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Die philosophischen Aspekte von Mark Aldanovs Werk

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(1)

Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.

Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Projekt „Digi20“

der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch den Verlag Otto Sagner:

http://verlag.kubon-sagner.de

© bei Verlag Otto Sagner. Eine Verwertung oder Weitergabe der Texte und Abbildungen,

Vsevolod Setschkareff

Die philosophischen Aspekte

von Mark Aldanovs Werk

(2)

©

by Verlag Otto Sagner, München 1996.

Abteilung der Firma Kubon & Sagner, Buchexport/import GmbH, München

Offsetdruck: Kurt Urlaub, Bamberg

(3)

Slavistik

herausgegeben von Peter Thiergen (Bamberg)

Band 30

1996

VE R LA G OTTO SAGNER * M ÜNCHEN

(4)

München

(5)

Die philosophischen Aspekte

von Mark Aldanovs Werk

(6)

96 .

53998

Die D nickvorlage dieses Bandes und der In d e x nom inum w urden \ M arkus W irtz M . A . m it H ilfe des Textsatzsystem s M fc X e rs te llt.

(7)

V orw ort

Die literarische Anerkennung bezeichnet A ldanov als ״ L o tte rie “ : man- chem lächelt das G lück, und er w ird w eitbekannt, ja berühm t, — w arum das G lück gerade ihm lächelte und einem anderen n ich t, weiß man ebensowenig wie bei der L o tte rie (das vollständige Z ita t, dessen S til und Ton fü r A ldanov typisch sind, fin d e t m an a u f Seite 46 dieser A rb e it).

A ldanov h a tte in dieser L o tte rie kein G lück. Seine Romane waren in nerhalb der ersten russischen E m ig ra tio n zwar sehr erfolgreich und w urden in viele Sprachen übersetzt (noch häufiger übersetzt w urden seine Essays), doch aus unerfindlichen G ründen geriet er dann in Ver- gessenheit. In der Sow jetunion wurde er n a tü rlic h nie gedruckt. A m wenigsten beachtet w urde er in Deutschland. W ährend fast alle seine Romane französisch, englisch, italienisch und spanisch (von den sia- vischen Sprachen abgesehen) vorliegen, w urde ins Deutsche n u r der Roman

D er neunte Term idor

übersetzt.1 Daneben existieren in deut- sehen Übersetzungen seine Bücher

Ленин

(aus dem Französischen übersetzt unter dem T ite l

Lenin und der Bolschewism us2), Загад- ка Толстого (D as Rätsel Tolstojs3),

wohl eines der klügsten Bücher über T o lsto j ü b e rh a u p t,

Современники (ZeitgenossenA)

und

Зем ли, люди (E in e unsentimentale Reise0).

M it Ausnahm e des Tolstojbuchs also durchweg politische Abhandlungen und Essays, die zwar stilistisch m usterhaft, in fo rm a tiv und geistvoll sind, aber Aldanovs Bedeutung als K ü n stle r n u r ahnen lassen. W arum seine spannenden, ideenreichen Romane in D eutschland nicht beachtet w urden, is t tatsächlich n u r als Pech in der ״ L o tte rie “ zu erklären.

111 der E m ig ra tio n (er lebte kurze Z eit in B e rlin , dann in Paris,

1 München, Drei Masken Verlag, 1925.

2 Berlin, Ullstein Verlag, 1920.

3 Paderborn, Schöningh Verlag, 1928.

4 Berlin, Schließen Verlag, 1925.

5 München, C arl Hanser Verlag, 1932.

(8)

New York und N izza) spielte er als S ch riftste lle r, L ite ra tu rk ritik e r und Jo u rn a list eine sehr große Rolle. U nter den bedeutendsten Prosai- kern der E m ig ra tio n jener Z eit: B u n in , M erežkovskij, Zajcev, Siuelev, Gazdanov, O sorgin, Nabokov, waren die erstgenannten vie r bereits in Rußland w ohlbekannt, Gazdanov und O sorgin w urden in der Em igra- tio n vie l gelesen und in Z e itsch rifte n wie den

Современные Записки

gedruckt; der Rom an Gazdanovs

Вечер у Клэр

(1930)6 und Osor- gins

Вольный каменщ ик

(1937)7 ragten als Spitzen hervor. Nabo- kovs neun russische Romane (er schrieb in der S pätzeit n u r englisch), d a runter der hervorragende

Map

(1937-1939, 1952), und seine zahl- reichen E rzählungen h a tte n aufgrund ih re r E igenart großen E rfolg, w urden aber eben dieser E igenart wegen n ich t von allen Lesern und K ritik e rn geschätzt. Das G lück der literarischen Anerkennung und dann des in te rn a tio n a le n E rfolgs hat ih m lange Z e it n ich t gelächelt.

