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Teil I Einführung in die Technische Chemie

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Teil I

Einführung in die Technische Chemie

Lehrbuch Technische Chemie. Manfred Baerns et al.

Copyright © 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ISBN: 3-527-31000-2

1.1

Besonderheiten chemischer Prozesse

Produktionsverfahren, die mit einer Stoffumwandlung ver- bunden sind, werden nicht nur von der chemischen Indu- strie benutzt, sondern auch in einer ganzen Reihe anderer Industriezweige, wie der Hüttenindustrie zur Gewinnung von Metallen, der Zementindustrie und der Lebensmittel- industrie. Bei diesen Industrien ist die Anzahl der durch Stoffumwandlungsprozesse hergestellten Produkte jeweils überschaubar, während in den Prozessen der chemischen Industrie sehr viele verschiedenartige Produkte hergestellt werden.

Bei einem Vergleich chemischer Prozesse mit den Pro- duktionsverfahren anderer Industrien fallen weitere Beson- derheiten auf. Während die Produktionsmethoden, z. B. der Textilindustrie und der Automobilindustrie, jeweils relativ gleichartig sind, müssen Chemieanlagen speziell auf die darin ablaufenden chemischen Reaktionen und die jewei- ligen Produkte hin konzipiert sein. Keine Anlage sieht wie die andere aus. Diese Vielfalt wird dadurch noch vergrößert, dass es für viele Produkte mehrere Herstellungswege und dementsprechend mehrere Prozesse gibt.

Weiterhin ist für chemische Produktionen charakteristisch, dass die Produktionsanlagen für die einzelnen Prozesse aus vielen Einzelelementen bestehen und dementsprechend aus- gesprochen komplex aufgebaut sind. Das gilt in ganz besonde- rem Maße für Anlagen mit kontinuierlicher Prozessführung, da dort für jeden Arbeitsschritt des Prozesses eine speziell dafür geeignete apparative Anordnung vorhanden sein muss (vgl. Abschnitt 11.6). Insgesamt sind chemische Produktions- anlagen durch hohe Komplexität gekennzeichnet.

Eine weitere Besonderheit chemischer Prozesse besteht darin, dass man nicht nur das gewünschte Produkt erhält, sondern je nach Reaktionssystem auch Koppel- und Nebenpro- dukte. Koppelprodukte werden aufgrund der Stöchiometrie

der Hauptreaktion zwangsläufi g gebildet. Zusätzlich können Nebenprodukte durch Parallel- und Folgereaktionen entste- hen; ihre Bildung kann über die Reaktionsbedingungen (z. B.

Temperatur, Katalysator) beeinfl usst werden.

Beispiele für die Bildung von Koppelprodukten sind die Veresterung von Carbonsäuren (Gl. 1.1) mit dem Koppelpro- dukt Wasser sowie die Chlorierung von Kohlenwasserstoffen (Gl. 1.2) unter der Bildung von Chlorwasserstoff. Das primäre Ziel dieser Umsetzung ist die Erzeugung eines Chlorkohlen- wasserstoffs (RCl); aus wirtschaftlichen Gründen muss man aber auch den als Koppelprodukt anfallenden Chlorwasser- stoff (HCl) verwerten.

R–COOH + R ′ –OH → R–COO–R ′ + H

2

O (1.1) RH + Cl

2

→ RCl + HCl (1.2) Eine ähnliche Problematik stellt die Bildung von Neben- produkten dar. Bei den allermeisten chemischen Reaktions- systemen läuft nicht nur eine einzige chemische Reaktion ab; vielmehr wird die Ausbeute der gewünschten Umset- zung durch Parallel- und Folgereaktionen gemindert. Deut- lich wird der Effekt unerwünschter Parallelreaktionen bei der Substitution am aromatischen Kern. So können bei der einfachen Kernchlorierung von Toluol prinzipiell drei Isomere entstehen, wobei meist nur eines der Isomere als Produkt erwünscht ist. Als ein Beispiel für unerwünschte Folgereaktionen sei die Bildung von Di- und Triethylenglykol bei der Herstellung von Glykol aus Ethylenoxid und Wasser (vgl. Abschnitt 17.1.1.8) genannt. Mit geeigneten Kataly- satoren und optimierter Reaktionstechnik gelingt es zwar häufi g, die Umsetzung in Richtung auf das gewünschte Produkt zu lenken, jedoch nicht soweit, dass die Bildung der Nebenprodukte vollständig unterdrückt wird. Man muss also versuchen, die entstandenen Nebenprodukte zu verwer- ten. Das ist in einem größeren Anlagenkomplex mit vielen Die chemische Industrie erzeugt eine Vielzahl verschie-

denster Produkte, wie z. B. Schwefelsäure, Düngemittel, Farbstoffe, Pharmaka oder Polymere. Um all diese Produkte herzustellen, werden unterschiedliche chemische Verfahren angewendet.

Die wissenschaftliche Disziplin, die diesen Produkti- onsverfahren zugrunde liegt, ist die „Technische Chemie“.

Als Teilbereich der Chemie umfasst sie die verschiedenen Aspekte chemischer Produktionen, angefangen bei der Entwicklung von Verfahren und ihrer Übertragung in die Technik bis hin zum Betrieb von Produktionsanlagen. Die Lösung dieser Aufgaben erfordert die Kenntnis spezieller Methoden, aber auch das Wissen um stoffl iche Zusammen- hänge.

1 Chemische Prozesse und chemische Industrie

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Produkten eher möglich als in einem Werk mit wenigen Produktionsanlagen.

Schließlich gibt es noch eine weitere Besonderheit che- mischer Prozesse, nämlich den Umgang mit gefährlichen Stoffen. Die wesentlichen Ursachen für Gefährdungen sind die Toxizität, die Brennbarkeit, die Explosionsfähigkeit und die geringe Stabilität vieler chemischer Substanzen. Diese gefährlichen Eigenschaften können auch zu schädlichen Einwirkungen auf die Umgebung von Chemieanlagen, also auf die Umwelt führen.

1.2

Chemie und Umwelt

Das Wissenschaftsgebiet, das sich mit Problemen der Umwelt befasst, ist die Ökologie. Schon seit langer Zeit hat der Mensch Ökosysteme in gravierender Weise verändert, z. B. durch Abholzen von Wäldern. Mit der Industrialisierung kam es durch emittierte Schadstoffe zu ganz neuartigen Störungen von Ökosystemen. Beispiele dafür sind die Herstellung von Soda nach dem Leblanc-Verfahren (Schadstoff HCl) und die Röstung sulfi discher Erze (Schadstoff SO

2

).

Mit der Zunahme der Produktionskapazitäten wuchsen auch die Mengen der von Chemieanlagen emittierten Schad- stoffe. Etwa ab 1960 kam es zu verstärkten Aktivitäten zur Vermeidung von Emissionen aus chemischen Produktionen.

Dabei wurden neue Verfahrensvarianten und zum Teil völlig neuartige Prozesse entwickelt. Die Resultate dieser Maßnah- men zeigten sich schon bald. So sank beispielsweise für das Stammwerk Ludwigshafen der BASF die Abwasserbelastung durch organische Verunreinigungen von 1972 bis 1991 um mehr als den Faktor 10 bei gleichzeitiger Steigerung der Produktionsmenge um 50 %. Danach wurde die Umweltbe- lastung noch weiter reduziert, wie Abb. 1.1 am Beispiel der produktionsspezifi schen Umweltbelastung durch die BASF für 1991 und 2001 zeigt.

Interessant ist die Herkunft von Luftschadstoffen aus menschlicher Tätigkeit in den Industrieländern. Als Beispiel ist in Tab. 1.1 die Verteilung einiger Schadstoffemissionen auf die Verursacher in der Bundesrepublik angegeben. Danach stammen 4,4 % der SO

2

- und 0,4 % der NO

x

-Emissionen aus Prozessen der chemischen Industrie.

