• Keine Ergebnisse gefunden

Das Leben verstehen

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Das Leben verstehen"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Das Leben verstehen

Was uns das kollektive Verhalten der Tiere über die Welt verrät

Eine neue Ära der Tierforschung trägt den Namen ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space): Das Satellitensystem, das voraussichtlich 2016 auf der internationalen Raumstation ISS angebracht werden wird, macht vom Weltraum aus die globalen Wanderbewegungen von besenderten Tieren und ihre Interaktionen mit der Umwelt sichtbar. Über die Datenbank Movebank und die Handy-App „Animal Tracker“ können die Positionsdaten der Tiere in Echtzeit abgerufen werden.

Space Station

Ground Station

Movebank Database

Science Hand-Held

ISS Control Center

Fixed Data Lines Manual Transfer (Plug in) Operations Center

GPS D ownlink Tag U

p- and D ownlink

ISS U p- and D

ownlink

Tag F orward- a

nd Re turnlink Titel

Das Leben verstehen

(2)

Elektronische Post aus dem Himalaya.

Der Absender: Ein Geier.

Inhalt der Nachricht: Daten mit einem Echtzeitbild der thermischen Verhältnisse und 3D-Windbedingungen in der Gebirgskette.

Der Geier hat die Wetterdaten während seines Fluges erhoben, mit Sensoren, die an seinem Körper angebracht worden sind. Zwei bis drei- mal am Tag schicken er und seine Artgenossen die Daten nach Konstanz.

Derweil macht sich eine Ente vom Boden- see aus auf den Weg nach Nordosten, Richtung Russland. Vermutlich sucht sie sich dort eine Brutstätte. Die Ente ist aber auch in medizini- schem Auftrag unterwegs: Sie kann uns mit- teilen, wo sich Viren wie zum Beispiel Vogel- grippestämme aufhalten. Die Ente ist mit einem Herzraten- Körpertemperatursender

Couzin“, erklärt Wikelski. „Zweitens müssen wir die Umwelt mit erfassen, in der die Tiere sich bewegen. Nur die Bewegungsdaten eines Tieres zu erfassen reicht nicht aus: Wir benö- tigen auch Informationen über seine aktuellen Umweltbedingungen, um uns ein Bild seines Verhaltens zu machen“, fährt Wikelski fort.

„Drittens muss diese Forschung in Zusammen- arbeit mit Informatikern erfolgen, die neue Methoden der Analyse und Visualisierung großer Datenmengen entwickeln. Weil wir von den Tieren so viele Daten bekommen und so viele Zusammenhänge verstehen müssen, dass es ohne modernste Methoden der Daten- auswertung nicht mehr überschaubar wäre.“

In den Weltraum

Die Forschung, von der Martin Wikelski spricht, kann nur global angelegt sein.

Um Tierwanderungen weltweit zu erfas- sen, begibt sie sich sogar noch einen Schritt weiter hinaus – in den Weltraum. Mit dem Projekt ICARUS (International Coopera- tion for Animal Research Using Space), das Martin Wikelski federführend mit auf den Weg gebracht hat, wird voraussichtlich 2016 ein Meilenstein dieser weltumspannenden Forschung erreicht sein. Hinter ICARUS ver- birgt sich ein Satellitensystem zur globalen Tierbeobachtung, das auf der internationa- len Raumstation ISS angebracht wird und weltweit allen Wissenschaftlern zur Verfü- gung stehen wird. ICARUS wird es möglich machen, die Wanderbewegungen der Tiere ausgestattet. Anhand ihrer Körpertemperatur

und Herzrate, die sie künftig regelmäßig nach Konstanz schicken wird, können Rückschlüsse auf das Aufkommen von Viren stämmen gezo- gen und Epidemien voraus gesagt werden.

Klingt nach Science Fiction? Das tut es in der Tat, doch diese Geschichten sind keines- wegs erfunden oder Zukunftsmusik, sondern längst Gegenwart und zutiefst real. Genau jetzt, in diesem Moment, schicken Tierschwärme überall auf der Welt Sensordaten: Sie messen Salzgehalte der Tiefsee im Südpazifik, Tempe- raturschwankungen in der Karibik, die Luft- geschwindigkeit über dem Atlantik. Sie geben ein Bild ihrer Umweltbedingungen und ver- mitteln eine energetische Karte ihrer Körper- bewegungen: In welcher Rate schlägt der Flügel im Vergleich zum Schwanz, wo schaut der Kopf dabei hin und wie viel Energie verbrauchen sie dabei?