E rst m it dem englisch veröffentlichten Rom an

Lolita

(1955) lachte ih m das G lück (m an wüßte eigentlich n ich t zu sagen, w arum ). Nun w urden auch alle seine vorher russisch erschienenen Romane in viele Sprachen übersetzt, e ifrig gelesen und als O ffenbarungen betra chtet, obwohl sie seit Jahren (auch übersetzt) Vorlagen, aber von Verlegern (m it wenigen Ausnahm en) n ich t beachtet w urden. Seit

Lolita

stand seine Bedeutung, die sich in den vorhergehenden Romanen vie l stärker zeigte, e n d g ü ltig fest. Seine nachfolgenden englischen Romane erleb- ten hohe A uflagen, ohne das Niveau der russischen zu erreichen. Der literarische R uhm w ar da. das große Los gezogen.

A ldanov h a tte dieses G lück n ich t. Keineswegs und in keiner H in- sicht Nabokov unterlegen, in mancher H in sich t überlegen, w urde er von der K r itik als A u to r von ,bloß‘ G e sch ich tsro m a n e n abgestem- p e lt, w om it ein großer T e il des Lesepublikum s wegfiel und viele Ver- leger ebenfalls das Interesse verloren. Eine W ü rd ig u n g Aldanovs als

6 Vgl. La5zlo Dienes, Russian Literature in Exile: The L ife and W ork o f G ajto Gaz- danov, als: Slavistische Beiträge, Band 154, München 1982.

7 Vgl. V . Setschkareff, Die wahre Iro n ie in M ic h a il Osorgins , V o l'n yj kam enščik1 י in: Text Symbol Weltmodell. Johannes Holthusen г и т 60. Geburtstag, München 1984,

(9)

K ü n s tle r steht in der Literaturw issenschaft noch aus, während über Nabokov Bände geschrieben werden. N u r der am erikanische Profes- sor C. Nicholas Lee hat ausführlicher über ih n gearbeitet, doch hat er die stilistisch e n Eigenheiten A ldanovs im D e ta il bewußt vernachläs- sigt und ist a u f manches in der Psychologie der handelnden Personen und im <быт> der russischen <интеллигенция> in n e rh a lb der Span- 11e von 200 Jahren, in der die Romane spielen, sowie auch a u f manche geschichtliche E inzelheiten nicht eingegangen.

Daß die Romane Aldanovs Geschichtsromane sind, t r if f t nicht zu, es sei denn, man w ollte auch Tolstojs

Krieg und Frieden

als einen solchen bezeichnen. T o lsto j w ar Aldanovs leuchtendes V o rb ild , ohne daß er ihn sklavisch nachgeahmt hätte. Ohne den Vorgänger T o ls to j wären seine Romane gewiß kaum zu denken, aber sie sind tro tzd e m eigenständig, schon deshalb, w eil er Tolstojs Philosophie v ö llig ablehnte. In einer program m atischen Besprechung von Pavel M uratovs Rom an

Эгерия

(1922)8 schreibt A ldanov:

« И с к у с с т в о и с т о р и ч е с к о го р о м а н и ста с в о д и тс я (в первом п р и б л и ж е н и и ) к «:освещению в н утр е н н о сте й » д е й с тв у ю щ и х л и ц и к надлеж ащ ем у п р о с тр а н с тв е н - ном у и х разм ещ ению , — к та к о м у разм ещ ению , п р и ко то р о м они о б ъ я с н я л и бы э п о х у и э п о х а о б ъ я с н я л а бы и х.>

( Современные Записки

15, 1923, S.404)

U nter dem etwas ungewöhnlichen A usdruck «освещ ение в н у тр е н - носте й » versteht A ldanov, wie in derselben Besprechung gesagt w ird , offenbar die Psychologie: «О н п р е н е б р е ж и те л ьн о с т о р о н и т с я от п с и х о л о ги и ; соверш енно о тка зы ва е тся о т «освещ ения в н у тр е н - н о с т е й » (ib id ., S. 405).

Aldanovs Romane spielen gewiß in nerhalb der jew eiligen Geschichts- s itu a tio n , d. 11. sie schließen die seinerzeitigen p o litischen Ereignisse m it ein. Doch die seelischen Regungen seiner G estalten, ihre Re- a ktionsfähigkeit, ihre in d ivid u e lle n C haraktere (seien sie auch noch

* Vgl. V . Setschkareff, Muratovs ,È g e rija ‘ und die Tradition des stilisie rte n Romans, in: Festschrift f ü r Margarete W oltner zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1967, S. 254-261.

