• Keine Ergebnisse gefunden

Untersuchung und Behandlung von Patienten mit Funktionsbeschwerden im Kausystem ein skandinavisches Modell

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Untersuchung und Behandlung von Patienten mit Funktionsbeschwerden im Kausystem ein skandinavisches Modell"

Copied!
16
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Untersuchung und Behandlung von

Patienten mit Funktionsbeschwerden im Kausystem – ein skandinavisches Modell

Fallbeispiele 2 – 5

Maja Gnauck, Martti Helkimo

(2)

Fall 2: Diskusverlagerung ohne Reposition

Anamnese

Eine 33-jährige Frau klagte seit ca. 2–3 Mo- naten über einen Schmerz in der rechten Kiefergelenksregion, ausstrahlend ins Ohr und in den Hals, sowie eine reduzierte Mundöffnung. Kein Ruheschmerz, doch geringer Bewegungs- und kurzzeitiger Be- lastungsschmerz. Der überweisende Arzt hatte sowohl Ohrenentzündung als auch Angina tonsillaris ausgeschlossen. Mehrere Jahre lang hatte die Patientin Kiefersperren und Knackgeräusche in beiden Kiefer- gelenken. Zum Zeitpunkt der Aufnahme- untersuchung war das linke Kiefergelenk beschwerdefrei. Sie berichtete über ein leichtes Ermüdungsgefühl in der rechten Wange. Hatte sehr selten Kopfschmerz.

Die Patientin schätzte ihre Beschwerden als

„ziemlich schwer“ein. Sie wusste, dass sie mit den Zähnen presste. Spannungen im Nacken und im Rückenbereich konnten auf- treten und sie erhielt Massage einmal im Monat.

Es lag eine deutliche Tendenz zur allgemei- nen Überdehnbarkeit der Gelenke vor. Der Patientin waren keine Traumata bewusst.

Klinischer Befund

Die Patientin konnte den Mund 38 + 3 mm öffnen. Bei der Mundöffnung sah man eine Deflektion nach rechts (5 mm). Die Lateral- exkursionen nach rechts und links betrugen zwischen 7 und 8 mm. Das rechte Kiefer- gelenk war sehr empfindlich für Belastung.

Bei der passiven Dehnung fühlte es sich im Kiefergelenk hart an, und es lag nur ein sehr kleines Endfeel vor. Wenige Kaumuskeln der rechten Seite waren auf Palpation emp- findlich. Die Okklusion war stabil in IKP und RKP (Tab.4).

Es fanden sich deutliche, aber mäßige Attriti- onsspuren an den Frontzähnen des Ober- und Unterkiefers, leichte Indentationen am Zungenrand sowie eine dünne Mukosaleiste in der linken Wange.

Diagnose, Behandlung und Prognose Auf der Grundlage der Anamnese und dem klinischen Bild wurde die Arbeitsdiagnose Diskusverlagerung ohne Reposition im rechten Kiefergelenk gestellt. Die Patientin wurde mit einer interokklusalen Schiene und Kieferübungen behandelt. Aufgrund der Zungenparafunktion wurde eine Shore- Platte (Abb.42) gewählt. Das Ziel war, das Kiefergelenksgewebe zu entlasten und somit die Empfindlichkeit des Kiefergelenks für Belastung zu reduzieren. Die Kiefer- übungen sollten einerseits eine bessere Ent- spannung der Kiefermuskulatur erreichen und andererseits die Koordination von Öff- nungs- und Schließmuskulatur verbessern.

Als Folge dessen wird dadurch im Normal- fall auch die Bewegungskapazität verbes- sert und der Schmerz gemindert. Da die Patientin während der Untersuchung keine Schmerzen hatte, wenn keine Funktion im Kausystem vorlag, wurde zu Beginn kein Me- dikament verschrieben.

Tabelle 4

Klinischer Befund bei der Aufnahmeuntersuchung aus Fall 2.

Muskulatur

Unterkieferbewegungen mm Schmerz rechts links

max. Mundöffnung 38 + 3 Ursprung des M. temporalis

Lateralexkursion rechts 7 Ansatz des M. temporalis +

Lateralexkursion links 7 M. masseter profundus +

max. Protrusion 8 Ursprung des M. masseter

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis

Palpationsempfindlichkeit lateral M. pterygoideus medialis

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis

Gelenkknacken M. digastricus +

Krepitation M. trapezius

Deflektion 5 mm nach rechts M. sternocleidomastoideus +

Muskelrosette im Nacken

(3)

Fall 2: Diskusverlagerung ohne Reposition

(Fortsetzung) Die Prognose, den Schmerz zu reduzieren

und die Mundöffnung zu verbessern, wurde als gut bewertet. Dass die Beschwerden schon einige Monate andauerten, dass meh- rere Jahre lang Kiefersperren und deutliches Gelenkknacken vorgelegen hatten und dass orale Parafunktionen sowie eine Tendenz zu einer allgemeinen Gelenküberdehnbarkeit vorlagen, verschlechterte aber die Prognose.