Erstmals in der Geschichte kann dadurch ein ökologisches Gesamtbild des Planeten Erde gezeichnet werden: Über die Strecken, auf denen Zugvögel global reisen, über die Samen- kapseln, die sie dabei tausende Kilometer weit in andere Länder tragen, über Regionen, die die Tiere fluchtartig verlassen, weil sich eine Naturkatastrophe anbahnt.

über alle Kontinente hinweg zu verfolgen – in Echtzeit und 3D im Raum. „Der wesentliche wissenschaftliche Fortschritt ist, dass wir die gesamte Lebensgeschichte der Tiere erfah- ren“, führt Wikelski aus, „in all ihren Inter- aktionen mit ihrer Umwelt und mit anderen Tieren.“ Ökologische Netzwerke und Zusam- menhänge werden dadurch sichtbar werden.

Die vielen einzelnen Puzzleteile aus abertau- senden Tierbeobachtungen sollen dadurch zu einem Gesamtbild der ökologisch-evolutionä- ren Dynamik unseres Planeten zusammen- gelegt werden. „Wir werden dadurch Tiere und Menschen besser schützen können“, ist sich Wikelski sicher. Ein Frühwarnsystem, das Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche und Tsunamis anhand von ungewöhnlichem Tierverhalten identifiziert, hat er bereits patentieren lassen.

Die Herausforderungen dieser Technik finden auch in der technologischen Entwick- lung statt. Sender müssen noch kleiner und leichter werden, um Tiere in ihren Bewegun- gen nicht zu beeinträchtigen, und zugleich müssen sie mehr Umweltdaten erheben können. Schmetterlinge hat Martin Wikel- ski bereits besendert, demnächst möchte er in Zusammenarbeit mit dem Konstanzer Biolo- gen Prof. Dr. Giovanni Galizia auch Bienen mit Sendern ausstatten. Die Sender werden in den Wissenschaftlichen Werkstätten der Universi- tät Konstanz entwickelt. Vor allem in der Infor- matik spielt sich der technische Fortschritt der Tierbeobachtungen ab. Die Milliarden von Ein biologischer Schatz

„Es ist ein biologischer Schatz. Wenn wir das Verhalten der Tiere verstehen, können wir sehr viel mehr über unseren Planeten erfah- ren. Wir können über den kollektiven Sinn der Lebewesen die Welt verstehen“, erklärt Prof. Dr. Martin Wikelski, Professor für Phy- siologische Ökologie und Tierbewegungen an der Universität Konstanz und Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie am Standort Radolfzell. Dass dieses Wissen nötig, ja sogar lebensnotwendig für den Menschen ist, davon ist Martin Wikelski tief überzeugt:

„Weil wir das Leben auf dem Planeten nicht wirklich verstehen. Wir haben innerhalb der vergangenen 20 Jahre in Europa rund 500 Mil- lionen Singvögel verloren, und es weiß nie- mand genau, wo sie geblieben sind. Wir stehen da vor einem großen Rätsel, was das Leben auf der Erde macht.“ Dieses Rätsel will Martin Wikelski aufklären. Aber nicht allein, sondern vereint mit einer internationalen Forschungs- gemeinschaft, die weltweit Tiere mit Sendern ausstattet, deren Daten auswertet und analy- siert. Was sie zusammenbringt ist modernste Sendertechnik und eine internationale Daten- bank, die Martin Wikelski gegründet und mit dem Kommunikations-, Informations-, Medi- enzentrum (KIM) sowie der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Daniel Keim etabliert hat: Movebank – jene Datenbank, die all die Senderdaten von Tieren auf der ganzen Welt sammelt und in Echtzeit abbildet. Sie ist der Ausgangspunkt für eine neue Dekade der Forschung, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Nationen das Leben in allen Erdteilen ver- folgen und eine neue Karte der Welt zeichnen:

Die Karte der Tierbewegungen.

Drei Dinge sind dafür notwendig: „Erstens müssen wir die Tiere als Kollektiv verstehen:

Weil Lebewesen niemals alleine agieren – das wissen wir durch die Forschung von Prof. Iain

Daten, die von den Sendern erhoben werden, müssen durch neue Algorithmen analysiert, visualisiert und verstehbar gemacht werden.