Vorwort 9

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so unbedeutend), durch welche die politischen, nachmals geschichtli- chen Ereignisse und Persönlichkeiten (genau wie bei T o ls to j) gleichsam

״ durchsiebt“ (просеивае тся) werden, heben Aldanovs künstlerische Prosa w eit über die Abstem pelung als Geschichtsromane heraus. Sei- ne G estalten leben; sie sind als Menschen vie lle icht unbedeutend, aber sie sind fühlende und denkende Wesen, die, wie es in unserem Z eital- te r n ich t anders sein kann, von den politischen Ereignissen getrieben werden und sich m it ihnen auseinandersetzen, so fik tiv sie auch sein mögen. Aldanovs Romane sind in die Geschichte eingebettet, spielen in nerhalb der Geschichte, d. h. sie schließen die seinerzeitigen p o liti- sehen Ereignisse als seelische Erlebnisse der Personen m it ein. A ida- nov weiß ihnen neben ihrem eigenen Leben auch eine übergreifende symbolische Bedeutung zu verleihen — tatsächlich: ״sie erklären ihre Epoche, wie die Epoche sie e rk lä rt.“ M usja, die H eldin der T rilo g ie , is t in ih r e r Umgebung, ih re m Stand, ih r e r Zeit der so gepriesenen Natascha in

Krieg und Frieden

keineswegs unterlegen.

A ls Gegensatz zu Aldanovs Rom antechnik kann der von ih m be- sprochene Roman

Эгерия

von M u ra to v gelten (s.o .), dem A ldanov bei voller Anerkennung seiner (tatsächlich vorhandenen) Vorzüge doch vorwerfen muß, daß tro tz des untadeligen S tils, tro tz der ausgezeichnet gelungenen G estalt des Helden und tro tz der spannenden H andlung n ich t m it Sicherheit zu sagen ist, zu welcher Zeit diese sehr bewegte H andlung sich abspielt: es könne das 18., 17. oder sogar 16. Jahrhun- d e rt sein. Wenn auch der schwedische K önig G ustav I I I . im Roman eine gewisse Rolle spielt und nebenbei geschichtliche Namen fa lle n , so is t n u r dies ein Hinweis auf das 18. Jahrhundert. Die R om anhand- lung als solche e n th ä lt nichts, was m it den realen Geschichtsereignis- sen jener Epoche zusammenhängt, obwohl sie in vielen europäischen Ländern vor sich geht. Der klare S til, die E n tw icklu n g der Ereignisse und Personen erinnern an Puškins

D ie Hauptmannstochter,

was, wie A ldanov bem erkt, an sich kein schlechtes V o rb ild sei, aber als M u ste r dessen, was er als Geschichtsroman bezeichnen würde, n ich t g ilt.

Abgesehen von der russischen L ite ra tu r, kann als schärfster Ge-

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gensatz Jane Austen gelten, in deren ausgezeichneten, psychologisch feinsinnig analysierenden Romanen nie kla r w ird , daß sie während der napoleonischen Kriege spielen, die ja doch selbst die entlegenen und sehr abgeschlossenen Gesellschafts- und Fam ilienkreise, in denen die H andlung vor sich geht, n ich t unberührt lassen konnten.

D er gegen A ldanov zuweilen erhobene V o rw u rf des Journalism us kann kaum ein M inus sein. Es hat sehr viele große S chriftsteller gege- ben, d a ru n te r Dickens, D ostoevskij, Thomas M ann, die auch Journa- listen waren, was ihrem W ert durchaus nicht geschadet hat. Es gibt Journalisten und es g ib t die sog. <journaille>. Dieser Unterschied kann nicht sta rk genug unterstrichen werden. Was Aldanov als Journalist a u f hohem Niveau geleistet hat, geht aus seinen ״ Skizzen“ (о ч е р ки ) und seinen Essays unter dem G esam ttitel

Портреты

(1931) hervor.

So sehr A ldanov auch von T olstoj abhängen mag, ״ die In d ivid u a - litä t eines S chriftstellers w ird davon bestim m t, ob er E ig e n e s in die Form oder den In h a lt dessen, was er schreibt, h in e in trä g t.“ So be- s tim m t A ldanov selbst das Abhängigkeitsverhältnis in der L ite ra tu r (in der genannten Besprechung). In seinem eigenen Fall is t das E i- gene schon durch seine, T o lsto j diam etral entgegengesetzte W eltan- schauung gegeben, was, so hoffe ich, aus der vorliegenden Abhandlung hervorgehen w ird .

Eine ausgezeichnete B ibliographie Aldanovs, zusammengestellt von D. und H. Cristesco, Paris,

Institut d ’études slaves

(1976) — m it ei- nem sehr anfechtbaren V orw ort von M arc Slonim — , g ib t einen vollen Ü berblick über Aldanovs Schaffen.