Kommentar/Diskussion

Da sich der Schmerz auch nach 2 Monaten regelmäßiger Schienenanwendung während der Nacht und Kieferübungen nicht nen- nenswert verbessert hatte, wurde die Be- fundaufnahme mit einer MRT‑Untersuchung der Kiefergelenke (Abb.43–45) ergänzt.

Diese bestätigte die Diagnose Diskusver- lagerung ohne Reposition im rechten Kiefer- gelenk, zeigte aber darüber hinaus auch Hartgewebsveränderungen sowie eine erhöhte Menge Flüssigkeit im Kiefergelenk.

Die Befunde sprachen für eine Arthrose mit sekundärer Arthritis. Deshalb wurde ein ent- zündungshemmendes Medikament, NSAID (Diclofenac 50 mg × 3), für 10 Tage ver- schrieben. Es reduzierte den Schmerz deut- lich und die Mundöffnung wurde als verbes- sert empfunden. Die Patientin setzte die Anwendung der Schiene und die Kieferübun- gen fort und war nach 7 Monaten Behand- lung vollständig beschwerdefrei (Tab.6). Die maximale Mundöffnung verbesserte sich auf 42 + 3 mm und die Lateralexkursionen auf zwischen 9–10 mm (Tab.5). Die Empfind- lichkeit der Kaumuskulatur auf Palpation war vollständig verschwunden.

Abb.42 Modifizierte Shore-Platte ohne Klammern, in situ.

Abb.43 MRT‑Untersuchung des rechten Kiefer- gelenks, geschlossener Mund. Der Pfeil markiert den Diskus.

Abb.44 MRT‑Untersuchung des rechten Kiefer- gelenks, geöffneter Mund.

Abb.45 MRT‑Untersuchung des rechten Kiefergelenks, Frontalschnitt.

Der Pfeil markiert die laterale Diskusverlagerung.

Abb.41 Deflektion nach rechts.

(4)

Fall 2: Diskusverlagerung ohne Reposition

(Fortsetzung)

Tabelle 5

Klinischer Befund bei der Abschlussuntersuchung aus Fall 2.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 42 + 3 Ursprung des M. temporalis

Lateralexkursion rechts 10 Ansatz des M. temporalis

Lateralexkursion links 9 M. masseter profundus

max. Protrusion 9 Ursprung des M. masseter

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis

Palpationsempfindlichkeit lateral M. pterygoideus medialis

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis

Gelenkknacken M. digastricus

Krepitation M. trapezius

Deflektion M. sternocleidomastoideus

Muskelrosette im Nacken

Tabelle 6

Die Einschätzung der Beschwerden durch die Patientin von der Aufnahme- bis zur Abschlussuntersuchung aus Fall 2.

Datum Oktober Januar März Juni

1. keine/unbedeutend x

2. leicht x

3. mittelschwer x

4. ziemlich schwer x

5. sehr schwer

(5)

Fall 3: Diskusverlagerung mit Reposition

Anamnese

56-jähriger Mann mit langjährigen und fre- quenten Knackgeräuschen, Kiefersperren und Ermüdungsgefühl in beiden Kiefer- gelenken. Wenn er aus der Interkuspida- tionsposition (IKP) (Abb.46) heraus den Mund öffnete, verspürte er Spannungen im Kopf, von den Kiefergelenken in die Schläfen ausstrahlend. Um ein Gelenkknacken zu verhindern und den Mund weiter öffnen zu können, führte er den Unterkiefer während der Öffnungsbewegung nach vorn. Diese Unterkieferposition fühlte sich für ihn be- quemer an. Sie resultierte jedoch in einer Aufhebung der Kontakte in den Seitenzahn- bereichen, und er konnte in dieser Unter-

kieferposition nicht kauen, was ihn sehr be- kümmerte. Wenn er„falsch zusammenbiss“, das heißt in IKP, hatte er das Gefühl einer Kiefersperre. Die Frequenz der Kiefersperren hatte während der letzten Jahre zugenom- men. Ermüdungsgefühl in der Kaumuskula- tur und Stirnkopfschmerz kamen 1–2-mal im Monat vor. Er bewertete seine Beschwer- den als„ziemlich schwer“. Ihm waren keine oralen Parafunktionen bewusst. Manchmal konnten Nackensteifheit und Rückenschmer- zen (Spannungsgefühl im Lumbalbereich) auftreten. Eine Tendenz zur allgemeinen Überdehnbarkeit der Gelenke (Abb.47,48) wurde notiert. Er schlief in Rücken- und Seitenlage.