Auch chemische Endprodukte können toxische Eigen- schaften aufweisen. Ein Beispiel dafür ist das Insektizid DDT ( Dichlordiphenyltrichlorethan). Die breite Wirkung von DDT gegen Insekten führte dazu, dass das Produkt nicht nur im chemischen Pfl anzenschutz, sondern in gro- ßem Maß auch zur Bekämpfung von krankheitsübertragen- den Insekten, z. B. Fiebermücken, sehr erfolgreich einge- setzt wurde. Es zeigte sich jedoch, dass das DDT aufgrund seiner hohen Stabilität in der Umwelt nur langsam ab ge baut wird. Mögliche schädliche Wirkungen führten deshalb zu Einschränkungen und Verboten für den Einsatz von DDT.

Wie problematisch ein striktes Verbot einer Chemikalie sein kann, zeigt das Beispiel von Sri Lanka, wo es gelungen war, die Malaria durch den Einsatz von DDT fast auszurotten.

Während es dort vor 1950 über 2 Mio. Malariafälle mit mehr als 10 000 jährlichen Todesfällen gab, waren es 1963 nur noch 17. 1964 wurden die DDT-Aktionen eingestellt, was zur Folge hatte, dass die Malariaerkrankungen wieder drastisch zunahmen; 1968 überstieg die Zahl der Malariafälle 1 Mio.

Seit 1969 wird DDT deshalb wieder in begrenztem Maß zur Bekämpfung der Malaria eingesetzt.

Auch bestimmte Schwermetalle, wie Quecksilber und Cadmium, gelangen über das Abwasser oder als Verunreini- gungen von Produkten in die Ökosysteme. Für diese in der Umwelt verteilten Stoffe hat sich der Begriff Umweltchemi- kalien herausgebildet.

Außer durch Umweltchemikalien und durch Abwässer, Abgase und Abfälle können Umweltbelastungen auch durch so genannte Störfälle beim Betrieb von Chemieanlagen verur- sacht werden. Als Störfall bezeichnet man eine Störung beim Betreiben einer Anlage, die zu Gefährdungen für Mensch und Umwelt oder Sachschäden führen kann, z. B. das Austreten von gefährlichen Stoffen, Brände und Explosionen. Besonders Abb. 1.1. Produktionsspezifi sche Umweltbelastung in kg je Tonne

Verkaufsprodukt der BASF AG für 1991 und 2001.

Tab. 1.1. Emissionen von Luftschadstoffen in der Bundesrepublik Deutschland 2003.

SO

2

NO

x

(gerechnet als NO

2

)

CO

Emissionen (Mio. t) Insgesamt (1992)

0,62 (3,90)

1,43 (2,90)

4,15 (9,14) Verursacher (Anteile in %)

Industrie insgesamt davon chemische Industrie

27,2 4,4

11,6 0,4

29,4 0,02

Verkehr 0,2 49,0 42,3

Landwirtschaft (Düngung, Viehzucht) – 7,1 –

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3 1.3 Chemiewirtschaft

folgenreiche Störfälle ereigneten sich 1984 in Bhopal mit Tausenden von Todesopfern (vgl. Abschnitt 11.4.3) und 1976 in Seveso, wo es zu schwer wiegenden Umweltschäden kam (vgl. Abschnitt 11.4.1.3).

1.3

Chemiewirtschaft

1.3.1

Einteilung der Chemieprodukte

In allen Industrieländern ist die chemische Industrie ein we- sentlicher Bestandteil der Volkswirtschaft. In Deutschland betrug 2004 der wertmäßige Anteil der chemischen Industrie an der gesamten Industrieproduktion 10,1 %. Von dem Umsatz in Höhe von 142,1 Mrd. € entfi elen mit 99,3 Mrd. € 69,9 % auf den Export. Gleichzeitig wurden Chemie-Erzeugnisse im Wert von 66,9 Mrd. € eingeführt. In der Chemiewirtschaft besteht also eine starke Tendenz zu internationaler Arbeits- teilung.

Dies hängt mit der Struktur der chemischen Industrie zu- sammen. Sie ist gekennzeichnet durch ein außerordentlich breites Spektrum von Produkten, angefangen mit den in großer Menge produzierten Grundchemikalien, wie Schwe- felsäure, Ammoniak, Chlor und Ethylen, über die vielen daraus hergestellten Zwischenprodukte, z. B. Ethylenoxid, Styrol und Vinylchlorid, bis hin zu hoch veredelten Spezi- alprodukten wie Pharmaka und Pfl anzenschutzmittel (vgl.

Tab. 1.2).

Generell lassen sich die Chemieprodukte in vier Kategorien einordnen:

Basischemikalien und Massenprodukte. Hierzu gehören die anorganischen Grundstoffe, die Petrochemikalien und ihre Derivate, die in großen Mengen produziert werden, z. B. niedere Alkohole und organische Säuren, sowie Mas- senprodukte wie Düngemittel und Massenkunststoffe. In diesem Sektor hat sich die Chemie zu einer reifen Indu- strie entwickelt, d. h., die Herstellungstechnologien sind weitgehend bekannt und käufl ich. Im Wettbewerb spielen die Herstellkosten die entscheidende Rolle; Reinheit und Qualität sind durch das Herstellungsverfahren mehr oder weniger vorgegeben. Hauptziel von Forschung und Ent- wicklung ist die Verbesserung und Weiterentwicklung der Produktionstechnik, z. B. durch Katalysatoren von höherer Selektivität oder durch leistungsfähigere Apparate. Dane- ben interessiert die Entwicklung von Verfahren, die von preisgünstigeren Rohstoffen oder auch von den langfristig verfügbaren nachwachsenden Rohstoffen ausgehen.

Feinchemikalien. Dies sind vor allem die vielen Zwischen- produkte, die in kleineren Mengen aus Basischemikalien hergestellt werden, z. B. die Vorprodukte für Farbstoffe, Pfl anzenschutzmittel und Pharmaka. Auch bei dieser Pro- duktkategorie steht die Produktionstechnik im Mittelpunkt

von Forschung und Entwicklung. Gleichzeitig kommt es darauf an, den häufi gen Nachfrageschwankungen zu folgen oder auch ein neu verlangtes Produkt schnell liefern zu können. Im letzteren Fall ist ein Verfahren zu konzipieren, mit dem in einer vorhandenen Klein- oder Technikumsan- lage produziert werden kann. Hier ist hohe Kompetenz in Verfahrensentwicklung und Ingenieurtechnik gefordert.

Basischemikalien und Feinchemikalien sind chemische Verbindungen mit defi nierter Molekülstruktur. Sie werden von den Abnehmern überwiegend als Vorprodukte und Bausteine für weitere chemische Synthesen eingesetzt oder vereinfacht gesagt: die Kunden kaufen Moleküle. Im Unterschied dazu handelt es sich bei den beiden anderen Kategorien, nämlich den Spezialchemikalien und den Wirkstoffen, um Produkte für bestimmte Anwendungen.

Spezialchemikalien dienen vor allem technischen Anwen- dungen. Ein Beispiel dafür sind die Autolacke. Ein Autolack soll die Karosserie vor Verschmutzung und Korrosion schützen und das Auto gut aussehen lassen. Für den Autobesitzer, der einen kleinen Lackschaden ausbessern will, muss der Lack, der ihm vom Kundendienst verkauft wird, selbstverständlich die Farbnuance seines Wagens haben; dagegen hat ein derartiger Lack wegen der ande- ren Handhabung eine ganz andere Zusammensetzung („Formulierung“) als der Lack für den Karosserielackierer.

Das Herausfi nden der optimalen Zusammensetzung des jeweiligen Produkts ist typisch für Spezialchemikalien. Wei- tere typische Vertreter dieser Produktkategorie sind z. B.