Aldanovs Werke w urden in der Sowjetunion, wie gesagt, nicht ge- d ru ckt. Die Lage hat sich nach ihrem Zusammenbruch geändert. Seit 1990 erschienen einige seiner Werke in Einzelausgaben, das Entschei- dende ta t aber der Moskauer Professor A ndrej Černyšev, der nahe- zu das gesamte W erk Aldanovs in 12 Bänden herausbrachte: M . A . А л д а н о в,

Собрание сочинений ѳ шести т омах

, М о сква , И зд а- те л ьство П р а в д а (1991), und М . А . А л д а н о в,

Сочинения в ше- сти книгах

, М о с к в а , Н о в о с ти (1994/95). Besonders w ertvoll sind

Vorwort 11

(12)

die Bände m it den nun leicht zugänglichen Erzählungen und Skizzen, die verstreut in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen erschienen waren. CernySev versah die — leider illu s trie rte n — Bände m it sehr in- form ativen und objektiven E inleitungen, die bedauerlicherweise, wohl aus redaktionellen G ründen, zu kurz sind. Z u r V erb re itu n g der W er- ke Aldanovs hat CernySev sehr viel beigetragen, und es b le ib t n u r zu hoffen, daß er diesen Ausgaben eine M onographie über A ldanov und sein W erk folgen läßt.

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V s e v o lo d S e ts c h k a re ff

D IE P H IL O S O P H IS C H E N A S P E K T E V O N M A R K A L D A N O V S W E R K

Es w urde in der L ite ra tu rk ritik nicht genug beachtet, daß A ldanov ein em inent philosophischer S ch riftste lle r ist. Sein rein philosophisches W erk

Ульм ская ночь1

s te llt nur eine Zusammenfassung seiner W elt- auschauung dar, die allen seinen Romanen zugrunde lie g t. Die un- gekünstelte, s tilis tis c h untadelige Sprache, die spannende H andlung, die hohe K unst in der C harakterisierung seiner Personen lassen den gedanklichen G ehalt seines Werks zu leicht vergessen.

Seine philosophischen Ansichten läßt Aldanov in den großen Ro- manen Personen entw ickeln, die man m it den alten Raisoneurs des m oralisierenden Theaters oder des didaktisch-m oralisierenden Romans vergleichen könnte, n u r daß sie hier durchaus nicht ,M o ra l‘ predigen, sondern, von einer zu tie fst pessimistischen W eltanschauung ausgehend (Schopenhauers Philosophie war, neben Descartes, zweifellos fü r A ida- nov der entscheidende E in flu ß ), den W elt lauf, die M enschheit, den Menschen als solchen und die Handlungen der Personen sowie die E r- eignisse im jew eiligen Roman kommentieren.

Besonders ausgeprägt und ideologisch bedeutend sind die G estalten P 'e r Lam ors2 in der Tetralogie und Aleksandr Brauns in der T rilo g ie 3.

1 У.іьлісѵал ночь. Философия случая, New York 1953. Vgl. dazu meinen Aufsatz:

,D ie Nacht von Ulm*. M ark Aldanovs skeptische Philosophie. (E in Beitrag ги г M'iribung Descartes* in Rußland) י in: Die Welt der Slaven X X X V , N. F. X V I (1992), S. 107-131.

7 Der französische Name heißt natürlich Pierre Larnort, doch schreibt ihn Aldanov, wie auch alle anderen nichtrussischen Namen, m it kyrillischen Buchstaben, so wie sie in der Originalsprache ungefähr klingen. — Im folgenden werden die Namen realer, historischer Personen in der Form der Originalsprache gegeben (außer in Z ita te n ), die Namen der fiktive n Personen so wie im Text.

3 Die Tetralogie, unter dem G esam ttitel М ы слитель, besteht aus den vier folgenden Romanen: Д евятое Термидора (1923), Ч ортов м о с т (1925), Заговор (1927), С в я та я Елена, маленький о с тр о в (1923). Die Seitenzahlen nach dem T ite l beziehen sich auf die genannten Erstausgaben. Die Trilogie bilden die Romane Ключ (1930), Б е гство

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L a n io r n im m t an der eigentlichen H andlung kaum te il, sondern spielt episodisch im gesamten W erk die Rolle des ironischen, skeptischen, wenn auch verständnisvollen Kom m entators sowohl zur H isto rie über- haupt als auch zur R om anliandlung im besonderen. Seine prägnanten Form ulierungen (A ldanov zeigt sich hier a u f der Höhe seiner Sprach- kunst) und seine treffenden Aphorism en geben zum großen Teil A ida- novs eigene Ansichten über die W elt und die Menschen wieder.

Das Gleiche g ilt von Aleksandr Braun, dem berühm ten Chem iker in der T rilogie, der weltanschaulich Lam or sehr nahe steht, ja ihn zum T eil w iederholt. So wie die H e rku n ft Lamors (s.u .) ist auch Brauns H e rku n ft dunkel. М ал erfäh rt über sie n u r vage aus dem Roman

Повесть о смерти

( Posev-Verlag 1969). Sein V ater w ird d o rt ganz kurz erwähnt (S. 146). E r macht a u f die H eldin dieses Romans durch seinen « за га д о чн ы й вид», der sie an Lerm ontovs

Д ем он

e rin n e rt, E indruck. E r soll ein « п р о хв о ст» sein und seine Frau ״ um gebracht“

(у м о р и л ) haben.