Klinischer Befund

Während der Untersuchung wurde eine gute Beweglichkeit des Unterkiefers ge- messen. Während der max. Mundöffnung traten Schmerzen in beiden Kiefergelenken auf, ausstrahlend in die Schläfenregion.

Beide Kiefergelenke waren druckdolent.

Das bilaterale Kiefergelenkknacken wurde als reziprok bewertet. Die Kaumuskulatur der rechten Seite war palpationsempfind- lich (Tab.7). Bezüglich der Okklusion wurde ein Distalbiss mit einem Overjet von 6 mm (Regio 21/31) und bilaterale Kontakte in RKP mit einem sagittalen und vertikalen RKP‑IKP‑ Abstand von jeweils einem Millimeter registriert. Attrition fand sich vor allem im

Abb.46 abisf a–cInterkuspidationsposition, Frontal- und Lateralansicht.d–f Protrudierte Unterkieferposition, Frontal- und Lateralansicht.

Abb.47 Überdehnbarkeit der Gelenke an den Fingern, hier der Daumen. Abb.48 Überdehnbarkeit der Gelenke an den Fingern.

(6)

Fall 3: Diskusverlagerung mit Reposition

(Fortsetzung) Frontzahn- und Prämolarengebiet. Mukosa-

leisten waren in beiden Wangen vorhanden.

Diagnose, Behandlung und Prognose Die Anamnese und die klinischen Befunde sprachen für eine Diskusverlagerung mit Reposition sowohl im rechten als auch im linken Kiefergelenk. Eine Behandlung mit verschiedenen Kieferübungen mit dem Ziel, die Intensität des Gelenkknackens zu mildern und die Tendenz zur Kiefersperre zu elimi- nieren, war denkbar. Es wurde jedoch einge- schätzt, dass das Gelenkknacken mit großer Wahrscheinlichkeit nicht beseitigt werden könnte. Dies vor allem aufgrund der langen Symptomdauer und der generellen Über- dehnbarkeit der Gelenke. Der Distalbiss zusammen mit der großen sagittalen Front- zahnstufe verschlechterte die Prognose zusätzlich. Ein weiterer Faktor, der die Ge- samtprognose unsicher machte, war die ständige Fokussierung des Patienten auf

sowohl Kiefergelenksbeschwerden als auch Okklusion.

Kommentar/Diskussion

Initial wurde der Patient 6 Wochen lang mit Kieferübungen behandelt. Da dies keinen Effekt auf die Beschwerden hatte, wurde die Behandlung mit einer Stabilisierungsschiene komplettiert, die nach relativ kurzer Zeit zu einer mandibulären Positionierungsschiene (Abb.49zeigt ein Beispiel) umgearbeitet wurde. Diese eliminierte die Tendenz zur Kiefersperre und der Patient wurde nicht mehr so stark vom Gelenkknacken gestört.

Beim Zusammenbeißen empfand der Patient nun lediglich Zahnkontakt auf der rechten Seite und gleichzeitig Schmerz im linken Kie- fergelenk, ausstrahlend in die linke Schläfe.

Klinisch konnten deutliche RKP‑Interferen- zen, ein RKP‑IKP‑Abstand von sagittal 2 mm, vertikal 1,5 mm und eine deutliche Führung des Unterkiefers nach links (2,5 mm) regis-

triert werden (Abb.50,51). Eine Probera- dierung im Artikulator zeigte, dass ein se- lektives Einschleifen die okklusale Stabilität des Gebisses erheblich verbessern könnte.

Durch das anschließend durchgeführte selektive Einschleifen wurde der RKP‑IKP‑ Abstand in sagittaler Richtung auf 1 mm reduziert, und das horizontale Gleiten wurde fast vollständig eliminiert. Sowohl in RKP

Tabelle 7

Klinischer Befund bei der Aufnahmeuntersuchung aus Fall 3.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 45 + 5 beide Kiefergelenke,

Schläfen

Ursprung des M. temporalis +

Lateralexkursion rechts 14 Ansatz des M. temporalis +

Lateralexkursion links 16 M. masseter profundus +

max. Protrusion 9 Ursprung des M. masseter +

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis +

Palpationsempfindlichkeit lateral + + M. pterygoideus medialis

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis +

Gelenkknacken + + M. digastricus

Krepitation M. trapezius

Deflektion nach rechts M. sternocleidomastoideus

Muskelrosette im Nacken

Abb.49 Beispiel für eine mandibuläre Positio- nierungsschiene. Die anteriore schiefe Ebene führt den Unterkiefer beim Schließen in eine pro- trudierte Position.