Textil-, Papier- und Lederhilfsmittel. Der Erfolg am Markt hängt hier entscheidend von einer hohen Kompetenz in der Anwendungstechnik ab. Wichtig ist dabei, neue Kunden- bedürfnisse zu erkennen und zu deren Befriedigung neue Produkte und Formulierungen zu entwickeln.

Wirkstoffe. Zu dieser Kategorie gehören die Pharmaka und Pfl anzenschutzmittel. Die gewünschte Wirkung, z. B. die Bekämpfung einer Infektion oder eines Schädlings, wird

Tab. 1.2. Weltproduktion wichtiger Chemieprodukte (2003).

Wichtige Chemiprodukte Mio. t Mrd. €

Anorganika

Schwefelsäure (100 %) Ammoniak

Chlor

Stickstoffdüngemittel (gerechnet als N) Phosphordüngemittel (gerechnet als P

2

O

5

) Kalisalze (gerechnet als K

2

O)

170 110,9 43,1 90,3 37,1 27,6 Organika

Ethylen Propylen Benzol Methanol Kunststoffe Pharmazeutika Pfl anzenschutzmittel

100,1 55,6 32,4 28,9 202,0

466,0 25,3

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von diesen Produkten auf Grund einer bestimmten Mole- külstruktur erzielt. Das Auffi nden von Wirkstoffen und die anschließende Testung bis zur Zulassung und Marktein- führung erfordern einen enorm hohen Aufwand. Außer hoher Forschungskompetenz ist für den wirtschaftlichen Erfolg ein effi zientes weltweites Vertriebssystem erforder- lich, das imstande ist, einen neuen Wirkstoff schnell auf den Markt zu bringen, denn die hohen Entwicklungskosten lassen sich nur über die Erlöse während der Patentlaufzeit fi nanzieren.

1.3.2

Chemiefi rmen werden Großunternehmen – ein historischer Rückblick

Die Entwicklung einer eigenständigen chemischen Indu- strie begann in der Zeit um 1860, als es gelungen war, or- ganische Farbstoffe zu synthetisieren (vgl. Abschnitt 19.3).

Diese Erfi ndungen wirkten als Auslöser für die Gründung zahlreicher Firmen („Startups“ würde man heute sagen), in denen die neuen Farbstoffe produziert wurden. Basis dieser so genannten „Teerfarbstoffe“ waren Verbindungen, die man aus dem Steinkohlenteer isoliert hatte, wie Benzol, Anilin und Phenol. Zu den Farbstoffen kamen als weitere wichtige Produkte von 1885 an die ersten synthetischen Pharmaka, ebenfalls aus aromatischen Kohlenstoffverbindungen her- gestellt. Bei diesen Entwicklungen waren vor allem deutsche Chemiefi rmen erfolgreich. Ihr Anteil an der Weltproduktion von Farbstoffen betrug 1877 schon 50 % und stieg bis 1913 auf 87 %. Wesentliche Gründe dafür waren enge Kontakte zur Forschung an den Universitäten und die Einrichtung eigener Forschungslaboratorien. Einige dieser neuen als „Far- benfabriken“ gegründeten Firmen (1863 Bayer und Hoechst, 1865 BASF = Badische Anilin- und Sodafabrik, 1867 Agfa = Aktien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation) entwickelten sich im Lauf der Zeit zu großen Chemiefi rmen.

Auch bei anderen chemischen Produkten errangen deut- sche Firmen eine führende Stellung auf dem Weltmarkt.

1913 lag die Exportquote der deutschen chemischen Industrie bei 70 %. Wegen des verschärften Wettbewerbs auf dem Weltmarkt schlossen sich 1925 die acht bedeutendsten deut- schen Chemieunternehmen auf Initiative von Carl Duisberg (1861–1935, Bayer AG) und Carl Bosch (1874–1940; BASF, 1931 Nobelpreis) zu dem damals größten Chemiekonzern, den IG Farben (Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG), zusammen. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten aufgelöst. Aus den in der Bundesrepublik gelegenen Teilen des Konzerns wurden u. a. die drei Nachfolgegesell- schaften BASF, Bayer und Hoechst gegründet.

Auch in anderen Ländern kam es zu Zusammenschlüssen von Chemiefi rmen. So entstanden 1926 die britische Firma ICI (Imperial Chemical Industries) und 1928 in Frankreich Rhône-Poulenc. In den USA bildeten sich durch Fusionen und Übernahmen u. a. Union Carbide (1917 durch Fusion von vier Firmen), DuPont (Gründung 1802 als Schießpulver-

und Sprengstoff-Fabrik), Dow (Gründung 1897) und Monsan- to (Gründung 1901) als große Chemiefi rmen heraus.

Die chemische Industrie der USA produzierte bis ins 20.

Jahrhundert hinein in erster Linie anorganische Grundstoffe.

Den wesentlichen Anstoß zum verstärkten Ausbau organisch- chemischer Produktionen gab das Ausbleiben der Lieferun- gen von Spezialchemikalien aus Deutschland während des Ersten Weltkriegs. Schwerpunkt der Entwicklung waren zunächst Grundstoffe und Zwischenprodukte. Recht bald entwickelten amerikanische Firmen aber auch neuartige Pro- dukte, z. B. DuPont mit den Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen als unbrennbare ungiftige Kältemittel (1929) und mit Nylon als der ersten Chemiefaser (1939). Ebenfalls in Amerika hat eine andere, besonders einschneidende Entwicklung ihren Ursprung, nämlich die Petrochemie, d. h. die Verwendung von Erdöl als Chemierohstoff, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell auch in allen anderen Industrieländern durchgesetzt hat. Im Zusammenhang damit sind sehr bald mehrere große Erdölfi rmen im Bereich der Chemie tätig geworden (z. B. Exxon, Shell, British Petroleum).

Auch für die Chemiefi rmen in der Bundesrepublik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das Erdöl schnell zum wichtig- sten Rohstoff. So wurden Verfahren für Basischemikalien auf petrochemischer Basis entwickelt, z. B. für Acetaldehyd und Vinylacetat. Auch auf dem Weltmarkt fassten deutsche Chemiefi rmen bald wieder Fuß. Die drei IG-Nachfolgefi rmen BASF, Bayer und Hoechst übertrafen jede allein in ihrer Pro- duktion schon Anfang der 1970er Jahre die frühere IG.

In Tab. 1.3 sind die 20 größten Chemiefi rmen der Welt zusammengestellt. Bei Firmen, deren Tätigkeitsfeld nicht auf die Chemie beschränkt ist (z. B. die erwähnten Erdölfi rmen), wurde nur der Umsatz an Chemieprodukten berücksichtigt.

Dass sich im Laufe der Zeit große Chemiefi rmen herausgebildet haben, die international tätig sind (so genannte „Multis“), hat mehrere Ursachen:

Verbundwirtschaft. Große Anlagenkomplexe für chemische Produktionen bieten wirtschaftliche Vorteile, da bei der Herstellung der vielen Produkte, die über mehrere che- mische Stufen erfolgt, und bei den zahlreichen Prozessen mit Koppel- und Nebenprodukten lange Transportwege vermieden werden.

Die Kapitaldegression (Abnahme der spezifi schen Investi- tion mit der Anlagengröße, vgl. Abschnitt 13.2.2) verstärkt die Tendenz zum Bau großer Produktionseinheiten.

Der hohe Einsatz an Investitionskapital. Chemieanlagen sind wegen ihrer aufwendigen Technik ausgesprochen kapitalintensiv.

Streuung des wirtschaftlichen Risikos. Die chemische Indu- strie ist nach wie vor besonders innovationsfreudig. Damit sind aber auch Risiken verbunden, zum einen durch eine erfolgreiche Neuentwicklung seitens eines Konkurrenten, zum andern durch den Fehlschlag eines eigenen Projekts.

Derartige Risiken sind von großen Unternehmen mit einer breiten Produktpalette leichter abzudecken.

