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radiowissen SENDUNG: Uhr Verbote verboten? Über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit

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Academic year: 2022

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Manuskript

radioWissen SENDUNG: 22.09.2021

9.35 Uhr

AUFNAHME: 16.09.21 14.00 – 21.30 Uhr Studio: 7

21S1695

TITEL: Verbote verboten?

Über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit

AUTORIN: Inka Kübel

REDAKTION: Bernhard Kastner

REGIE: Irene Schuck

TECHNIK: Robin Auld

SPRECHER/IN: Erzählerin: Katja Bürkle Zitator: Christian Baumann

INTERVIEWS MIT: Dr. Christoph Quarch – Philosoph; Prof. Nora Markard - Verfassungsrechtlerin

Zuspielungen in DIGAS unter ‚Zuspielungen Verbote verboten? Über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit‘

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2

Podcast-Ansage Hier ist radioWissen …

Freiheit und Sicherheit sind Grundwerte, aber ohne Verbote geraten sie in Gefahr. Corona und die Klimakrise machen diesen Konflikt spürbar – dabei ist er so alt wie die Menschheit. Wie definiert der moderne Mensch sich und diese Werte, und wie sehr sind sie historisch bedingt und

wandelbar?

___________________________________________________

Musik 1

"Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may 17, 1980)" Ausführende:

Timba Harris - Album: neXus I: Cascadia - Länge: 0'10

Musik 2

"Dada" - Ausführende und Komponisten: Kimmo Pohjonen & Eric Echampard - Album: Uumen Länge: 0'14

ZITATOR:

Ich will mein volles Freiheitsrecht!

Find ich die geringste Beschränknis, Verwandelt sich mir das Paradies In Hölle und Gefängnis.

ERZÄHLERIN: (etwas ironisch gesprochen, mit Augenzwinkern ...) Da revoltiert jemand! Heinrich Heine nämlich. Was will ich mit dem Paradies, wenn dort die schlimmste Freiheitsberaubung droht, nämlich das Verbot der ERKENNTNIS – so könnte man sein Gedicht „Adam der Erste“ interpretieren. - Schon der der biblische Mythos vom Sündenfall lässt das Spannungsverhältnis von Freiheit und Verbot aufscheinen.

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Ob mit oder ohne religiösen Bezug: zum Menschsein gehört beides, Freiheit und Verbot und zwar von Anfang an – in einem wandelbaren Verhältnis, mit vielfältigen Aspekten. Aus dem Blickwinkel der

Entwicklungspsychologie bedeutet es zum Beispiel, dass ein Kind Geborgenheit und Sicherheit braucht, um seine Freiheit zu entfalten - und seine Freiheit wiederum braucht Verbote und Grenzen, damit sie spürbar wird.

Je nach Charakter, Lebensphasen und Lebensgeschichte kann es dann individuell sehr unterschiedlich sein, wieviel Freiheit jemand braucht, um sich wohl zu fühlen.

Musik 3

"Legions (War)" - Album: "One Cello x 16: Natoma" - Künstlerin und Komponistin: Zoë Keating - Länge: 0'15

ERZÄHLERIN:

Was geistesgeschichtlich unter Freiheit verstanden wurde und wird, hängt vom historischen und kulturellen Hintergrund ab. Der Philosoph Dr. Christoph Quarch:

1 OT - Quarch:

Freiheit ist ein ausgesprochen mehrdeutiges Konzept. Und der Begriff der Freiheit ist in unterschiedlichen Epochen in unterschiedlichen

Kulturen der Menschheitsgeschichte auch immer unterschiedlich besetzt worden, nämlich je nachdem wie der Mensch sich selber gedeutet und interpretiert hat. Der neuzeitliche Mensch, der sich sehr stark als ein Subjekt begreift, das sich als Subjekt zu einer ihm gegenüberstehenden Welt von Objekten verhalten muss, begreift seine Freiheit von seiner Subjektivität her. Und da spielen dann so Kategorien wie Willensfreiheit eine ganz zentrale Rolle.

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4

Musik 4

"Bar Bose-Einstein Condensation" - Album: Shenzhou - Komponist:

Biosphere - Ausführender: Biosphere - Länge: 1'05

ERZÄHLERIN:

Aber ist der Mensch überhaupt frei? Oder sind wir so stark von

Gesetzen der Natur und der Psyche determiniert, dass die Freiheit des Willens eine Illusion, und Verbote nur eine Art verordnete Variante der Unfreiheit sind? Auf diese Grundsatzfrage geben Philosophen

unterschiedliche Antworten.