(7)

Fall 3: Diskusverlagerung mit Reposition

(Fortsetzung) als auch in IKP wurden bilaterale Kontakte

mit mehreren Zahnpaaren auf jeder Seite erhalten.

Bei Abschluss der Behandlung war weiterhin ein deutliches Knacken im rechten Kiefer- gelenk vorhanden, es traten jedoch keine Kiefersperren mehr auf. Das Ermüdungs- gefühl der Kaumuskulatur war verschwun- den (Tab.8).

Über die o. g. Behandlungsalternativen hinaus waren auch Diskektomie und pro- thetische Versorgung mit dem Patienten diskutiert worden. Er hatte sich Kronen in den Seitenzahnpartien gewünscht, um den Zwischenraum, der in dieser Region durch die Protrusion des Unterkiefers entstand, zu schließen. Nach unserer Auffassung war dies jedoch keine Behandlungsmethode, die zahnärztlich vertretbar war.

Abb.51 aundb RKP. RP‑IP‑Abstand sagittal 2 mm, vertikal 1,5 mm, Seitswärtsführung nach links 2,5 mm.

Abb.50 aundb Interkuspidationsposition (IKP).

Tabelle 8

Klinischer Befund bei der Abschlussuntersuchung aus Fall 3.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 53 + 5 Ursprung des M. temporalis +

Lateralexkursion rechts 12 Ansatz des M. temporalis + (+)

Lateralexkursion links 18 M. masseter profundus +

max. Protrusion 12 Ursprung des M. masseter

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis

Palpationsempfindlichkeit lateral + M. pterygoideus medialis

Palpationsempfindlichkeit posterior + M. pterygoideus lateralis + +

Gelenkknacken + M. digastricus

Krepitation M. trapezius (+)

Deflektion M. sternocleidomastoideus

Muskelrosette im Nacken

(8)

Fall 3: Diskusverlagerung mit Reposition

(Fortsetzung) Beim Kontrolltermin 1,5 Jahre später ging

es dem Patienten unverändert gut. Die kli- nische Untersuchung bestätigte, dass das gute Behandlungsergebnis weiterhin be- stand. Der Patient benötigte keine Schiene und schätzte seine Beschwerden jetzt als unbedeutend ein (Tab.9).

Der Patient hat immer die Möglichkeit, mit der Abteilung Kontakt aufzunehmen. Die mandibuläre Positionierungsschiene könnte bei Bedarf wieder zu einer Stabilisierungs- schiene umgearbeitet werden.

Tabelle 9

Die Einschätzung der Beschwerden durch den Patienten von der Aufnahme- bis zur Abschlussuntersuchung aus Fall 3.

Datum November Juni Dezember April

1. keine/unbedeutend

2. leicht x x

3. mittelschwer x

4. ziemlich schwer x

5. sehr schwer

(9)

Fall 4: Arthrose im Kiefergelenk, Kopfschmerz

Anamnese

Ein 49-jähriger Mann wurde vom Allgemein- arzt zur Behandlung einer vermuteten rechtsseitigen Kiefergelenksarthrose über- wiesen. Diese hatte durch Röntgenunter- suchungen (transkraniale Projektion, und Panoramaschichtaufnahme, Abb.52–54) nicht ausgeschlossen werden können. Er be- richtete von Ruhe- und Bewegungsschmerz im rechten Kiefergelenk seit ca. einem Jahr.

Der Schmerz war vor allem in den Morgen- stunden ausgeprägt und nahm während des Tages ab. Das linke Kiefergelenk war be- schwerdefrei. Die Mundöffnung erlebte der Patient nicht als eingeschränkt, es konnte jedoch manchmal das Gefühl eines„Hinder- nisses“im rechten Kiefergelenk auftreten.

Ermüdungsgefühl in den Kiefern trat seit einigen Jahren mehrere Male in der Woche auf, Schläfen- und Stirnkopfschmerz am Morgen einmal in der Woche.

Aufgrund von vor allem Morgenschmerzen in sowohl Gelenken als auch Muskeln hatte der Patient die Diagnose Polymyalgia rheumatica erhalten und nahm deshalb Kortison ein (5 mg). Der Patient selbst und sein All- gemeinarzt waren allerdings nicht von der Diagnose überzeugt, weshalb man plante, die Kortisondosis zu reduzieren. Ca. 2,5 Mo- nate vor der Erstuntersuchung hatte der Pa- tient die Einnahme von Antidepressiva abge- schlossen und gab an, dass es ihm gut ging.