Biologen arbeiten hierfür Hand in Hand mit Informatikern.

Eine goldene Ära

„Die Kombination, die wir jetzt in Konstanz haben, ist weltweit einzigartig“, stellt Wikelski heraus. Das von ihm geleitete Max-Planck- Institut für Ornithologie in Radolfzell wurde jüngst um eine zweite Abteilung ergänzt, geleitet von Prof. Iain Couzin, dessen For- schung zu Schwarm- und Kollektivverhal- ten international führend ist (siehe auch For- schungsgeschichte S. 8). Ihre Arbeit wird unterstützt durch den Konstanzer Fachbereich Informatik und Informationswissenschaft, der einen Schwerpunkt auf die Analyse und Visua- lisierung großer Datenmengen – wie zum Bei- spiel komplexe Bewegungs- und Umweltdaten von Tiersendern – setzt. Die Wissenschaft- lichen Werkstätten der Universität Konstanz zählen auf dem Gebiet des Baus von Miniatur- sendern für Tiere zu den international füh- renden. Nach dem Start von ICARUS, voraus- sichtlich im Jahr 2016, wird 2017 zudem das internationale Biologging Science Symposium in Konstanz stattfinden.

Für Martin Wikelski bildet dies den Auf- takt für eine neue Dekade der Tierökologie.

„Es liegt in der Luft: Es ist eine goldene Ära dieser Forschung.“

| gra.

Globale Haustiere

Die Positionsdaten der besenderten Tiere stehen nicht allein der Wissenschaft zur Verfügung, sondern jedermann. Mit dem Animal Tracker lassen sich die Routen von Wildtieren sogar mit dem Handy abrufen – kostenlos, in Echtzeit, weltweit. Der Animal Tracker ist eine App, die von Martin Wikelskis Team entwickelt wurde. Sie ruft die GPS-Positionsdaten der Sender, die an Wildtieren angebracht worden sind, ab und zeigt sie auf einer Karte auf dem Handy an. Dadurch können Bürgerinnen und Bürger aktiv an den Wildtier-Forschungsprojekten teilnehmen: Über den Animal Tracker können sie Wildtiere in ihrer Umgebung ausfindig machen. Beobachtungen und Fotos der beob- achteten Tiere können wiederum über den Animal Tracker direkt in die Forschungs- datenbank hochgeladen werden.

„Wir wollen die Bürger als Wissenschaftler einbinden“, erklärt Martin Wikelski.

„Der Animal Tracker macht eine direkte Informationsverbindung zwischen Tier und Mensch möglich. Wir wollen, dass die Menschen dadurch eine Beziehung zu den Wild- tieren bekommen – sie werden im Prinzip zu globalen Haustieren.“ Martin Wikelski hofft, dass die Wissenschaft durch die Einbindung der Bürger Informationen erhält, die sie sonst nicht ermitteln könnte. „Wenn zum Beispiel ein besenderter Storch aus- findig gemacht wird, helfen uns Beobachtungen wie: Wie viele andere Störche, die keine Sender tragen, sitzen mit ihm noch auf der Wiese? Welche weitere Arten gibt es dort? Warum genau ist der Storch in der Gegend? Hat ein Landwirt vielleicht etwas Besonderes angepflanzt, das ihn anlockte?“, erläutert Wikelski.

Der Animal Tracker wurde als Citizen Science-Projekt des Wissenschaftsjahres 2014 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgezeichnet.

Mit moderner Technologie auf den Spuren der weltweiten Tierwanderungen:

Prof. Dr. Martin Wikelski (oben, unten links) ist seit 2008 Professor für Physiologische Ökologie und Tierbewegungen an der Universität Konstanz und Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie am Standort Radolfzell.

Mit Pinzette wird ein Sender an einem Monarchfalter angebracht.