Die Mehrheit aber kommt zu dem Schluss, der Mensch sei nicht vollständig determiniert, habe einen Freiheitsspielraum und könne daher auch weitgehend Verantwortung für sein Handeln übernehmen.

Unser Rechtssystem ist untrennbar mit dieser Auffassung verknüpft und jede demokratische Verfassung impliziert das. Freiheit spiegelt sich darin und auch das Verbot – und so schreibt unser Grundgesetz schon kurz nach der Präambel fest, dass jeder das Recht hat auf …

ZITATOR:

… freie Entfaltung der Persönlichkeit –

ERZÄHLERIN:

- aber das nur ...

ZITATOR:

… soweit er nicht die Rechte anderer verletzt. Artikel 2, Absatz 1.

ERZÄHLERIN:

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5

Das Recht auf freie Entfaltung, auf freies eigenständiges Denken, auf die eigene Meinung, man stelle sich vor, das wäre verboten! Undenkbar in einer Demokratie. Man stelle sich vor Töten, Gefährden der

Mitmenschen wäre erlaubt – nein! Keiner würde wollen, dass die Freiheit hier nicht an Grenzen stößt, denn …

Musik 5

"Bar Bose-Einstein Condensation" - Album: Shenzhou - Komponist:

Biosphere - Ausführender: Biosphere - Länge: 0'19

ZITATOR:

… jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ...

ERZÄHLERIN:

… heißt es in Artikel 2, Absatz 2 unseres Grundgesetzes.

Der Staat soll unser Leben und die demokratische Grundordnung schützen – vor inneren und äußeren Feinden und Gefahren. Dieses Fundament erscheint selbstverständlich und dennoch ist es in seiner Deutung historisch wandelbar.

2 OT – Quarch

((Natürlich haben sich die Menschen zu allen Zeiten nach Sicherheit gesehnt. Und wahrscheinlich haben sie deshalb früher in

mittelalterlichen Städten Stadtmauern gebaut und dergleichen mehr.)) Wir können ((aber)) beobachten, dass Sicherheit auf der Werteskala des Menschen vor allen Dingen zu Beginn der Neuzeit eine neue, sehr hohe Positionierung gefunden hat, und das mag zeitgeschichtlich damit zusammenhängen, dass die Menschen im 16. und 17. Jahrhundert eine der schwersten Krisen der europäischen Geschichte durchleiden und durchleben mussten – nämlich den Dreißigjährigen Krieg, in dem für

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viele sämtliche Fundamente des menschlichen Lebens

zusammengebrochen sind. Die Religion, der Glaube, der für viele eine ganz wichtige Rolle gespielt hat, war erschüttert, die politische Ordnung lag darnieder, auch damals wütenden Pandemien in Europa, und so kam es, dass die Menschen sich die Frage stellten: Worauf kann man sich eigentlich noch verlassen in dieser Welt? Gibt es irgendetwas, was mir Sicherheit und Verlässlichkeit gewährt? Und diese Frage wurde in dieser historischen Situation zu einer der Leitfragen des neuzeitlichen

Denkens.

ERZÄHLERIN:

Eine berühmte Antwort darauf lautete: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. René Descartes entwickelte diesen Gedanken unter anderem in seinen „Meditationen über die erste Philosophie“ aus dem Jahr 1641.

ZITATOR

Und das Denken? Hier finde ich es: das Denken ist es, es allein kann von mir nicht abgetrennt werden … Ich bin ein denkendes Ding … Ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet. (…) Ich bin, ich existiere (…) so lange ich DENKE (…) denn es ist so offenkundig, dass ICH es bin, der da zweifelt, erkennt, will, dass sich kein Erklärungsgrund höherer Evidenz dafür finden lässt.

Musik 6

"Put off" - Komponist und Ausführender: Rei Harakami - Album: Red Curb - Länge: 1'08

(7)

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ERZÄHLERIN:

Rationalität als Sicherheitsgarant. Dabei ging es Descartes zunächst um die Möglichkeit einer Ausgangsbasis für wissenschaftliche Erkenntnis.