1980 war der Unterkiefer chirurgisch nach anterior verlagert worden. Im Zuge dessen wurden mehrere Prämolaren und Molaren mit prothetischen Restaurationen versorgt.

Der Patient berichtete über eine Vielzahl frakturierter Füllungen, Zähne und kera- mischer Kronen. Er erklärte sich dies mit stressbedingtem Zähneknirschen während der 90er-Jahre. Er war jedoch der Meinung, nun keine oralen Parafunktionen mehr aus- zuführen. Er hatte früher verschiedene inter- okklusale Schienen gehabt, die er doch in den letzten Jahren nicht mehr verwendet hatte.

Der Patient ist selbstständig und übt mehrere verschiedene Tätigkeiten aus.

Abb.53 Transkraniale Projektion des rechten Kiefergelenks bei offenem Mund.

Abb.52 Transkraniale Projektion des rechten Kiefergelenks bei geschlossenem Mund.

Abb.54 Panoramaschichtaufnahme.

Klinischer Befund

Bei Palpation war das rechte Kiefergelenk empfindlich. In beiden Kiefergelenken wur- den Krepitationen notiert. Die Kau- und Na- ckenmuskulatur war empfindlich auf Palpa- tion, etwas deutlicher auf der rechten Seite (Tab.10). Bei der Untersuchung der Okklu- sion wurden eine RKP‑Interferenz Regio 23/35 und okklusale Facetten festgestellt.

Zahnabdrücke auf der Unterlippe (Abb.4), Indentationen am Zungenrand und Mukosa- leisten (Abb.5) waren indirekte Zeichen für orale Parafunktionen.

Röntgenuntersuchung

Untersuchungen in transkranialer Projektion und mit Panoramaschichtaufnahme werden als unsichere Methoden für die Beurteilung eventueller Veränderungen im Kiefergelenk angesehen. In diesem Falle waren die Ver- änderungen jedoch so deutlich, dass der Verdacht schon bei Untersuchungen mit- hilfe dieser Techniken aufkam. Eine weitere Untersuchung mittels DVT (Abb.55,56) bestätigte die deutlichen Zeichen für Kiefer- gelenksarthrose. Darüber hinaus wurde ein freiliegendes Knochenfragment (Abb.55)

(10)

Fall 4: Arthrose im Kiefergelenk, Kopfschmerz

(Fortsetzung) diagnostiziert. Dieses könnte das Gefühl

eines„Hindernisses“im Kiefergelenk, welches manchmal während der Kiefer- bewegungen auftrat, erklären.

Diagnose, Behandlung und Prognose Die Symptome des Patienten waren sowohl arthrogener als auch muskulärer Natur.

Während der Untersuchung sprachen so- wohl die Anamnese als auch die Röntgen- untersuchung und der klinische Befund für eine Kiefergelenksarthrose, jedoch nicht für eine aktive Arthritis.

Aufgrund der deutlichen okklusalen Facetten und den verschiedenen Zahn- bzw. Füllungs- und Kronenfrakturen kam der Verdacht auf, dass der Patient immer noch bruxierte. Zu- dem wurden weitere indirekte Zeichen für orale Habits gefunden. Dies verschlechterte die Prognose sehr.

Abb.56 DVT‑Aufnahme des rechten Kiefer- gelenks, frontaler Schnitt.

Abb.55 DVT‑Aufnahme des rechten Kiefer- gelenks, Sagittalschnitt. Der Pfeil markiert das freiliegende Knochenfragment.

Tabelle 10

Klinischer Befund bei der Aufnahmeuntersuchung aus Fall 4.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 54 + 4 Ursprung des M. temporalis +

Lateralexkursion rechts 1 1 Ansatz des M. temporalis ++ +

Lateralexkursion links 7 M. masseter profundus +

max. Protrusion 10 Ursprung des M. masseter

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis + +

Palpationsempfindlichkeit lateral + M. pterygoideus medialis ++ +

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis ++ ++

Gelenkknacken M. digastricus ++ +

Krepitation + + M. trapezius + +

Deflektion nach rechts M. sternocleidomastoideus +

Muskelrosette im Nacken + +

(11)

Fall 4: Arthrose im Kiefergelenk, Kopfschmerz

(Fortsetzung) Zusätzlich lag eine allgemeine Schmerzpro-

blematik, sowohl in den Muskeln als auch in den Gelenken vor, die jedoch noch nicht voll- ständig diagnostiziert worden war. Eine Be- handlung mit einer entlastenden Aufbiss- schiene und Kieferübungen war indiziert. Die Prognose, den vorhanden Schmerz im Kau- system durch diese Behandlung zu reduzie- ren, wurde als gut eingeschätzt. Allerdings bestand das Risiko eines Rezidivs.