„Es liegt in der Luft:

Es ist eine goldene Ära dieser Forschung.“

Prof. Dr. Martin Wikelski

„Wir werden dadurch Tiere und Menschen besser

schützen können.“

Prof. Dr. Martin Wikelski Titel

Das Leben verstehen

(3)

Das Kollektiv verstehen

Prof. Iain Couzin analysiert, wie Informationen in Schwärmen weitergegeben werden Titel

Das Kollektiv verstehen

(4)

Die Wüstenheuschrecke ist an sich ein eher unscheinbares Tier: Etwa sieben Zentimeter lang, nur zwei Gramm schwer, lebt einzel- gängerisch. Kommt jedoch eine kritische Masse ihrer Artgenossen zusammen, verändert sich ihr Verhalten signifikant: Die Wüstenheuschre- cken gleichen ihr Verhalten aneinander an, bilden Schwärme von vielen Millionen Tieren und beginnen zu wandern. Sie bedecken dabei ganze Landstriche von teils mehreren hun- dert Quadratkilometern. Über diese komplette Fläche hinweg bewegen sie sich in erstaunlich perfekter Koordination, ohne auch nur in der Richtung abzuweichen.

„Ich bin fasziniert von dieser Spezies: Was treibt dieses kollektive Bewusstsein an? Wie schaffen sie es, über Meilen hinweg ihre Bewe- gungen zu koordinieren?“, fragt Prof. Iain Couzin. Der Biologe kam im Februar 2015 von der Princeton University, USA, an die Universität Konstanz, trat die Konstanzer Professur für Bio- diversität und Kollektivverhalten an und leitet die neu gegründete zweite Arbeitsgruppe des Max-Planck- Instituts für Ornithologie in Radolf- zell mit dem Schwerpunkt Kollektivverhalten.

Iain Couzins Forschung zu Kollektivverhalten ist

tun“, führt Couzin aus. „Anfangs dach- ten wir, dass sie miteinander kooperieren.

Dass sie Schwärme bilden, weil es zum Bei- spiel dabei hilft, Nahrung zu finden. Durch puren Zufall fanden wir heraus, dass dies der falsche Denkansatz war.“ In einem Ver- suchsaufbau mit Heuschrecken musste Couzin wiederholt feststellen, dass die Zahl der Heuschrecken auf geradezu mysteri- öse Art kleiner wurde. „Ich habe zunächst geglaubt, dass ich verrückt geworden bin oder nicht zählen kann. Als wir dann aber die Videos überprüften, konnten wir fest- stellen, dass sich die Heuschrecken gegen- seitig beißen und verletzen. Manchmal fres- sen sie sich gegenseitig komplett auf. Diese sogenannten ‚vegetarischen Insekten’ sind in Wirklichkeit hochgradig kannibalistisch.“

weltweit führend. Sie beschränkt sich nicht auf Heuschrecken und Vogelschwärme, Schwarm- fische und Tiergruppen aller Art. „Auch unsere Körper sind ein Kollektiv aus Zellen, unsere Gehirne ein Kollektiv aus Neuronen. Nicht zuletzt sind Menschen mengen Kollektive, in denen Menschen Emotionen und Verhaltenswei- sen aufeinander übertragen. Tagtäglich beein- flussen wir unbewusst das Verhalten unserer Mitmenschen“, zeigt Couzin auf.

Ob Tier, ob Mensch, ob Zellen – die Leit- frage seiner Forschung ist dieselbe: „Ich möchte die Mechanismen verstehen, wie Infor- mationen in Gruppen weitergegeben werden und wie Schwärme kollektive Entscheidun- gen treffen. Ich will in den Schwärmen das unsichtbare Netz der Kommunikation sicht- bar machen.“

Die Technologie der Kollektivforschung Iain Couzin setzt neueste Technologie ein, um Tierschwärme zu beobachten. Tierbeob- achtungen per Miniatursender, Schall und Infrarotlicht sind erst der Anfang: Er lässt Drohnen ganze Canyons in 3D aufzeichnen, um die Bewegungsmuster von Tiergruppen darin sichtbar zu machen. Auf dem Rücken von Ameisen bringt er Barcodes an, um ihre Bewegungen automatisiert aufzuzeichnen. Er bringt Software zum Einsatz, die jedes ein- zelne Individuum eines Fischschwarms nach- verfolgen kann und deren Sichtfelder re kon- struiert, um auf diese Weise das Netzwerk ihrer Bewegungen und Interaktionen sicht- bar zu machen. Er gaukelt Fischschwärmen virtuelle Beutetiere vor, um die Reaktionen des Schwarms zu testen, und überblendet somit reale Situationen mit Simulationen. Aktuell

Die Forscher überprüften daraufhin das Verhalten von Heuschrecken, die keine Bisse spüren konnten. Das überraschende Ergeb- nis: Sie hatten zugleich die Fähigkeit verloren, einen koordinierten Schwarm zu bilden. „Das Schwarmverhalten von Wüstenheuschrecken ist weit davon entfernt, kooperativ zu sein“, zieht Couzin sein Fazit. „Es ist ein gezwunge- ner Marsch: Wer anhält, wird gefressen.“

Wie trifft ein Schwarm Entscheidungen?