Aber seine Auffassung von der überragenden Bedeutung der Rationalität hat bis heute großen Einfluss auf unser Menschenbild und prägte auch die politische Philosophie. Die Verankerung im Subjekt wirkte aber tief und anhaltend hinein in das Menschenbild und die politische

Philosophie.

3 O-Ton Quarch:

Gibt es, so nannte er es, ein fundamentum inconcussum, ein

unerschütterliches Fundament, auf das sich ein menschliches Leben und eine menschliche Gesellschaft gründen kann. Und Descartes sagte, ja, das gibt es, und zwar ist das mein eigenes Denken, mein Geist, meine eigene Rationalität – darauf kann ich mich verlassen. Das kann niemand in Frage stellen. Und so entstand dieses neue Menschenbild der

westlichen Moderne, der westlichen Neuzeit, dass der Mensch allen voran ein rationales Wesen ist.

ERZÄHLERIN:

Der Mensch ein rationales Wesen?

Thomas Hobbes, ein Zeitgenosse und Gesprächspartner von Descartes und ebenso in politische Unruhen und Bürgerkrieg hinein geboren, sieht den Menschen vor allem von seinen Trieben und Leidenschaften

geprägt. „Homo homini lupus“ – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Dieser Satz eines Komödiendichters aus der römischen Antike wurde von Hobbes aufgegriffen und über ihn weit bekannt. Im „Leviathan“ von 1651 schreibt er:

ZITATOR:

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So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche

Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen, drittens Ruhmsucht. (…) Daraus ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine sie alle in Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden.

Musik 7

"Full Moon" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score)"

Komponistin: Ulrike Haage - Länge: 0'55

ERZÄHLERIN:

Angriff und Verteidigung ist der Lebens-Modus in der Gesellschaft. Man bekämpft sich, muss sich gegen Ansprüche der anderen wehren. Um Sicherheit zu erreichen, muss nach Hobbes dem Egoismus und den Machtkämpfen ein starker, absolutistischer Staat entgegengesetzt werden, der notfalls mit Gewalt durchgreift.

ZITATOR:

Die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst, unseren natürlichen Leidenschaften

entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten.

Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.

Musik 8

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9

"Legions (War)" - Album: "One Cello x 16: Natoma" - Künstlerin und Komponistin: Zoë Keating - Länge: 0'19

ERZÄHLERIN:

Thomas Hobbes und René Descartes repräsentieren zwei Denk- Strömungen, die Einfluss genommen haben auf das Welt- und Menschenbild. Sie prägen unser Selbst-Verständnis bis heute mit.

4 OT - Quarch:

Und so kam die Idee im frühen 17. Jahrhundert auf, die Menschen seien einerseits rationale Wesen und zweitens egoistische Wesen, denen es allen voran erste einmal darum geht, sich selber in der Welt zu

behaupten. Aus dieser geistigen Gemengelage heraus, wurde Sicherheit zu einem der obersten Werte der neuzeitlichen europäischen Menschen.

ERZÄHLERIN:

Dem englischen Philosophen John Locke ist es zu verdanken, dass sich zum Konzept der Sicherheit der Gedanke hinzugesellte, der Staat müsse seinen Untertanen nicht nur Schutz gewähren, sondern auch Freiheits- und Grundrechte einräumen. Von dieser individuellen Freiheit war bei Hobbes noch keine Rede gewesen. In seiner „Zweiten Abhandlung über die Regierung“ betont Locke im Jahr 1689 Freiheit, Gleichheit,

Selbsterhaltung und Eigentum als „Naturrechte“.

ZITATOR:

Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet.

Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, (…) daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.

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ERZÄHLERIN:

Locke gilt nicht nur als Vordenker der Aufklärung, sondern auch als Vater des Liberalismus, der die freie Entfaltung und Autonomie des Individuums in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht in den Blick nimmt. Und auf Locke geht auch die Idee der Gewaltenteilung zurück – Gesetzgebung und Vollstreckung der Gesetze – also Legislative und Exekutive- dürfen nicht in einer Hand liegen.

ZITATOR:

Jedesmal wenn die Legislative sich gegen das Grundgesetz der Gesellschaft vergeht und (…) die unbeschränkte Gewalt über Leben, Freiheit und Güter des Volkes für sich (…) zu erringen trachtet, verwirkt sie durch diesen Vertrauensbruch die Gewalt, die das Volk ihr zu gerade entgegengesetzten Zwecken übergeben hat. Diese Gewalt fällt dann an das Volk zurück; und das Volk ist berechtigt, seine ursprüngliche

Freiheit zurückzunehmen, eine neue legislative Gewalt nach seinem Gutdünken aufzustellen und dadurch für seine Erhaltung und Sicherheit zu sorgen.