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Größere Finanzkraft für Forschung und Entwicklung. Ein Charakteristikum der chemischen Industrie ist der hohe Forschungsaufwand (vgl. Abschnitt 13.3). Die erfolgreiche Umsetzung von Neuentwicklungen in marktfähige Produk- te und Verfahren erfordert oft viele Jahre und entsprechend hohe Finanzmittel.

1.3.3

Strukturwandel in der Chemieindustrie

Gegen Ende des letzten Jahrhunderts zeigte sich, dass die zunehmende Firmengröße auch Nachteile mit sich bringt.

Großunternehmen sind wegen der längeren Entscheidungs- wege schwerfälliger und weniger fl exibel als kleine Firmen.

Dazu kommt, dass sich die Produktbereiche in ihrer Ge- schäftstätigkeit stark voneinander unterscheiden. Um auf dem Markt erfolgreich zu sein, benötigt der Produzent von Grundchemikalien eine hoch entwickelte Produktionstechnik und eine günstige Rohstoffversorgung, aber keine eigene Forschung. Dagegen verspricht bei Pharmaka und Spezial- chemikalien gerade die Entwicklung neuer eigener Produkte wirtschaftliche Erfolge; zudem spielen hier im Gegensatz zu den Grundchemikalien Verkauf und Vertrieb eine wichtige Rolle.

Diese Probleme führten zusammen mit der zunehmenden Globalisierung, zunächst in den USA und später auch in Europa, zu Umstrukturierungen der chemischen Industrie.

Sie bestanden zum einen darin, dass sich die Firmen auf ihre

„Kernkompetenzen“ konzentrierten, d. h. auf die Arbeits- gebiete, in denen sie besonders stark und im Wettbewerb führend waren. Andere Arbeitsgebiete gab man auf, indem man die entsprechenden Geschäftsteile verkaufte oder im Tausch mit anderen Firmen Teilbereiche erwarb, um die eigenen Kernbereiche zu verstärken.

Die andere Art der Umstrukturierung war radikaler; sie bestand darin, dass man die Firma teilte. So wurde 1993 der

„Life-Science“-Bereich (Pharmaka und Pfl anzenschutz) der ICI als neue Firma Zeneca abgetrennt. Das weiterhin unter ICI fi rmierende Unternehmen wurde in der Folgezeit durch Übernahmen (u. a. des Chemikaliengeschäfts von Unilever) zu einem bedeutenden Hersteller von Farbstoffen und ande- ren Feinchemikalien.

Noch einschneidender war die Umstrukturierung des Hoechst-Konzerns. Nach Abtrennung einer Reihe von Ar- beitsgebieten wurden 1998 die verbliebenen Chemieanteile (im Wesentlichen organische Zwischenprodukte) in der Firma Celanese zusammengefasst. Aus den Pharma-Be- reichen von Hoechst und der französischen Firma Rhône- Poulenc entstand das Unternehmen Aventis, das 2004 nach Übernahme durch Sanofi unter Sanofi -Aventis fi rmiert. Ein reines Pharma-Unternehmen ist auch die Firma AstraZeneca (1997 durch Fusion von Zeneca und Astra entstanden), die 1999 ihren Bereich Agrochemikalien in die zusammen mit Novartis gegründete Syngenta einbrachte. Wie diese Firma ist im Zuge der nach 1990 erfolgten Umstrukturierungen eine ganze Reihe neuer Chemiefi rmen entstanden, die sich auf bestimmte Geschäftsfelder konzentrieren.

Auch im Pharmabereich hat eine Konzentration stattge- funden, so dass die großen Pharmafi rmen heute Umsätze von derselben Größenordnung wie große Chemiefi rmen aufweisen (vgl. Tab. 1.4). Wesentlicher Grund für diese Kon- zentration ist der riesige Aufwand, den die Entwicklung eines neuen Arzneimittels erfordert. Bis zur Markteinführung eines neuen Wirkstoffs muss man heute mit einem Zeitraum von 10 bis 12 Jahren und mit Kosten von 0,5 bis 1,0 Mrd. Euro rechnen. Das damit verbundene fi nanzielle Risiko kann nur von einer großen Firma mit entsprechend hohen Rücklagen getragen werden.

Neben den Großfi rmen spielen mittlere und kleine Firmen in der Chemiewirtschaft eine wichtige Rolle. Ihre bevorzugten Tätigkeitsfelder sind Spezialprodukte und Feinchemikalien.

Häufi g handelt es sich dabei um Produkte mit hohem Ver- edelungsgrad für einen begrenzten Kreis von Abnehmern.

Beispiele dafür sind Analysensubstanzen, Diagnostika, Aro- mastoffe und Produkte für spezielle technische Zwecke, wie Katalysatoren, Adsorptionsmittel, Filterhilfsmittel und Schmierstoffe. Auch wenn viele dieser Produkte zum Teil von Großunternehmen hergestellt und auf den Markt gebracht werden, haben kleinere Firmen wegen der speziellen Verwen- dungszwecke der Produkte und wechselnder Anforderungen an die Produkteigenschaften den Vorteil größerer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an besondere Kundenwünsche.

Tab. 1.3. Die 20 umsatzstärksten Chemiefi rmen der Welt (2004, ohne Pharmafi rmen).

Firma Hauptsitz

(Land)

Chemie-Umsatz (Mrd. €)

Dow Chemical USA 32,3

BASF Deutschland 30,7

DuPont USA 24,2

Royal Dutch/Shell GB/NL 23,7

Exxon Mobil USA 22,3

Total Frankreich 20,4

BP Chemical GB 17,1

Bayer Deutschland 14,5

China Petroleum & Chemical China 13,5

Misubishi Chemical Japan 13,1

SABIC Saudi-Arabien 12,8

Degussa Deutschland 11,2

Formosa Plastics Group Taiwan 10,2

Akzo Nobel NL 9,4

Huntsman Corp. USA 9,2

Mitsui Chemical Japan 9,1

Air Liquide Frankreich 8,6

ICI GB 8,2

Sumitomo Chemical Japan 7,9

Toray Industries Japan 7,9

1.3 Chemiewirtschaft

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Als wesentliches Ergebnis der Umstrukturierung der che- mischen Industrie seit Beginn der 90er Jahre bleibt festzu- halten, dass auch die großen Firmen in der Regel nicht mehr das ganze Produktspektrum abdecken, sondern sich auf bestimmte Geschäftsfelder konzentrieren. Die so genannte Rückwärtsintegration, also die Herstellung eines Produkts beginnend mit dem Grundstoff über alle Zwischenstufen bis zum Endprodukt in derselben Firma und möglichst am sel- ben Standort, wird damit aufgegeben. Man bezieht Vor- und Zwischenprodukte und Hilfsstoffe von Herstellern, die sich auf bestimmte Produktgruppen spezialisiert haben.

Dabei braucht man die Vorteile der Verbundwirtschaft nicht zu verlieren, wenn man in der Nachbarschaft der Vorlieferan- ten produziert, am besten in dem selben Anlagenkomplex.

Derartige Anlagenkomplexe, in denen mehrere Chemiefi r- men vertreten sind, nennt man Chemieparks. Sie entstanden zunächst Anfang der 90er Jahre in Ostdeutschland durch die Aufl ösung und Privatisierung der staatlichen Chemiekom- binate z. B. in Leuna und in Bitterfeld-Wolfen. Weitere Che- mieparks entstanden im Zuge von Umstrukturierungen. So gehen die Chemieparks Frankfurt-Höchst und Knapsack (bei Köln) auf den Hoechst-Konzern zurück und der Chemiepark Marl auf die Chemischen Werke Hüls. Ein anderer Grund für die Bildung von Chemieparks ist eine günstige Rohstoffver- sorgung, so z. B. in Antwerpen mit seinem Überseehafen.