Natürlich müssen Schwärme nicht per se so unbarmherzig sein, um Erstaunliches zu voll- bringen. Viele Fischarten bilden kooperative Schwärme von beträchtlicher Größe, die für ihre grazilen und eleganten Bewegungsmuster bekannt sind. Iain Couzin erforscht auch die Entscheidungsfindung innerhalb dieser Fisch- schwärme: Hunderte, teils tausende von Ein- zeltieren, ein jedes nimmt andere Punkte aus seiner Umgebung war, hat somit einen anderen Wissensstand als seine Gefährten und peilt andere Ziele an. Wie schafft es der Schwarm dann dennoch, so zielstrebig und wie ein ein- heitliches Bewusstsein zu navigieren? Wie trifft ein Schwarm Entscheidungen?

Iain Couzin analysiert, wie bereits durch die Position und Bewegung der Tiere treibt er hierfür die Entwicklung von 3D- Holo-

grammen voran.

Tierverhalten analysiert Couzin nicht nur unter Laborbedingungen, sondern auch in freier Wildbahn, teils über viele Kilo meter hinweg. Dabei macht er erstaunliche Ent- deckungen. Zum Beispiel bei den genannten Wüstenheuschrecken.

Die Physik eines Heuschreckenschwarms

„Biologen haben schon seit Jahren ein sehr genaues Verständnis davon, wie eine ein- zelne Heuschrecke funktioniert: Ihr Körper, ihre Sinne, ihr Nervensystem. Doch zu er for- schen, wie sie miteinander inter agieren – das ist etwas, was sehr viel weniger verstanden ist“, macht Iain Couzin deutlich. Ihn ver- blüffte, wie perfekt synchronisiert Heuschre- ckenschwärme ihre Bewegung koordinieren können: Nicht nur auf wenigen Metern – die identische Ordnung kann über viele Kilometer hinweg aufrechterhalten werden. „Wir haben eine mathematische Analogie zwischen der Bewegung von Heuschreckenschwärmen und Ordnungsprinzipen aus der Teilchenphysik gefunden. Die Bewegung von Heuschrecken kann als eine Art ‚fließendes magnetisches System‘ beschrieben werden. Ihre Körper rich- ten sich aneinander wie magnetische Partikel aus – jedoch nicht räumlich fixiert wie bei einem Magneten, sondern in einem fließen- den System“, erläutert Couzin.

Wer anhält, wird gefressen

„Die Physik-Analogie half uns zu verste- hen, wie lokale Ordnungen auf große Distan- zen ausgeweitet werden können. Sie erklärt aber noch nicht, warum Heuschrecken dies

Informationen weitergetragen werden. Wel- chen Einfluss hat die Positionsänderung eines Fisches auf den gesamten Schwarm? Wie wird wiederum das Verhalten eines Fisches durch die ihn umgebenden Schwarmtiere beein- flusst?

Ändert ein Tier zum Beispiel seine Bewe- gungsrichtung oder schwimmt plötzlich lang- samer, so hat dies Auswirkungen auf die Tiere neben und hinter sich, die ausweichen müssen – wie bei der Staubildung auf der Autobahn.

Aus dem Netzwerk der vielen einzelnen Positi- onsänderungen ergibt sich eine Entscheidung des Schwarms, wohin er sich bewegt. Die Ent- scheidungsfindung kommt durch ein emerge- tes System zustande, so Couzin: Sie bildet sich spontan heraus aus dem motorischen Zusam- menspiel der einzelnen Tiere – und das in einer Geschwindigkeit, die das Individuum überfor- dern würde. Der Schwarm ist somit effekti- ver als seine Individuen. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Robotik übertrug Iain Couzin diesen „Algorithmus“ der Fisch- schwärme auf miteinander interagierende Roboter. Mit dem Ergebnis, dass sich deren Koordination signifikant verbesserte.

| gra.