Musik 9

"Legions (War)" - Album: "One Cello x 16: Natoma" - Künstlerin und Komponistin: Zoë Keating - Länge: 0'6

Musik 10

"Dada" - Ausführende: Kimmo Pohjonen & Eric Echampard - Album:

Uumen Länge: 0'25 ERZÄHLERIN:

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Etwa zwei Generationen später entwirft ein Genfer Philosoph eine Staatsphilosophie, die den theoretischen Boden bereitet für die

Französische Revolution. Jean-Jaques Rousseau. Von ihm stammt der berühmt gewordene Satz:

ZITATOR:

Der Mensch ist frei geboren, doch überall liegt er in Ketten.

ERZÄHLERIN:

Rousseau sieht den Menschen durch die Einbindung in die Gesellschaft seiner natürlichen Freiheit beraubt – er sucht nach Alternativen. Dabei sieht er den Menschen im Naturzustand nicht kriegerisch, wie etwa Hobbes und Locke, sondern friedlich. Er entwickelt das Idealbild eines mündigen Bürgers, der sich freiwillig dem Gemeinwohl unterwirft und seine Freiheit gerade dadurch verwirklicht. Ein Konflikt zwischen

individueller Freiheit und staatlichem Zwang besteht nicht mehr, weil …

ZITATOR:

… jeder einzelne, obwohl er sich mit allen verbindet, dennoch nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor …

ERZÄHLERIN:

… schreibt Rousseau in seiner 1762 erschienen Schrift „Vom

Gesellschaftsvertrag“. Rousseau versucht hier in gewisser Hinsicht eine Quadratur des Kreises. Der Einzelne und die Gemeinschaft, der ganze

„Staatskörper“ folgen quasi synchron dem Volonté générale, dem

„allgemeinen Willen“. Individuelle Freiheit und allgemeiner Wille gehen eine Art Symbiose der Vernunft ein.

ZITATOR:

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Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als unteilbaren Teil des Ganzen auf.

ERZÄHLERIN:

Dieser „Volonté générale“ unterscheidet sich vom „Volonté de tous“, dem Willen von allen, denn die Menschen können sich in ihren

Einzelwillen irren. Doch darin besteht die Krux des Rousseau´schen Denkens. Denn es obliegt dem Staat, den Einzelwillen gegebenenfalls unter Zwang mit dem richtigen Willen, dem Volonté generale überein zu bringen. Das birgt die Gefahr der Ideologie und der Diktatur. Denn wer entscheidet über die Richtigkeit des allgemeinen Willens?

Musik 11:

"Dada" - Ausführende und Komponisten: Kimmo Pohjonen & Eric Echampard - Album: Uumen Länge: 0'43

ERZÄHLERIN:

Rousseaus Denken bildete die theoretische Grundlage der Französischen Revolution, die sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte – sein Konzept wurde während der

Schreckensherrschaft der Jakobiner 1793/94 auf radikale Art

umgesetzt. Mit seinem Gesellschaftsvertrag entwickelte Rousseau aber auch die Idee der Volkssouveränität – die Grundlage heutiger

demokratischer Systeme.

ERZÄHLERIN:

Das Ringen um Freiheitsrechte ohne den Verlust der Sicherheit war ein Kampf voller Widersprüche und Rückschläge mit einer Jahrhunderte dauernden Geschichte. Als wichtige neuzeitliche Etappen gelten in

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Europa unter anderem die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Folge der Französischen Revolution, die Paulskirchen-Verfassung von 1848 in Deutschland, die Weimarer Verfassung von 1919 - außer Kraft gesetzt während der Nazi-Diktatur – und schließlich:

unser Grundgesetz, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg die

Freiheitsrechte als Antwort auf die Nazi-Herrschaft ganz bewusst an oberste Stelle gesetzt …

ERZÄHLERIN:

- …und jüngst stark eingeschränkt wurden: Lockdown, Ausgangssperre, Maskenpflicht, Reisebeschränkungen, Einschränkung der sozialen

Kontakte und, und, und. Die Corona-Pandemie hat uns sehr deutlich aufgezeigt, wie schwierig die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit sein kann, wie stark Gesellschaft und Politik gefordert sind – und jeder einzelne. Wieviel Ver-bot ist ge-boten? In einer Demokratie sollte öffentlich, transparent und mit Expertise diskutiert und

abgewogen werden. Die Verfassungsrechtlerin Prof. Nora Markard weist darauf hin, dass das Ergebnis von Abwägungsprozessen prinzipiell offen ist. Sie nennt ein Beispiel: So gibt es etwa –noch- kein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen, obwohl es viele Menschenleben retten könnte.