Allen Chemieparks ist gemeinsam, dass sie den einzelnen Firmen die nötige Infrastruktur anbieten, d. h. Energieversor- gung (elektrischer Strom, Dampf, Wasser), Abfallentsorgung (z. B. Kläranlage), Straßen und Serviceleistungen (z. B. Werk- stätten und ingenieurtechnische Leistungen, Werkschutz, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Sozialeinrichtungen). Für Organisation und Betrieb dieser Infrastruktur ist in der Regel eine Servicegesellschaft zuständig, die ihre Leistungen den Nutzern in Rechnung stellt.

1.4

Struktur von Chemieunternehmen

Chemiefi rmen beschäftigen sich mit der Herstellung chemi- scher Produkte. Produktionsanlagen und Betriebspersonal sind nur ein Bestandteil einer Chemiefi rma; für eine erfolg- reiche Geschäftstätigkeit sind weitere Funktionsbereiche erforderlich. Vor allem müssen die erzeugten Produkte verkauft werden, und zwar zu solchen Preisen, dass aus den Erlösen alle aufgewendeten Kosten gedeckt werden können und darüber hinaus ein Gewinn erzielt wird, der u. a. dazu dient, die zukünftige Entwicklung der Firma zu sichern.

Deshalb gibt es in jeder Chemiefi rma einen Bereich, dessen Aufgabe der Verkauf der erzeugten Produkte ist. Eine weitere notwendige Funktion ist der Einkauf der für die Erzeugung der Produkte benötigten Ausgangsstoffe und Hilfsstoffe.

Dazu kommt eine Aktivität, die abgesehen von Basischemi- kalien und Massenprodukten zum Bestehen im Wettbewerb besonders wichtig ist, die Forschung und Entwicklung. Die Ausrichtung der Forschung hängt von der Art der Firma ab.

So werden bei kleineren Firmen meist Produkt- und Verfah- rensverbesserungen im Vordergrund stehen und weniger oft neue Produkte. Nicht selten sind dabei auch Fragestel- lungen zu bearbeiten, die auf spezielle Anforderungen von Kunden zurückgehen. In größeren Firmen gibt es für eine solche kundennahe Forschung und Entwicklung besondere Abteilungen unter der Bezeichnung Anwendungstechnik. For- schung mit dem Ziel des Auffi ndens und der Entwicklung neuer Produkte und Verfahren wird vor allem von großen und mittleren Chemiefi rmen betrieben.

Kleine Firmen sind fl exibler als Großunternehmen und können auf Marktveränderungen schneller reagieren. Um diesen Nachteilen entgegenzuwirken, sind große Chemie- fi rmen in weitgehend selbständige Unternehmensbereiche gegliedert, die auf bestimmte Produktgruppen und Abneh- merbranchen hin orientiert sind. Abbildung 1.2 zeigt als Beispiel dafür das Organisationsschema der Bayer AG. Die Unternehmensbereiche (bei der Bayer AG als Teilkonzerne bezeichnet) agieren wie selbständige Firmen und haben ne- ben der Produktion eigene Abteilungen für Marketing und Vertrieb und für Forschung und Entwicklung.

Neben diesen am Markt agierenden Unternehmensberei- chen gibt es in den großen Firmen Bereiche (bei der Bayer AG die so genannten Servicebereiche, vgl. Abb. 1.2), die bestimmte, nicht geschäftsspezifi sche Aufgaben für die Un- ternehmensbereiche als Dienstleistungen übernehmen. Auch diese Bereiche werden als unternehmerisch selbständige Einheiten geführt und stehen im Wettbewerb mit externen Firmen. Gleichzeitig können die Servicebereiche aber auch für konzernfremde Firmen tätig werden. Die Aufgabentei- lung zwischen produzierenden Unternehmensbereichen und dienstleistenden Servicebereichen ist von Konzern zu Konzern verschieden.

Die Koordinierung der Aktivitäten der Unternehmens- und Servicebereiche obliegt dem Vorstand des Konzerns, Tab. 1.4. Die 15 umsatzstärksten Pharmafi rmen (2004).

Firma Hauptsitz

(Land)

Pharma-Umsatz (Mrd. €)

Pfi zer USA 37,1

GlaxoSmithCline GB 25,2

Sanofi -Aventis Frankreich 24,9

Johnson & Johnson USA 17,8

Merck & Co. USA 17,3

AstraZeneca GB 17,2

Novartis CH 14,9

Roche CH 13,9

Bristol-Myers Squibb USA 12,4

Wyeth USA 11,2

Abbott USA 11,1

Ely Lilly USA 10,5

Amgen USA 8,5

Boehringer-Ingelheim Deutschland 7,0

Takeda Japan 6,7

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wobei die einzelnen Mitglieder des Vorstands für bestimmte Aufgabenbereiche wie Personalwesen, Finanzen, Umwelt, Si- cherheit, Forschung und Entwicklung zuständig sind. Neben der Forschung in den Unternehmensbereichen, die auf das jeweilige Geschäftsfeld ausgerichtet ist, betreiben größere Firmen auch Forschungsprojekte mit dem Ziel, sich neue und aussichtsreiche Arbeitsgebiete zu erschließen. Diese so genannte strategische Forschung wird in der Regel der Konzern- zentrale zugeordnet (bei der Bayer AG die Bayer Innovation GmbH, vgl. Abb. 1.2).

1.5

Bedeutung von Forschung und Entwicklung für die chemische Industrie

1.5.1

Wissenschaft und chemische Technik

Von Beginn an war die chemische Technik eng mit der Entwicklung der Naturwissenschaften insgesamt und insbe- sondere der Chemie verbunden. So ging das erste technische Verfahren zur Herstellung von Soda, das Leblanc-Verfahren auf ein Preisausschreiben der französischen Akademie der

Wissenschaften im Jahre 1775 zurück. Die Isolierung des Anilins und des Phenols als Bestandteile des Steinkohlenteers (1834) durch F. F. Runge (1795–1867, Professor in Breslau, Industriechemiker in Oranienburg) und die Entdeckung des ersten künstlichen Farbstoffs, des Mauveins, hergestellt aus Anilin (1856), durch den Engländer W. H. Perkin (1838–1907, Schüler von A. W. Hofmann) waren entscheidende Anstöße für den Aufbau der Teerfarbenindustrie. Die Erkenntnisse von Justus v. Liebig (1803–1873, Professor in München und Gießen) über den Minimalbedarf der Pfl anzen an den drei Elementen Stickstoff, Kalium und Phosphor (Minimumge- setz, 1840) standen am Anfang der Düngemittelindustrie, d. h. der Gewinnung von Mineralsalzen für die künstliche Düngung (vgl. Abschnitt 18.6.1). Der letzte Schritt in dieser Entwicklung war die Nutzung des Luftstickstoffs zur groß- technischen Erzeugung von Ammoniak, der so genannten Ammoniaksynthese. Gerade die Entwicklung dieses Verfah- rens in den Jahren von 1908 bis 1913 durch Fritz Haber (1868–1934, Professor in Karlsruhe und Berlin, Nobelpreis 1918) und Carl Bosch (1874–1940, BASF Ludwigshafen, No- belpreis 1931) ist ein eindrucksvolles Beispiel für die enge Verknüpfung zwischen grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Nutzung in der chemischen Tech- nik (vgl. Abschnitt 18.2.1).

Konzernvorstand

Corporate Center

Koordinierung Konzernfinanzen Öffentlichkeitsarbeit

Bayer HealthCare

Pharmaka (synthetische und

biologische Produkte) rezeptfreie

Arzneimittel Diagnostika Tiergesundheit

Bayer CropScience

Pflanzenschutz- mittel Schädlings-

bekämpfung Pflanzenbio-

technoloie

Bayer

MaterialScience

Polycarbonate, Polyurethane Lacke, Klebstoffe Anorganische Grundchemikalien

Bayer Business Services

Finanzen Einkauf Logistik Personal u.a.

Bayer Technology Services

Ingenieurwesen Verfahrensent-

wicklung u.a.