„Auch unsere Körper sind ein Kollektiv aus Zellen, unsere Gehirne

ein Kollektiv aus Neuronen.“

Prof. Iain Couzin

„Die Bewegung von Heuschrecken kann als eine Art ‚fließendes magnetisches System‘ beschrieben werden.“

Prof. Iain Couzin

„Was treibt dieses kollektive Bewusstsein an? Wie schaffen sie es, über Meilen hinweg ihre Bewegungen zu koordinieren?“

Prof. Iain Couzin

„Es ist ein gezwungener Marsch: Wer anhält,

wird gefressen.“

Prof. Iain Couzin

Prof. Iain Couzin ist Professor für Biodiversität und Kollektivverhalten an der Universität Konstanz. Zugleich leitet er am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell die Abteilung für Kollektivverhalten. Zuvor hatte Couzin an der University of Princeton, USA, eine Professur am Department of Ecology and Evolutionary Biology inne.

Titel

Das Kollektiv verstehen

(5)

Nie zuvor konnten Tiere so gut beobach- tet werden wie durch die heutigen Techno- logien zur Positionsbestimmung – zum Bei- spiel durch GPS. Nie zuvor wurden aber auch so immense Datenmengen erhoben, dass sie für den Tierbeobachter nicht mehr zu bewäl- tigen sind. Es kommen fürwahr viele Daten zusammen, wenn ein Vogelflug per Sender aufgezeichnet wird. Noch mehr Daten werden es, wenn die Bewegung ganzer Schwärme an Zugvögeln nachverfolgt wird. Völlig unüber- blickbar werden die Daten spätestens dann, wenn nicht nur Positionsdaten der Tiere im 3D-Raum vorliegen, sondern zugleich auch noch Umgebungsdaten hinzukommen:

Windrichtung und -geschwindigkeit, örtliche Vegetation, Niederschlag, nicht zuletzt auch Körperdaten wie der Herzschlag der Tiere.

Das Ergebnis sind viele Gigabyte an Daten.

Wenn schon ein einzelner dieser Datensätze für den Menschen nicht mehr überschaubar ist, wie sollen dann viele tausende dieser Daten- sätze sinnvoll miteinander in Zusammenhang gebracht werden? Die Lösung bietet die Infor- matik mit neuen Methoden der visuellen Ana- lyse großer Datenmengen.

„Mit den Tierbewegungsdaten haben wir multidimensionale, hochaufgelöste räum- lich-zeitliche Daten vorliegen, für die es keine einfache, klassische Visualisierungs- oder Analyse möglichkeit gibt“, berichtet Prof. Dr.

Daniel Keim, Professor für Datenanalyse und Visualisierung an der Universität Konstanz.

In enger Zusammenarbeit mit den Konstan- zer Biologen entwickelt er neue Analysewerk- zeuge, die automatische Algorithmen mit inter aktiven visuellen Verfahren kombinie- ren, um komplexe Daten möglichst effektiv und auf einen Blick verstehbar zu machen. Wo zuvor ein Wirrwarr an Zahlen war, ist nun eine Landkarte mit eingezeichneten Flugbahnen zu sehen. Weitere Datensätze wie Windbedin- gungen, Herz frequenz der Tiere oder Angaben zur ört lichen Vegetation lassen sich interaktiv mit der Karten visualisierung verknüpfen und stufen weise einblenden.

Das Rätsel der Galapagos-Albatrosse Die Stärke von Keims Verfahren ist genau diese Verknüpfung multipler Datensätze in ein und derselben Visualisierung, wodurch die Daten erst interpretierbar werden. Aus Posi- tionsdaten allein lässt sich das Verhalten der Tiere noch nicht verstehen. Warum beispiels- weise nehmen Galapagos-Albatrosse einen deutlich längeren Rückweg in Kauf, wenn sie von ihren Nistplätzen auf den Galapagos- Inseln zu den Fischgründen an der südame- rikanischen Küste fliegen? Auf dem Hinweg fliegen sie schnurstracks nach Osten an die peruanische Küste. Auf dem Rückweg fliegen sie hingegen zunächst eine Schleife von meh- reren hundert Kilometern nach Süden, bevor sie zu ihren Nistplätzen zurückkehren.