5 OT - Markard:

Wir entscheiden uns in ganz vielen gesellschaftlichen Bereichen dafür, bestimmte Lebensgefahren hinzunehmen, weil wir sie gesellschaftlich für verantwortbar halten. Das heißt, das GG gibt hier nicht alles vor, sondern da gibt es eben politische Entscheidungsspielräume und da muss abgewogen werden, und das ist am Ende dann eine politische Entscheidung.

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ERZÄHLERIN:

Und diese politischen Entscheidungen müssen transparent sein und orientiert an einer gesellschaftlichen und parlamentarischen Diskussion.

Ein schwieriger Prozess, gerade in Zeiten von Fakenews, Lobbyismus und notwendig schneller Reaktion auf Gefahren. Dennoch: Der offene Diskurs bildet die Grundlage und gerade bei schwierigen Abwägungen muss man genau hinschauen, Kritik üben, immer wieder nachjustieren, sagt Markard. Demokratie heißt eben auch das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit in der Krise variabel neu auszuhandeln und Fehler

gegebenenfalls zu korrigieren.

6 OT – Markard

Dieser ständige Rechtfertigungsdruck – das ist ja gerade das Merkmal einer Demokratie, dass es da auch Streit drum gibt, und dass jetzt nicht mit Verweis auf Sachzwänge und Alternativlosigkeit diese politische Diskussion abgeschnitten wird. Und da sind JuristInnen in der Pflicht, aber da ist eben auch die Politik in der Pflicht, den Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen durch wirklich transparente Kommunikation sich selbst ein Bild zu machen.

Musik 12:

"I Say When We Sell" - Album: The Big Short (Music from the Motion Picture) Komponist: Nicholas Britell - Länge: 0'52

ERZÄHLERIN:

Nach der Pandemie könnte die Klimakrise uns in der Zukunft vor noch schwierigere Zerreißproben stellen – das lässt das Urteil des

Bundesverfassungsgerichts vom März 2021 erahnen, das letztlich dazu auffordert, die Freiheitsrechte junger und künftiger Generationen bei der Umsetzung der Klimaziele stärker zu berücksichtigen. Zitat:

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ZITATOR:

Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen in ihren Freiheitsrechten verletzt.

ERZÄHLERIN:

Will heißen: Es muss SCHNELLER gehen mit dem Klimaschutz, denn wenn es zu spät ist, werden künftige Generationen das mit härtesten Einschnitten ihrer Freiheit und auch ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit bezahlen.

Die Pandemie und der drohende Umweltkollaps erschüttern unsere Fundamente, ähnlich wie der Dreißjährige Krieg die Fundamente der Menschen erschüttert hat. An der Schwelle zur Neuzeit wurden Menschenbilder und Entwürfe für politische Systeme entwickelt, in denen das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit sich wandelte. Und vielleicht stehen wir heute wieder an einen solchem Wendepunkt? Der Philosoph Christoph Quarch hofft das – und spricht von einer „geistigen Disruption“, die durch die Krise verursacht den Wandel vorbereiten könnte.

Musik 13:

"A Sinister Decision" - Komponistin: Eleni Karaindrou - Album: Medea - Länge: 0'48

ERZÄHLERIN:

Er bringt die Antike ins Spiel, die Anfänge der Demokratie:

7 O-Ton Quarch:

Aus der griechischen Weltweisheit, von der ich glaube, dass sie uns nach wie vor viel zu sagen hat, können wir lernen, dass Freiheit eben

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nicht darin besteht, dass wir unsere eigenen subjektiven Interessen verfolgen, dass wir unsere eigene Meinung kritiklos in die Welt

hinausblasen, sondern unsere Freiheit besteht immer darin, dass wir mit den Menschen, mit denen wir verbunden sind in einem

Gemeinwesen in einen freien, gewaltfreien und offenen Diskurs treten können. Dass wir mit anderen in Freiheit interagieren können.