Bayer Industry Services

Chemieparks Infrastruktur

Bayer Innovation

GmbH

Servicegebiete Teilkonzerne

(Arbeitsgebiete)

Abb. 1.2. Organisationsschema eines chemischen Großunternehmens am Beispiel der Bayer AG (2005).

1.5 Bedeutung von Forschung und Entwicklung für die chemische Industrie

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Als besonders fruchtbar erwies sich der Kontakt zwischen Forschung und chemischer Technik bei der Entdeckung und Entwicklung neuer Arzneimittel. Auch hier waren die aus dem Steinkohlenteer isolierten aromatischen Verbindun- gen der Ausgangspunkt. 1883 synthetisierte Ludwig Knorr (1859–1921, Professor in Würzburg und Jena) bei der Suche nach einer Substanz mit der fi ebersenkenden Eigenschaft des Naturstoffs Chinin das Phenazon. Schon ein Jahr später wurde es als erstes Antipyretikum unter der Bezeichnung Antipyrin von Hoechst auf den Markt gebracht. Weitere Pharmaka folgten wie das Aspirin (1897 Bayer) und das Salvarsan (1910 Hoechst), das von Paul Ehrlich (1854–1915, Chemiker und Bakteriologe, Institutsdirektor in Frankfurt/Main, „Vater der Chemotherapie“) entwickelt wurde (vgl. Abschnitt 19.4.2). In die gleiche Zeit fällt die Entwicklung der Serumtherapie durch Emil von Behring (1854–1917). Voraussetzung dafür waren die Entdeckungen von Robert Koch (1843–1910), der erstmalig Mikroorganismen als Ursache von Infektionskrankheiten nachwies. Als Assistent am Koch’schen Institut fand E. v.

Behring 1892 ein Heilserum gegen Diphtherie, das ab 1894 von Hoechst produziert wurde.

Weitere Schritte in der Bekämpfung von Infektionskrank- heiten waren die Entwicklung der Sulfonamide als wirksame Chemotherapeutika durch Gerhard Domagk (1895–1964) im Werk Elberfeld der damaligen IG-Farben und die Entdeckung der antibakteriellen Wirkung von Penicillin durch Alexander Fleming (1881–1955). Während Prontosil als erstes Sulfon- amid unmittelbar nach seiner Entdeckung 1935 produziert und in der Therapie eingesetzt werden konnte, dauerte es über 15 Jahre (von 1928 bis 1944), bis größere Mengen an Penicillin produziert wurden. Der Grund dafür ist einfach.

Während Sulfonamide in einem klassischen chemischen Prozess mit mehreren Reaktionsstufen hergestellt werden, ist Penicillin ein Stoffwechselprodukt von Mikroorganismen;

über die Kultivierung solcher Mikroben zur industriellen Gewinnung von Wirkstoffen gab es keine Erfahrungen.

Die Isolierung von Penicillin gelang erst 1939 (H. W. Florey und E. B. Chain). Neben der extrem niedrigen Konzentration des Wirkstoffs in der Kulturbrühe und seiner Hydrolyseemp- fi ndlichkeit gab es ein weiteres Problem: Um eine Kontami- nation durch Fremdkeime auszuschließen, mussten die Mi- kroorganismen unter absolut sterilen Bedingungen kultiviert werden. Durch koordinierten Einsatz mehrerer US-Pharma- fi rmen gelang es, diese Schwierigkeiten zu überwinden und in zwei Jahren (1941–1943) einen technischen Prozess für ein bis dahin absolut unübliches Verfahren zu entwickeln.

Eine bahnbrechende Entwicklung aus neuester Zeit ist die Gentechnik, d. h. die Nutzung genetisch veränderter Zellen zur Produktion von Wirkstoffen. Auch für diese Technik gaben neue Erkenntnisse der Grundlagenforschung den Anstoß, und zwar in der Molekularbiologie und in der Bio- chemie. Inzwischen werden mit dieser Technik bestimmte Hormone (z. B. seit 1981 Human-Insulin und seit 1993 menschliches Wachstumshormon) und andere Wirkstoffe (z. B.

Hepatitis-Impfstoff) hergestellt.

1.5.2

Betriebsinterne Forschung

Bei der großen Bedeutung von Innovationen für die Verfah- ren und Produkte der chemischen Industrie stellte sich schon früh heraus, dass es nicht ausreichte, Forschungsergebnisse aus Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen einfach zu übernehmen, um sie optimal zu nutzen. Es erwies sich vielmehr als notwendig, eigene Laboratorien einzurich- ten. Dabei ging es nicht nur darum, aus den Ergebnissen externer Forschung verkaufsfähige Produkte und die ent- sprechenden Herstellungsverfahren zu entwickeln; vielmehr begann man auch mit der systematischen Untersuchung von Stoffgruppen, um neue Verbindungen für wirtschaftlich interessante Anwendungen zu fi nden. Die schon erwähnte Entdeckung der therapeutischen Wirksamkeit der Sulfonami- de durch G. Domagk war das Ergebnis einer solchen breit angelegten Untersuchung.

Natürlich ist der wirtschaftliche Erfolg nicht von vornherein sicher; auch lässt sich zu Beginn einer Neuentwicklung der Aufwand an Zeit und Mitteln nur schwer abschätzen. Die Höhe des tragbaren fi nanziellen Engagements hängt von der Finanzkraft der Firma und damit im Wesentlichen von ihrer Größe ab. Die Entwicklung der ersten Polyamidfaser Nylon (vgl. Abschnitt 19.1.3) dauerte zehn Jahre und kostete DuPont 27 Mio. Dollar, bevor 1939 ein verkaufsfähiges Produkt auf den Markt gebracht werden konnte (zum Vergleich: der Um- satz von DuPont betrug 1929 203 Mio. Dollar). Die Entwick- lungsarbeiten für die Kohlehydrierung (vgl. Abschnitt 15.3.4) hatten 1931 während der Weltwirtschaftskrise die Finanzkraft der damals größten Chemiefi rma, der IG Farben (Umsatz 1929 1,5 Mrd. Reichsmark), so stark strapaziert, dass man daran dachte, das Projekt einzustellen, nachdem man dafür weit mehr als 100 Mio. Reichsmark investiert hatte.

Forschungsaufwand

Die intensiven Forschungsaktivitäten der chemischen Indu- strie erfordern entsprechend hohe Aufwendungen. Weltweit werden von Chemiefi rmen 2–5 % des Umsatzes für For- schung und Entwicklung aufgewendet. Bei Pharmafi rmen ist der Forschungsaufwand mit 15–20 % noch weitaus höher.

In der deutschen chemischen Industrie lagen die For- schungskosten zwischen 2001 und 2004 bei knapp 7 % vom Umsatz. Zwischen den verschiedenen Produktgruppen gibt es große Unterschiede. Außer bei den Pharmazeutika sind auch bei den Wirkstoffen für den Pfl anzenschutz die For- schungskosten mit ca. 10 % vom Umsatz überdurchschnitt- lich hoch. Dagegen wird in den Bereichen der Massenpro- dukte sehr viel weniger für Forschung und Entwicklung aufgewendet. Hier kann man mit Durchschnittswerten von höchstens 2–3 % des Umsatzes rechnen. Im Bereich der chemischen Grundstoffe betreiben nur wenige Hersteller eigene Forschung; Neuentwicklungen, meist Verfahrens- verbesserungen, können in der Regel gegen Zahlung von Li- zenzgebühren genutzt werden. Ähnlich ist die Situation bei

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vielen anderen Massen- und Zwischenprodukten, bei denen es zahlreiche Hersteller ohne eigene Forschung gibt.