Kommentar/Diskussion

Die Behandlung wurde mit einer Stabilisie- rungsschiene im Oberkiefer begonnen und später mit einer Resilienzschiene im Unter-

kiefer ergänzt. Die Resilienzschiene kann während des Tages und beide Schienen zusammen (Abb.57) während der Nacht angewendet werden. Der Patient empfand die erhöhte vertikale Dimension als ange- nehm.

Beim Abschluss der Behandlung waren der Schmerz im Kiefergelenk und das Ermü- dungsgefühl in den Wangen verschwunden.

Der Patient nahm keine Kiefergelenk- geräusche wahr und Kiefersperren waren nicht vorgekommen. Er hatte Kopfschmer- zen an einem Tag in der Woche (Tab.11,12).

Tabelle 11

Klinischer Befund bei der Abschlussuntersuchung aus Fall 4.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 56 + 4 Ursprung des M. temporalis

Lateralexkursion rechts 10 Ansatz des M. temporalis ++ +

Lateralexkursion links 8 M. masseter profundus

max. Protrusion 8 Ursprung des M. masseter

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis + +

Palpationsempfindlichkeit lateral M. pterygoideus medialis

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis + +

Gelenkknacken M. digastricus

Krepitation + + M. trapezius

Deflektion M. sternocleidomastoideus

Muskelrosette im Nacken ++ ++

Abb.57 Stabilisierungsschiene im Oberkiefer in Kombination mit einer Resilienzschiene im Unter- kiefer.

(12)

Fall 4: Arthrose im Kiefergelenk, Kopfschmerz

(Fortsetzung)

Tabelle 12

Die Einschätzung der Beschwerden durch den Patienten von der Aufnahme- bis zur Abschlussuntersuchung aus Fall 4.

Datum Januar Mai August

1. keine/unbedeutend x

2. leicht

3. mittelschwer x x

4. ziemlich schwer

5. sehr schwer

(13)

Fall 5: Orofazialer Schmerz

Anamnese

Eine 71-jährige Frau litt seit 10 Jahren an einem pulsierenden und pressenden Schmerz im linken Oberkiefer, ausstrahlend in die linke Schläfe und das linke Auge („als ob das Auge herausgedrückt würde“).

Die Schmerzintensität schätzte sie als 6–8 auf einer numerischen Schmerzskala (0–10) ein.

Der Schmerz trat meist nachts auf, unab- hängig davon, ob sie eine Aufbissschiene verwendete oder nicht, und hielt zwischen 6–8 h an. Er nahm ab, wenn sie sich aufsetz- te und verschwand völlig, wenn sie Acetyl- salicylsäure einnahm. Er konnte jedoch wieder zurückkehren, nachdem sich die Pa- tientin wieder hingelegt hatte. Der Schmerz trat in mehreren aufeinanderfolgenden Nächten, bis zu einer Woche, jedoch häufiger als einmal im Monat auf. Beschwerdefreie Perioden dauerten bis zu 14 Tagen an.

Der Schmerz trat selten am Tage auf und die Patientin führte ihn dann darauf zurück, dass sie„komisch gesessen“hätte. Aufgrund des Schmerzes hatte sie vor 6–7 Jahren mehrere Aufbissschienen erhalten, und der Zahn 26 war extrahiert worden. Die Schmerzfrequenz (jedoch nicht die Intensität) nahm bei regel- mäßiger Schienenanwendung ab.

Als sie nach einer Operation Penicillin ein- genommen hatte, war sie vollständig be- schwerdefrei gewesen. Gleichzeitig hatte sie auf die Anwendung der Schiene verzichtet.

Als jedoch der Schmerz zurückkehrte, kam die Schiene wieder zum Einsatz. Harte Spei- sen zu kauen reduzierte die Beschwerden.

Tabelle 13

Klinischer Befund bei der Aufnahmeuntersuchung aus Fall 5.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 33 + 1 Ursprung des M. temporalis + +

Lateralexkursion rechts Ansatz des M. temporalis + ++

Lateralexkursion links 6 M. masseter profundus +

max. Protrusion 5 Ursprung des M. masseter

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis

Palpationsempfindlichkeit lateral (+) M. pterygoideus medialis +

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis + +

Gelenkknacken M. digastricus +

Krepitation + + M. trapezius + +

Deflektion nach rechts M. sternocleidomastoideus

Muskelrosette im Nacken

Abb.59 Interkuspidationsposition, Frontal- ansicht.

links

Abb.58 Die Patientin hat die Lokalisation des Schmerzes auf dem Anamneseformular einge- zeichnet.