ERZÄHLERIN:

Quarch schlägt den Begriff der Zugehörigkeit als neuen geistigen

Kompass vor. In Orientierung an der Zugehörigkeit werden sich andere Wirtschaftsformen und neue politische Strukturen herausbilden, so seine Prognose und Hoffnung. Quarch beklagt die Dominanz des ökonomischen Denkens. Der Markt sei zum „Tempel der Freiheit“

geworden, und der Staat sichere vor allem den ungestörten Konsum.

Das Wissen um die Rückbindung an die Natur und andere Menschen lindert den bisherigen Gegensatz, hebt ihn vielleicht sogar auf, sagt er.

Zugehörigkeit schafft Sicherheit und Freiheit und entschärft den Werte- Konflikt. Wenn Quarch recht hat, dann ist der moderne rationale Egoist der Ellbogengesellschaft ein Auslaufmodell.

Musik 14:

"A Sinister Decision" - Komponistin: Eleni Karaindrou - Album: Medea - Länge: 1'02

ERZÄHLERIN:

Das antike Denken könnte auch hier wichtige Impulse geben.

8 O-Ton Quarch:

Der antike Mensch dachte nicht in der Kategorie der Subjektivität, weil die erst im 17. Jahrhundert erfunden wurde. Sondern der griechische

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Mensch sah sich immer als Teil einer Polis. Eines Gemeinwesens. Er sah sich auch als Bürger des Kosmos, also der lebendigen Welt. Und für ihn bestand Freiheit deswegen vor allen Dingen darin, sich in einem

Freiraum bewegen zu können, in dem er gemeinsam mit anderen mit ihm verbundenen Wesen, mit anderen Menschen in der Polis um die Belange der Polis ringen kann. Freiheit war hier viel stärker gedacht vom Raum her, der zwischen den Menschen besteht, als von der

Willensfreiheit oder der subjektiven Freiheit des Individuums. ((Das ist eine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Welt, die dann auch zu ganz anderen politischen Kategorien geführt hat.))

ERZÄHLERIN:

„Ich weiß mich zugehörig“ – mit dem Mitmenschen, mit der Natur.

Aber ist der Mensch so? Oder sind wir nicht doch die Konkurrenten, denen es vor allem um den eigenen Vorteil, die Durchsetzung

persönlicher Interessen im Rahmen des staatlich Erlaubten geht? Regelt sich alles über Geld, über ökonomische und soziale Machtverhältnisse?

Kurz: Bleiben wir die rationalen Egoisten, wie Hobbes den Menschen sah - und was sich in vielen Bereichen immer wieder zu bestätigen scheint?

Musik 15

"Bar Bose-Einstein Condensation" - Album: Shenzhou - Komponist:

Biosphere - Ausführender: Biosphere - Länge: 0`48

9 O-Ton Quarch:

Die Hirnforschung lehrt uns: Wir bekommen ein Gehirn nach Maßgabe dessen, wie wir es trainieren. Wenn wir in einer Welt leben, die uns ständig suggeriert „du bist ein Mensch, dem es nur darum geht für sich den größtmöglichen Vorteil herauszubekommen, du bist ein rationaler

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Egoist“, dann werden wir eine Welt von rationalen Egoisten haben. Aber das heißt nicht, dass der rationale Egoismus das Wesen des Menschen ist. Das heißt nur, dass wir über Jahrhunderte uns zu rationalen

Egoisten sozialisiert haben.

**

ENDE

Podcast-Absage:

Das war radioWissen, ein Podcast von Bayern 2.

Autor/in dieser Folge: Inka Kübel Regie führte Irene Schuck

Es sprachen: Katja Bürkle und Christian Baumann Technik: Robin Auld

Redaktion: Bernhard Kastner

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BK 19.8.

Literaturempfehlungen:

Hans Meier, Horst Denzer (Hg.)

Klassiker des politischen Denkens, Band 1/2 Beck´sche Reihe, 2008

Dieter Oberndörfer, Beate Rosenzweig (Hg.)

(19)

19

Klassische Staatsphilosophie Texte und Einführungen C.H. Beck, 2015

Jonas Pfister (Hg.) Texte zur Freiheit Reclam, 2014

Referenzen

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