Auch in der H andlung der T rilogie spielt Braun eine im m e rh in nic ht unbedeutende Rolle. Philosophisch sind er und sein Gesprächspartner, der C hef der politischen Polizei Rußlands («он ведал п о л и ти ч е с к о й полицией им перии»;

Клю ч,

S.32) Sergej Fedos,ev, durchaus dom i- liierend. Ihre ,Streitgespräche‘ sind sowohl geistvoll uud philosophisch relevant als auch von amüsanter B rilla n z; es handelt sich eigentlich nicht um ,S tre it‘ , denn im G runde stim m en sie w eltanschaulich über- ein.

A ldanov benutzt überhaupt gern die D ialogform , um seine A n sicli- ten lebendig und ,unparteiisch‘ zur G eltung zu bringen. E r tu t dies auch in seinen rein philosophischen A rb e ite n wie

Ульм ская ночь

(die Gesprächspartner A. und L .) und in dem 1918 erschienenen Frühw erk

Армагеддон

(P isa te l’ und C h im ik).

N icht alle von Aldanovs Kom m entatoren sind so wenig ,handlungs- verbunden‘ wie Lam or und Braun.

(1932), Пещера (1932-1936; die Erstausgabe erschien in zwei Bänden). Die Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgaben, außer bei Ключ, der nach der New Yorker Ausgabe von 1955 z itie rt wird.

(15)

Lejden in

Повесть о смерти

ist nicht m ir K om m entator und Philosoph sui generis (obwohl von Schopenhauer, dessen H auptw erk er e rw irb t, begeistert; S. 307), sondern spielt auch die H au p tro lle in der H andlung, wenn man von Balzac als literarischer Folie und von Jan V ie r (V iè re ), dem jugendlichen Helden, absieht. Das Gleiche g ilt von M am ontov in

Ист оки

(1950), er ist Held und Ideologe zugleich.

Viele philosophische Betrachtungen äußert Lord B yron in

Моги- ла воина,

ebenso wie Lomonosov und M ünnich in

Пуншевая водка

(beides 1940); manches A perçu hört man von dem M aler Isabey in

Десятая симфония

(1931).

111

Бред ( Новый ж урнал,

1954-1957) w ird die W eltanschauung N il Sorskijs gestreift , über den die H eldin des Romans eine Disserta- tio n schreibt. Der Roman

Самоубийство

(1958) enthält viel W elt- anschauliches, aber keine ausgesprochen ,philosophisch‘ kommende- renden Personen, denn das unheim lich-düstere L e n in p o rtra it, das das ganze Buch überschattet, w ird man kaum als Aldanovs ,philosophi- sches‘ Sprachrohr bezeichnen können, was von allen bisher genannten Personen m ehr oder m inder g ilt. In

Начало конца ( Новый ж ур- нал,

1938-1942) allerdings ist der berühm te S chriftsteller Verm andua (Verm andois) von der H andlung weitgehend losgelöst. Seine Anschau- ungen sind noch pessim istischer als diejenigen Lamors und Brauns, einfach deshalb, w eil die Geschichtsentwicklung m ittle rw e ile fortge- schritten ist (der Roman spielt 1936 37) und weitere Bestätigungen der von ihnen vertretenen Ansichten gebracht hat.

Der kluge K om m entator und Philosoph, der m it der H andlung kaum etwas zu tu n h a t, erscheint dann wieder in voller Bedeutung in Aldanovs vorletztem Roman

Ж иви как хочегиъ

(1952) in der Ge- s ta lt des 85jährigen N iko ła j D ju m m le r (er spielte schon in

Истоки

als Schuljunge eine, allerdings ganz unphilosophische, R olle). Im gleichen Roman sind die Kom m entare M ax Norfolks nicht ohne philosophische Färbung. A n der H andlung hat er großen A n te il.

Aldanovs K en ntnis der philosophischen Werke aller großen K u ltu - ren ist umfassend. Seine tiefgehende V e rtra u th e it m it den abendlän-

Die philosophischen A spekte von M ark A ldanovs Werk 15

(16)

dischen Denkern von der A ntike bis zur allerneuesten Z e it spiegelt sich in allen seinen Büchern. Die Zahl der von ihm m it Namen erwähnten Philosophen is t im ponierend, und in jedem Fall b le ib t durch die A rt, w ie er von der jew eiligen Philosophie spricht, kein Zweifel, daß er sie durchdacht und sich m it ih r kritisch auseinandergesetzt hat. Diese Auseinandersetzung legt er seinen ideologischen P rotagonisten in den M und, die sie in geistvoll wohlgeschliffener Rede, in einprägsamen Aphorism en gipfelnd, Vorbringen.