(14)

Fall 5: Orofazialer Schmerz

(Fortsetzung) Die Patientin war vor vielen Jahren umfas- send von einem Schmerzarzt untersucht worden, sie konnte sich aber nicht an die ge- stellte Diagnose erinnern. Sie hatte damals Carbamazepin (Antiepileptikum) und Ami- triptylin (Antidepressivum) eingenommen, die jedoch nicht halfen. Zur Zeit des Erst- besuchs nimmt sie gegen den Schmerz bei Bedarf Acetylsalicylsäure und Paracetamol ein.

Die Patientin glaubte, dass ein Zusammen- hang zwischen den Beschwerden und der Aufbissschiene sowie dem Vollmond beste- hen könnte. Sie zweifelte stark daran, dass man die Ursache für die Beschwerden, die sie als„sehr schwer“einschätzte, finden und ihr helfen könnte.

Die rechte Gesichtshälfte war symptom- und beschwerdefrei.

Kiefergelenksschmerzen und Kiefersperre traten nicht auf, gelegentlich aber bilaterales Gelenkknacken.

Tabelle 14

Klinischer Befund bei der Abschlussuntersuchung aus Fall 5.

Unterkieferbewegungen mm Schmerz Muskulatur rechts links

max. Mundöffnung 35 + 1 Ursprung des M. temporalis

Lateralexkursion rechts 4 Ansatz des M. temporalis +

Lateralexkursion links 6 M. masseter profundus

max. Protrusion 6 Ursprung des M. masseter +

Kiefergelenk rechts links M. masseter superficialis

Palpationsempfindlichkeit lateral M. pterygoideus medialis

Palpationsempfindlichkeit posterior M. pterygoideus lateralis

Gelenkknacken M. digastricus

Krepitation + + M. trapezius +

Deflektion M. sternocleidomastoideus

Muskelrosette im Nacken

Abb.61 IKP, Seitenansicht links.

Abb.60 IKP, Seitenansicht rechts.

Abb.62 Oberkiefer, Draufsicht. Abb.63 Unterkiefer, Draufsicht.

(15)

Fall 5: Orofazialer Schmerz

(Fortsetzung) Die Patientin war sich keiner oralen Para-

funktion bewusst. Sie schlief auf der rechten Seite. Sie kann sich nicht an ein Trauma im Gesichts- oder Kieferbereich erinnern. Gele- gentlich kam es zu Spannungen in der Na- ckenmuskulatur. Die Großmutter der Patien- tin litt unter Rheumatismus.

Klinischer Befund

Die Beweglichkeit des Unterkiefers war ein- geschränkt. Die horizontalen Bewegungen konnten nicht oder nur mit Mühe ausgeführt werden. Das linke Kiefergelenk war etwas druckempfindlich. Krepitationen wurden in beiden Kiefergelenken notiert. Die Kau- und Nackenmuskulatur war beidseitig empfind- lich auf Palpation (Tab.13). Die Patientin wies ein reduziertes Gebiss mit einer Vielzahl von Füllungen und Kronen auf (Abb.59–63).

Der Zahn 25 war bukkal palpationsempfind- lich und deutlich traumatisiert in RKP/IKP.

RKP war schwer zu untersuchen. Es wurden eine Balanceseiteninterferenz 15/47, (evtl.

24/35?), Protrusionsinterferenzen 22/33, 15/47 und okklusale Facetten im gesamten Gebiss registriert.

Die Patientin war während der Aufnahme- untersuchung schmerzfrei, und der Schmerz konnte nicht durch Provokationstests initiiert werden.

Diagnose, Behandlung und Prognose Es stellte sich als kompliziert dar, die Symp- tome der Patientin zu deuten. Die Behand- lung begann deshalb mit der Entlastung des Zahnes 25, der in RKP/IKP deutlich traumati- siert war. Dass eine Überlastung des Zahnes zum Symptombild beitrug, konnte nicht aus- geschlossen werden. Nach der Justierung ist der Zahn 25 ohne Kontakt in sowohl IKP als auch RKP, die Patientin empfand die Okklu- sion als bequemer.

Es bestand der Verdacht auf einen unspezi- fischen orofazialen Schmerz.