Aus den Positionsdaten heraus ist dieser Umweg nicht nachzuvollziehen. Auch geo- grafisches Wissen über den Humboldtstrom hilft nur bedingt weiter, dieser fließt näm- lich gegenläufig von Süden nach Norden. Erst die Verknüpfung mit weiteren Umgebungsda- ten kann das Rätsel lösen: Unter Einblendung der lokalen Windbedingungen zeigt sich auf der visualisierten Landkarte, dass die Vögel auf diese Weise den Rückenwind maximie- ren. Trotz eines Umwegs von vielen hundert Kilometern können die Albatrosse somit die Strecke mit einem insgesamt besseren Energiehaushalt bewältigen. Die Vögel flie- gen sogar nachts, um die Windbedingungen optimal auszunutzen.

Wichtig ist Daniel Keim das Zusammenspiel mit den Biologen. „Wir ermöglichen ihnen, anhand einer geeigneten visuellen Präsenta- tion und Analyse der Daten ihre Hypothesen zum Tierverhalten zu überprüfen und neue Hypothesen zu generieren. Im Gegenzug gibt uns ihre Arbeit neue Anstöße für unsere Algo- rithmen und Visualisierungen. Diese können dann optimiert und auf größere Datenmengen angewendet werden“, erklärt Keim.

Zudem ermöglicht nur die Zusammenarbeit mit den Biologen, Fehler zu vermeiden und das Tierverhalten richtig einzuschätzen. „Schließ- lich liegen uns unvollständige Daten vor, da die Vögel zum Beispiel auch mit unbesender- ten Tieren interagieren“, verdeutlicht Keim:

„Wenn zum Beispiel ein Raubvogel den Weg kreuzt, ändert das die Flugroute. Den Zusam- menhang kann der Computer anhand der vor- liegenden Daten nicht verstehen. Das kann nur der Experte deuten, der Wissen über die entsprechende Spezies hat.“

| gra.

Prof. Dr. Daniel Keim ist Professor für Datenanalyse und Visualisierung an der Universität Konstanz. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Datenbanken, Data Mining sowie die visuelle Analyse großer Datenmengen.

Die Daten verstehen

Mit visueller Datenanalyse interpretiert Prof. Dr. Daniel Keim große Datenmengen und gibt ihnen ein Gesicht

„Mit den Tierbewegungs- daten haben wir multi- dimensionale, hochaufgelöste

räumlich-zeitliche Daten vorliegen, für die es keine

einfache, klassische Visualisierungs- oder Analysemöglichkeit gibt.“

Prof. Dr. Daniel Keim

Von den Galapagos-Inseln aus (links oben) fliegen Albatrosse zu den Fischgründen an der Küste Perus (rechts im Bild, mittig). Auf ihrem Rückweg fliegen sie jedoch zunächst an der Küste entlang mehrere hundert Kilometer nach Süden, um von dort aus den Rückflug über das Meer anzutreten. Die Färbung der Pfeile zeigt jeweils die Stärke des Rückenwinds an.

Titel

Die Daten verstehen

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Jeder Mitarbeiter, der bereit ist, sich vorzeitig pensionieren zu lassen, schafft im Prinzip eine Stelle für einen Jüngeren oder verhindert, dass man einem Jüngeren künden muss,

3. Punkte einreichen: Jedes Mal, wenn Moritz wieder Punkte eingesammelt hat, reicht er diese schnell und unkompliziert über die DAK App ein und hat so immer seinen Punktestand

Wenn du dich näher für die Akaflieg interessierst kontaktiere doch einfach Günther PichIer (Obmann der Akaflieg) oder mich, nähere Infos findest du auch auf unserer

Gilli, als Ärztin setzen Sie sich in der Praxis und im Nationalrat für die Kom- plementärmedizin ein.. Welche Art von Komplementärmedizin setzen Sie als

Martin Wikelski, Honorarprofessor an der Universität Konstanz und Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie, Radolfzell und Seewiesen, erhält den Max-Planck- Forschungspreis

Diese letztere Beobachtung kann die Hypothese aufgestellt, daß es sich um darauf hindeuten, daß die Stoffwechsel- eine Erhöhung des Stoffwechsels in den ein- erhöhung bei den

Vor einem doppeltem SS setzt man in aller Regel ein

Um wie viele Zentimeter müsste der Thunersee gesenkt werden, um ein Hochwasser wie im August 2005, während fünf Tagen aufnehmen zu können, wenn der neue Stollen und die