Als le b e n d e P e rs o n e n treten in der R om anhandlung drei Philoso- phen auf: D e s c a rte s , in der in den Roman

Пещера

eingefügten No- veile

Deveroux

, K a n t, in

Девятое Термидора

, und R u d o lf E u c k e n (1846-1926), in

Пещера

. Euckens Name w ird allerdings von Aldanov nicht genannt, er w ird nur als ein «не то из Г е й д е л ь б е р га , не то из Й ены » angekommener berühm ter Philosoph bezeichnet

(Пещера

I, S.144); er h ä lt an der B erliner U niversität eine G astvorlesung, die V i tja Jacenko, nach M öglichkeit m itschreibend, a n h ö rt.4 1111 Roman geschieht das im Jahre 1919 während der S partakistenrevolte; in der R ealität geschah es wohl zu Beginn der zwanziger Jahre, als A ldanov in B e rlin lebte und zweifellos selber der m itschreibende Zuhörer w ar.5 Längere Z ita te stammen aus Werken von Descartes

(Девят ое Термидора

), K a n t

(Ж и ви как хочешь),

Schopenhauer

(Повест ь о см ерт и)

, Seneca

(М огила воина)

und Eucken

(Пещ ера).

M ehrm als z itie rt A ldanov den Ecclesiasten

(Девятое Термидора

und

Свят ая Е л е н а )?

P ’er Lam or fü h rt Aldanov schon im Prolog zu

Девят ое Тсрм и

־

dopa

in der G estalt des ״ B ildhauers“ (в а я те л ь ) ein, ohne aber im Roman selbst d a ra u f hinzuweisen. Jedoch im V o rw o rt zur 3. A u f­

4 V itja Jacenko spielt in der Trilogie als Knabe und Jtlngling eine bedeutende Rolle.

In Ж иви как хочешь ist er angehender Schriftsteller und der Held des Romans.

5 Meines Wissens ist Eucken als der Vortragende Professor noch nie id e n tifizie rt wor- den. Ich werde darauf bei der Besprechung der Beziehungen Aldanovs zum Personalismus noch zurückkommen.

e D jum m ler meint: « Э ккл е си а ст, да еще, пож алуй, Война и м и р единственные произведения, из которы х нельзя вы кинуть ни одной с т р а н и ц ы » , wobei er aller*

dings bereit ist, die «ф илософ ско-исторические» K apitel T olstojs auszunehmen (Ж и в и как хочешь II, New York 1952, S. 185).

(17)

läge schreibt A ldanov, man habe ihn des öfteren gefragt, ob es in der W irk lic h k e it ein V o rb ild gegeben habe, dem Lam or nachgebil- det sei. E r verneint diese Frage entschieden, wie er sich auch sonst m it N achdruck gegen das ,W iedererkennen' realer lebender Person- lich ke ite n in seinen fik tiv e n Werken wendet. Lam or sei ein «образ вы м ы ш ленны й». Dies gehe schon daraus hervor, daß die G estalt des « ваятел ь» des im X I I I . J a h rh u n d e rt spielenden Prologs7 m it Lam or verbunden sei. Diese ״ Verbindung'" (связь) besteht tatsäch- lieh, sowohl in der äußeren Erscheinung als auch weltanschaulich und sogar in konkreten D etails. Das ״gelbe, müde“ Gesicht, die ״ kalten, unguten* Augen

(Девяѵгое Термидора

, S. X III, 193) sind beiden ge- meinsam. Beide verneinen das Leben, sind aber um ihre Gesundheit besorgt und nehmen in genau der gleichen Weise A rzneitropfen ein

(Девят ое Термидора

, S. X V , 344). Beide sind vom ״östlichen*4 Т у- pus und, verm eintlich, getaufte Juden

(Девятое Термидора

, S. X II, 258). Beide sind ungeklärter H erkunft und beide Menschenveräch- te r und Pessimisten. A llerdings w ird das sie umgebende Dunkel im Falle des «ва яте л ь» , der den ״ Penseur"‘ oder ״ D iable Penseur“ auf einem der T ürm e der Kathedrale

Nôtre Dame de Paris

schuf, etwas aufgehellt.8 A u f den vom A nblick der Statue ausgelösten entsetzten A u s ru f des Mönchs: ״ N ein, Freund, so etwas hättest D u nicht machen sollen, ein H olm is t dies und eine Sünde!44, antw ortet der B ildhauer m it ״ dum pfer“ S tim m e: ״ Kein Hohn is t es. Ich würde m ich selbst doch nicht verhöhnen“

(Девятое Термидора

, S. X IX ).

111 dem ״ D iable Penseur“ hat also der B ildhauer ein wenn auch sym bolisch travestiertes A b b ild seiner selbst geschaffen, und daraus

7 Lam or nennt im Gespräch m it Talleyrand ausdrücklich das X III. Jahrhundert das

«замечательное с то л е ти е » , in welchem die ״ besten Menschen“ schon begannen, an die A llm acht der Vernunft zu glauben ( Ч ортоѳ м о с т , S. 114) — eine Entwicklung, die allerdings durch die Inquisition jäh unterbrochen wurde.

