sinne ist die Universität eine der entscheidenden Produktivkräfte der Menschheit. Sie ist eine Stätte des Ausprobierens neuer Möglichkeiten, sie ist eine Stätte der Vorbereitung der Selbstverwandlung der menschlichen Gesellschaft.

Das große Problem der menschlichen Gesellschaft heute ist, sich selbst zu verwandeln, um gleichzeitig die beschränk­

ten Möglichkeiten des Planeten und die Dynamik unseres eigenen Wachstums zu bewältigen. Es ist das Problem uns selbst gründlich zu verwandeln und doch unsere Identität zu bewahren. Identität kann operational definiert werden als die Erhaltung der Anwendbarkeit von Erinnerungen.

Wenn unsere Erinnerungen nicht mehr anwendbar sind, haben wir unsere Identität verloren. Wir können einen kleinen Teil von Erinnerungen opfern, einen kleinen Teil von neuen Dingen hinzunehmen, aber die Kontinuitöt des Gedächtnisses macht doch die Persönlichkeit der Menschen und die Kultur der Völker und der Menschheit aus. Dieses Problem der B e ­ wahrung von Identität und der fortlaufenden Durchführung der Selbstverwandlung ist eine Grundaufgabe der Menschheit in der heutigen Zeit. Eine der vornehmsten Stätten, diese Probleme zu erforschen und auszuprobieren, ist die Universi­

tät .

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Lassen Sie mich das noch einmal zum Schluß unterstreichen Wir stehen am Beginn der Epoche der Selbstverwandlung der Menschheit. Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte kann die Mehrzahl der Erwachsenen des Erdballs lesen und schreiben, ist die Mehrzahl der Arbeitskräfte der Welt nicht mehr in der Landwirtschaft beschäftigt, lebt die Mehrzahl der Menschen in Städten und Städtchen. Eine sol che Menschheit hat es vorher noch nie gegeben. Unsere materielle Macht reicht bis zu den Planeten. Und sie kann unseren eigenen kleinen Planeten entvölkern. Mörderische Unwissenheit und Unduldsamkeit können uns alle zerstören.

In diesen Dingen hat die Universität eine ganz besondere Verantwortung. Nicht nur die Würde, die Zukunft der Welt ist zu einem beträchtlichen Grade, meine Kolleginnen und Kollegen, in Ihre Hand gegeben. Ich hoffe, daß sie immer in guten Händen sein wird.

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