Der Endodontologe nahm die Einschätzung vor, dass sowohl Anamnese als auch Klinik (der Zahn war vital) nicht dafür sprachen,

Abb.65 Hawley-Platte.

Abb.64 Keine periradikuläre Pathologie an Zahn 25, jedoch geringer marginaler Knochenverlust distal. Zahn 24 mit diffus abgegrenzter Lamina dura. Vertikale Knochentasche am Zahn 22 distal.

Diese radiologischen Funde sowie die Platzierung des Stiftes stehen nach der Auffassung des Endo- dontologen nicht in Beziehung zu den Beschwer- den des Patienten.

Abb.66 aundb Hawley-Platte in situ.a Frontalansicht.b Lateralansicht.

dass dieser Zahn oder Zahn 24 den Schmerz der Patienten verursachte. Die Röntgen- untersuchung bestätigte das (Abb.64). Zu diesem Zeitpunkt wurde die Prognose, die Schmerzen nur durch eine TMD‑Behandlung deutlich zu reduzieren als zweifelhaft/

schlecht eingeschätzt.

Kommentar/Diskussion

Eine der Aufbissschienen der Patientin wur- de so optimiert, dass sie nicht den Zahn 25 belastete. Einen Monat später waren Fre- quenz und Intensität des Schmerzes unver- ändert, die Schmerzdauer hatte jedoch ab- genommen. Der Patientin kam es so vor, als ob der Schmerz ausgelöst würde, wenn die Schiene sich nachts von den Zähnen löste.

Deshalb wurde diese gegen eine Hawley- Platte ausgetauscht (Abb.65,66).

Nachdem die Patientin die neue Schiene ca.

3 Monate lang angewendet hatte, berichte-

te sie über eine deutliche Schmerzreduzie- rung. Der Schmerz konnte gelegentlich morgens auftreten, ging aber, im Unter- schied zu früher, als er einen ganzen Tag lang anhalten konnte, nun innerhalb einer Stunde vorüber. Die Schmerzintensität war unverändert. Die Patientin meinte, 90 % des Schmerzes seien verschwunden und sie schätzte ihre Beschwerden nun als„leicht“ ein Tab.14,15).

Da die Hawley-Platte nicht als Langzeit- behandlung eingesetzt werden soll, war geplant, diese gegen eine Stabilisierungs- schiene auszutauschen. Die Patientin ver- band jedoch den Behandlungserfolg mit der Hawley-Platte und wollte sie behalten.

Deshalb empfahlen wir, die Platte weiterhin regelmäßig, allerdings nur während der Nacht, anzuwenden und die Kieferübungen regelmäßig zu trainieren.

(16)

Fall 5: Orofazialer Schmerz

(Fortsetzung)

Tabelle 15

Die Einschätzung der Beschwerden durch die Patientin von der Aufnahme- bis zur Abschlussuntersuchung aus Fall 5.

Datum Januar Juni November Januar

1. keine/unbedeutend

2. leicht x x x

3. mittelschwer

4. ziemlich schwer

5. sehr schwer x

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Für andere ist es eine ungewohnte Situation und sie benötigen noch mehr Erfahrung, um ebenfalls eine entspann- te Atmosphäre zu schaffen.. Im Interview zur Kommunikation mit

Für Patienten, bei denen die Erkrankung jedoch durch die verschiedenen Somatostatin-Analoga auch nicht ausreichend kontrolliert werden kann und ein erhöhter Blutzucker oder sogar

Hin- gegen sind Absetz- oder Rebound- Symptome, wie sie bei trizyklischen Antidepressiva oft als Ausdruck ei- ner cholinergen Supersensitivität aufgefaßt werden (6), nicht für eine

Cueni (1998) be- schreibt die Therapieziele von Patienten einer psychiatrischen Tagesklinik weniger im Hin- blick auf die Psychopathologie, als auf bestimmte Rehabilitationsachsen,

20 Kinder, 14 Buben und 6 Madchen wurden im Alter von durchschnittlich 8V2 Jahren (4 bis 14 Jahre) für die Dauer von durchschnittlich 4 Monaten (1 bis 12 V2 Monate) auf

Outcome of critically ill oldest-old patients (aged 90 and older) admitted to the intensive care unit. Journal of the American Geriatrics

13. Verkauf von Gutscheinen für Preise unter dem Nennwert III. Klarheit bei Gutscheinen und Geldkarten 1. Änderungen durch das JStG 2019 II. Gebühren für das Aufladen der

Nach der Operation wurden 55,8% (n=232) der Patienten bestrahlt, 17,8% (n=74) wurden nicht bestrahlt und bei 26,4% (n=111) war aufgrund der fehlenden Dokumentation keine Angabe