Ziele von Forschung und Entwicklung

In Industriefi rmen sind Forschung und Entwicklung auf den wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet, d. h. auf die Si- cherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Hierbei sind in der chemischen Industrie zwei verschiedenartige Zielsetzungen zu unterscheiden, und zwar zum einen die Entwicklung neuer Produkte, Verfah- ren oder Produktanwendungen ( „offensive“ Forschung) und zum andern die Verbesserung von Produkten oder Verfahren und anwendungstechnische Weiterentwicklungen ( „defensive“

Forschung), vgl. Tab. 1.5.

Tab. 1.5. Aufgaben von Forschung und Entwicklung in Chemieunternehmen.

Forschungs- bereich

Neuentwicklungen („offensive“ Forschung)

Verbesserungen, Weiterentwicklung („defensive“ Forschung) Grundlagen

und Methoden

Eröffnen neuer Arbeitsgebiete

Produkte neue Produkte verbesserte Produkte und Produkt formu lie- rungen

Verfahren Verfahren für neue Produkte, neue Verfahren für bekannte Produkte

Verfahrensverbesse- rungen, Kapazitäts- erhöhung

Anwendungs- technik

Anwendungstechnik für neue Produkte, neue Anwendungen für bekannte Produkte

anwendungstechnische Verbesserungen und Weiterentwicklungen, kundennahe Forschung

Wege der Produkt- und Verfahrensentwicklung

Neue Produkte werden in der Regel für bestimmte Verwen- dungszwecke entwickelt, z. B. für den Schutz von Kultur- pfl anzen gegen einen bestimmten Schädling. Wenn man einen geeigneten Wirkstoff gefunden hat, ist es bis zur Pro- duktionsaufnahme und Vermarktung noch ein langer Weg.

Zur Weiterverfolgung eines solchen Projekts sind folgende Arbeiten durchzuführen:

Untersuchungen zur Beantragung der Zulassung des Produkts für die beabsichtigte Verwendung (Toxikologie, Umweltverträglichkeit),

die anwendungstechnische Entwicklung (bei einem Pfl an- zenschutzmittel die Entwicklung von so genannten Formu- lierungen, in denen das Produkt angewendet wird, z. B.

Dispersionen, die versprüht werden können) und die Entwicklung des Herstellungsverfahrens für das Pro- dukt.

Alle diese Arbeiten gehören zur Forschung und Entwicklung.

Nach ihrem erfolgreichen Abschluss und nach Zulassung des

Produkts können Produktion und Vermarktung aufgenom- men werden. Ob eine Produktionsanlage gebaut wird, hängt vor allem von der Produktmenge ab. Für Produkte, die nur in kleinen Mengen benötigt werden, also für Wirkstoffe (Phar- mazeutika und Pfl anzenschutzmittel) und Spezialchemikali- en, benutzt man häufi g die bereits vorhandenen Standardap- parate, oder man produziert zunächst in der Versuchsanlage, um möglichst schnell auf den Markt zu kommen.

Zu den Neuentwicklungen gehören nicht nur neue Produk- te; es kann sich dabei auch um neue Verfahren für bekannte Produkte handeln. Dabei kann es sich um einen neuen Reaktionsweg handeln. Ein Beispiel ist die Entwicklung eines Verfahrens für die Herstellung von Propylenoxid ohne Koppelprodukte durch Direktoxidation von Propylen (vgl.

Abschnitt 11.5.2 u. 17.1.4.2). Auch Veränderungen in der Rohstoffsituation können Anlass für die Entwicklung neuer Verfahren sein, wie es z. B. beim Übergang von Acetylen auf Ethylen als C

2

-Grundstoff in der Zeit von 1955–1965 der Fall war (vgl. Abschnitt 16.4.2). Im Hinblick auf die abzuse- hende Verknappung von Erdöl wurden in den 80er Jahren Verfahren entwickelt, in denen das über die Vergasung von Kohle zugängliche Methanol zu Benzin (MTG-Prozess) und zu Olefi nen (MTO-Prozess) umgewandelt wird (vgl. Ab- schnitt 17.1.1.1). Für die Zukunft interessant ist angesichts der begrenzten Vorräte an fossilen Rohstoffen (Erdöl, Erdgas, Kohle) die Entwicklung von Verfahren, die von nachwachsen- den Rohstoffen wie natürliche Fette und Öle oder Cellulose ausgehen (vgl. Abschnitt 15.4.1).

Als Beispiele für Verbesserungen und Weiterentwicklungen von Produkten und Verfahren seien genannt: Veränderungen an einem Polymeren zwecks Erzielung höherer Festigkeiten, Variation der Zusammensetzung von Faservorprodukten zur Vermeidung der Brennbarkeit der Faser, Erhöhung der Ausbeute durch einen selektiveren Katalysator, Reduzierung der Abwasserbelastung bei der Herstellung eines Zwischen- produkts, Verwertung eines Nebenprodukts.

Einen erheblichen Teil des Forschungsaufwands sowohl für neue Produkte als auch für Produktverbesserungen bean- sprucht die Anwendungstechnik. Bei neuen Produkten hat sie die Aufgabe, die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten zu erproben und die günstigsten Bedingungen und Formen der Anwendung zu ermitteln, z. B. die schon erwähnte Ent- wicklung von Formulierungen für Pfl anzenschutzmittel oder die Verarbeitung eines Kunststoffs. Ähnlicher Art sind die Aufgabenstellungen bei Produktverbesserungen. Die Anre- gungen dazu gehen häufi g auf Kontakte mit Kunden zurück.

Zudem erfolgen viele anwendungstechnische Entwicklungen in Zusammenarbeit mit Kunden. Teilweise geht die anwen- dungstechnische Tätigkeit in die technische Kundenberatung über, also in die unmittelbare Unterstützung des Verkaufs.

Forschung zur Entwicklung neuer Verfahren und neuer Produkte und zum Auffinden neuer Anwendungen für bekannte Produkte geschieht naturgemäß in den Arbeits- gebieten, in denen ein Unternehmen tätig ist. Neben dieser produktorientierten Forschung werden vor allem von grö- 1.5 Bedeutung von Forschung und Entwicklung für die chemische Industrie

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ßeren Firmen Forschergruppen auf ausgewählte Themen außerhalb der eigenen Produktpalette angesetzt, um neue aussichtsreiche Arbeitsgebiete zu erschließen und die Ge- schäftsaktivitäten auszuweiten.

1.6

Entwicklungstendenzen und Zukunftsaussichten der chemischen Industrie

Die chemische Industrie ist seit jeher ausgesprochen for- schungsorientiert und innovationsfreudig. Nach wie vor wird im Vergleich zu anderen Industrien ein überdurch- schnittlich hoher Anteil des Umsatzes für Forschung und Entwicklung aufgewendet, vor allem in den Bereichen der Spezialchemikalien und Wirkstoffe. Im Vordergrund steht dabei die Entwicklung neuer Produkte für die verschieden- sten Anwendungsfelder, z. B. hochspezifi sche Arzneimittel und Diagnostika für den Gesundheitssektor, neue Werkstoffe für die Nachrichtentechnik und für Motoren, Fahrzeuge und Flugzeuge, Pfl anzenschutzmittel mit hoher Selektivität und leichter Abbaubarkeit. Daneben ist für alle Produktbereiche die Entwicklung und Verbesserung der Herstellungsverfah- ren von Bedeutung.

Um mit diesen Forschungsaktivitäten Erfolg zu haben, muss man neueste Erkenntnisse und Methoden benutzen.

Sie sind die Basis für Innovationen, d. h. für neuartige Produkte und Verfahren. Die Quelle für Innovationen sind vor allem Forschungsgebiete, die sich in einem Stadium in- tensiver Entwicklung befi nden. Meist handelt es sich dabei um Forschungsfelder zwischen den Fachgebieten, also um interdisziplinäre Forschung.