8 Die Beschreibung der Statue gibt Aldanov am Schluß des Д евятое Термидора:

« Н а перилах сидело каменное чудовище. О пустив голову на худые р у к и , накло- нив н и зкую ш ею, п о к р ы т у ю черной тенью крыльев, раздувая ноздри го р б а то го носа, вы сунув язы к над прям ой звериной гу б о ю , бездуш ньш и, гл уб о ко засевши- ми глазам и в п р о п а сть, где копош ились л ю д и , темный, р о га ты й и страш ны й, см отрел < М ы сл и те л ь> » ( Д евятое Термидора, S.375).

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk 17

(18)

muß m an wieder schließen: der B ildhauer des X III. Jahrhunderts und Lam or sind Inkarnationen des in der W elt zu allen Zeiten existieren- den P rinzips der Verneinung der Menschheit und der W elt wie sie ist, w id e rve rn ü n ftig und wohl hoffnungslos dem Bösen verfallen. Sie vor- tre te n die V ernunft, die als solche keineswegs das Böse is t. W ohl ist aber der M angel am Gebrauch der Vernunft oder, noch schlim m er, ih r M ißbrauch (u n te r anderem auch durch Fanatiker des V ernunftglau- bens) böse. Der Mensch gebraucht die ihm gegebene wenige V ernunft , um ״tierischer als jedes T ie r zu sein“ , wie es im

Prolog im Himmel

von Goethes

Faust

steht (V . 216). Doch le id e t der Mensch selbst unter dieser Spaltung zwischen der ihm zuteilgewordenen Gabe der V e rn u n ft, des ״ Scheins des H im m elslichts“

(Faust,

V . 284), und ih- rem M ißbrauch, so daß Aldanovs weltverneinende G estalten tro tz aller Menschenverachtung doch auch M itle id m it dem Menschengeschlecht em pfinden. M an geht wohl kaum zu w eit, wenn man fe s ts te llt, daß A ldanov bewußt im B ildhauer des Prologs zu seiner Tetralogie, in La- m or und bis zu einem gewissen Grade auch in Braun (T rilo g ie ) den M ephistopheles aus Goethes

Faust,

durch die Zeiten im m er wieder re in ka rn ie rt, darstellen w ollte. A lle drei könnten m it M ephisto sagen:

״ Die Menschen dauern m ich in ihren Jam m ertagen,/ Ich mag sogar die arm en selbst nicht plagen“

(Faust,

V . 297/298).

Aldanovs ausgezeichnete Goethekenntnis steht außer Frage. Goe- the w ird in seinen Romanen sehr oft erwähnt und m ehrm als w ö rtlich z itie rt.9 Angesichts seiner hohen Einschätzung Goethes ist es durch- aus n ich t unwahrscheinlich, daß A ldanov fü r seine weltverneinenden G estalten M ephistopheles als V o rb ild wählte. Sie haben wie M ephisto,

9 Zum hundertsten Todestag Goethes schrieb er in den Современные Записки (N r. *49, 1932, S. 363ÍT.) einen von Bewunderung und E hrfurcht erfüllten, geistvollen A rtik e l, in welchem er a u f das Geheimnisvolle hinwies, das diesen scheinbar so wohlbekannten und genau studierten Menschen, Künstler und ״großen Ratgeber der Menschheit“ um gibt.

« Ч е л о в е ч е ств о до Гете не дорасло и, вероятно, никогда не д о р а сте т. Но от- дельные л ю д и всегда б уд ут дум ать над разгадкой тайны х его советов: ״ Des Propheten tiefstes W o rt/ O ft is t’s nur Scharade“ » (S. 270). — « В катастроф ические врем ена», sagt er in dem gleichen A rtik e l, «м ы особенно обязаны пом нить о бесспор- ном. А Гете бесспорнее всего и в с е х .. . Гете, конечно, самая великая ум ственная ценность и с то р и и » (S. 264).

(19)

tro tz allem irouischen Rationalism us, gleichzeitig etwas Dämonisches, etwas M ystisches, Geheimnisvolles an sich.10

Lam or ist offenbar ein weitgereister M ann (er kennt Colorado und Ceylon aus eigener Anschauung;

Заговор,

S. 36 und 261 262), ein Sonderling m it einem leidenschaftlichen Interesse, wie er selbst sagt:

«из л ю б о п ы тс тв а или из отвращ ения» (

Чортов мостп,

S. 123), an der P o litik und an denen, die sie betreiben: «я знаю всех, э то моя проф ессия» (

Чортов мост,

S.243). E r bezeichnet sich als

״Sam m ler der menschlichen D um m heit“ (коллекционер человечес- кой гл у п о с т и ), doch sei er auch dieser Beschäftigung nun schon über- drüssig (

Заговор,

S.2G2).