Für die Chemieindustrie sind derzeit und für die absehbare Zukunft vor allem die in Tab. 1.6 aufgeführten Forschungs- felder als Quellen für Innovationen interessant. Wie daraus zu ersehen ist, können bestimmte Neuentwicklungen aus der Forschung bei sehr verschiedenartigen Problemen genutzt werden. So ist mit den Methoden der kombinatorischen Chemie die Suche nach neuen Stoffen erheblich effi zien- ter geworden. Inzwischen setzt man diese Methoden aber auch bei der Suche nach neuen und besseren Katalysatoren ein, und zwar unter Verwendung einer größeren Anzahl von Minireaktoren. Besonders vielfältig ist die Nutzung der Biotechnologie. So benutzt man Enzym-Katalysatoren nicht nur für biochemische Reaktionen, sondern auch für asymmetrische Synthesen. Eine weitere Anwendung fi nden Enzyme in den Biochips, vor allem in der Diagnose; bei diesen Mikroenzymsonden handelt es sich um eine Kombination von Biotechnologie und Nanotechnologie.

Die chemische Industrie wird auch in Zukunft in weiten Bereichen durch eine hohe Dynamik gekennzeichnet sein, insbesondere dort, wo neue Produkte und Verfahren ent- wickelt werden. Neben der damit verbundenen Expansion wird sich die seit einiger Zeit stattfi ndende Verlagerung von Produktionen aus Westeuropa und Nordamerika in andere

Länder fortsetzen. Räumliche Nähe zu Verbrauchern einer- seits und zu Rohstoffen andererseits sowie das örtliche Lohn- niveau sind dabei die maßgeblichen Faktoren. So wird schon jetzt ein beträchtlicher Anteil bestimmter Basischemikalien in den arabischen Erdölländern produziert, und bei Fasern und Farbstoffen ist eine Verlagerung von Produktionen nach Südostasien zu beobachten. Gleichzeitig ist die Volksrepublik China zu einem bedeutenden Erzeuger für Grundchemikali- en, Petrochemikalien und Feinchemikalien aufgestiegen.

Pharmazeutika werden vorzugsweise dort produziert, wo der Verbrauch hoch ist, also in USA, Westeuropa und Japan.

Dabei hat die stärkere Spezialisierung in der Chemieindustrie dazu geführt, dass die Pharmafi rmen Vorprodukte häufi g von anderen Firmen beziehen, die auf die Herstellung von Feinchemikalien spezialisiert sind. Staatliche Eingriffe in die Preisgestaltung und Verschreibung von Pharmazeutika können zur Verlagerung von Produktion und Forschung in Länder führen, in denen es keine Restriktionen für den Arzneimittelmarkt gibt. Das Auffi nden neuer Wirkstoffe ist mit den Entwicklungen in der Molekularbiologie und dem daraus resultierenden besseren Verständnis der Wirkung von Arzneimitteln wesentlich effi zienter geworden. Dazu tragen auch neue Methoden bei, z. B. die Anwendung der kombina- torischen Chemie beim Stoffscreening. Analog gilt das für die Suche nach neuen Wirkstoffen für den Pfl anzenschutz.

Auch im Bereich der Spezialchemikalien werden weiterhin neue Produkte für die verschiedensten Anwendungsfelder entwickelt werden, z. B. neue anorganische und organische Werkstoffe für die Informationstechnik und für Motoren und Fahrzeuge. Im Bereich der Feinchemikalien wird die Entwick- lung verbesserter und neuer Katalysatoren höhere Ausbeuten und damit eine bessere Rohstoffausnutzung ermöglichen.

Dazu ist hier durch den Einsatz der Mikroverfahrenstechnik mit wesentlichen Verfahrensverbesserungen zu rechnen wie sicherere Reaktionsführung und höhere Selektivitäten.

Bessere Katalysatoren sind nach wie vor auch für die Her- stellung von Grundchemikalien und Zwischenprodukten in- Tab. 1.6. Innovationen aus neuen Forschungsfeldern.

Innovationen aus interessant für Ziel Kombinatorischer

Chemie

Spezialchemikalien neue Produkte Wirkstoffe neue Wirkstoffe Basischemikalien neue Katalysatoren für

Produktionsverfahren Feinchemikalien

Biotechnologie Wirkstoffe neue Wirkstoffe Nanotechnologie Spezialchemikalien bessere

Produkteigenschaften bessere Katalysatoren Mikroverfahrens-

technik

Feinchemikalien effi zientere Produktionsverfahren Spezialchemikalien in Minireaktoren

und Miniplants

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teressant, vor allem zur Erzielung höherer Ausbeuten, zumal sich die fossilen Rohstoffe, insbesondere das Erdöl, weiterhin verteuern werden. Neue Aufgaben stellen sich durch das zunehmende Interesse an der Nutzung nachwachsender Rohstoffe (Kohlenhydrate, Fette und Öle) zur Herstellung von Chemieprodukten, und zwar nicht nur wegen der höhe- ren Preise für fossile Rohstoffe, sondern auch wegen ihrer langfristig zu erwartenden Verknappung.

Derartige Entwicklungen und Veränderungen rein wirt- schaftlicher Art sind für die chemische Industrie nicht neu;

sie hat darauf immer fl exibel mit Innovationen reagiert. Seit den 1970er Jahren ist aber ein ganz anderes Problem hinzu- gekommen, nämlich eine zunehmend kritische Einstellung der Öffentlichkeit zur chemischen Technik und Industrie.

Wenn bis dahin das Bild der chemischen Industrie mit der Vorstellung neuer und fortschrittlicher Technik und dem Wert und Nutzen ihrer Produkte verbunden war, hat sich damals eine starke Veränderung ins Negative vollzogen.

Dabei spielten einige spektakuläre Chemieunfälle (Seveso 1976, Bhopal 1985, Sandoz/Basel 1986) sicher eine Rolle.

Unabhängig davon ist jedoch eine zunehmende Sensibili- sierung der Öffentlichkeit gegenüber Fragen der Sicherheit und der Gefährdung der Umwelt eingetreten. Auch das hat zu einer kritischeren Einstellung gegenüber den Produkten der chemischen Industrie geführt.

Eine gravierende Folge dieser Entwicklung waren neue und verschärfte gesetzliche Regelungen für den Bau und Betrieb von Chemieanlagen und für die Zulassung und Verwendung chemischer Produkte. Dadurch wurde es erheblich schwerer, neue Produkte auf den Markt zu bringen und neue Produk- tionsanlagen zu errichten. Zum einen verlängerten sich die Genehmigungsverfahren für den Bau neuer Produktionsan- lagen, zum andern wurden umfangreichere experimentelle Untersuchungen, z. B. zur Toxizität, erforderlich. Gerade für kleinere Firmen wird es damit erschwert, neue Produkte auf den Markt zu bringen.

Trotz dieser negativen Einfl üsse wird die chemische Indu- strie auch in der weiteren Zukunft eine Wachstumsindustrie bleiben. Nach wie vor erfordern Probleme aus den verschie- densten Bereichen unseres Alltags zu ihrer Lösung neue Produkte und Verfahren der Chemie. Dazu wird es aus den Grundlagenwissenschaften und aus anderen technischen Disziplinen immer wieder Anstöße zu Innovationen in der chemischen Technik geben.

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Literatur

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Abbildung

Tab. 1.1.  Emissionen von  Luftschadstoffen in der Bundesrepublik  Deutschland 2003. SO 2 NO x (gerechnet  als NO 2 ) CO Emissionen (Mio
Tab. 1.3.  Die 20 umsatzstärksten Chemiefi rmen der Welt  (2004, ohne Pharmafi rmen).
Abb. 1.2.  Organisationsschema eines chemischen Großunternehmens am Beispiel der Bayer AG (2005).
Tab. 1.5.  Aufgaben von Forschung und Entwicklung  in Chemieunternehmen.  Forschungs-bereich Neuentwicklungen  („offensive“ Forschung) Verbesserungen,  Weiterentwicklung  („defensive“ Forschung) Grundlagen  und Methoden Eröffnen neuer Arbeitsgebiete –

Referenzen

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