W ir erfahren über ihn einiges konkret und gleichsam als A blenkung von der U n w irklich ke it seiner Person aus einem Gespräch Napoleons m it Talleyrand in

Заговор

: E r lebe im Augenblick (1801) als franzö- sischer Agent in Petersburg, während er vorher (1798/99) als franzö- sischer Kom m issar während und nach der R evolutionszeit in Neapel gew irkt habe. M it seinen Berichten und Meinungen sei sehr zu rech- neu (

Заговор,

S. 197). Talleyrand e rk lä rt, er habe nichts D efinitives über ihn erfahren können: ״ Es ist ein geheim nisvoller Mensch m it großer aber ungeklärter Vergangenheit. In zweiten Rollen ״bewegen sich“ (с у е тя тс я ) oft solche niemandem bekannte L e u te ... Wenn ich nicht irre , ist er ein getaufter Jude“ (

Заговор,

S. 198). 111

Девятое

Термидора

w ird er fü r einen Nachkommen der M aranen, «давно вы кр е сти вш и хся и сп а н ски х иудеев», e rklä rt (

Девятое Терма- dopa,

S. 258). N icht redend, in Ruhestellung, e rin n e rt er Š taal’ (den

10 So wenig Goethes Mephisto und der Demon Lermontovs auch miteinander zu tun haben, so ist es doch vielleicht nicht ganz zufällig, daß der Vater Brauns an den De- mon e rin n e rt... Wenn auch Fedos'ev in Б е гство von Brauns «ф аустовский п у ть » spricht (Б е гс т в о , S. 218), so bezieht er sich dam it nur auf sein philosophisches Suchen und Streben; Braun selbst dagegen sieht keine Ähnlichkeit zwischen Faust und seiner Person (Б е гс т в о , S. 223). — M usja, die recht oberflächliche Heldin der Trilogie, verbin- det Braun in Gedanken stets m it Mephistopheles, allerdings aus Gounods Oper Faust.

Die Blumenbeschwörung in der Gartenszene w ird in diesem Zusammenhang mehrmals er- wähnt. — A u f Mephistopheles könnten auch vielleicht solche gelegentlichen Redensarten wie Lamors ״ wenn ich auch nicht allwissend binu (Д евятое Термидора, S. 203; Fatisi, V. 1582) hinweisen.

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk 19

(20)

Helden der T etralogie)11 an einen alten Juden, den alle im In te rn a t von Sklov als gelehrtesten der Rabbiner kannten

(Девятое Термидора,

S. 208). Talleyrand is t nach dem langen Gespräch m it Lam or erstaunt über den Ausdruck unendlicher M üdigkeit auf dessen Gesicht. « B э т у м и н у т у ему на вид можно было дать сто лет. М о р щ и н ы на его во сто чн о м лице сл о ж и л и сь так п л о тн о , ч то раздви- н у т ь и х казалось тр у д н о , не порвав т о т ж е л ты й пергам ент»

(

Чортов мост,

S. 127). Der Überdruß und die M üdigkeit des um - getriebenen alten Widersachers (er scheint, wie sich aus seinen Reden e rg ib t, tatsächlich die ganze W elt zu kennen) werden an solchen wie- derkehrenden Hinweisen besonders deutlich. Der m itleidige Böse ist ü b e rsä ttig t von dem Ü bel, das er überall sieht. Napoleons U rte il über ih n : ״ E in unerfreulicher (то с к л и в ы й ), böser G re is ... Das ist kein Mensch, sondern eine M o tte ... Ich kann keine Skeptiker leiden“

(3a- говор,

S. 197), w ird von Napoleon selber später re v id ie rt: ״ Ich kannte am Anfang m einer K arriere einen seltsamen Greis. E r hatte einige Namen und niem and wußte genau, wer er eigentlich sei. Selbst meine Polizei wußte es nicht. W itzb o ld e nannten ihn den Ewigen Ju d e n ...

Je tzt entsinne ich m ich seiner Ideen. — E in kluger Mensch war er und von scharfsinnigem U rte il, jedoch w irk lic h handeln, etwas w irk lic h tu n konnte er gar nicht. V ie lle ich t w ollte er auch nicht. V ielleicht wußte er auch nicht wie. E r sagte m ir im m er voraus, daß der Ruhm m ich verderben w ürde“

(С вят ая Елена,

S. 126-128).

Das K onkrete und das M ysteriös-Ü bersinnliche in Lam or werden in der Tetralogie m it A bsicht ständig verwoben. E r taucht stets wie aus dem D unkel in Episoden auf. Man sieht seine Gedanken nie in seinem K o p f reifen; sie werden nur, b rilla n t fo rm u lie rt, ausgesprochen.

Auch die M itm enschen werden nie m it seinem ,inneren Auge1 gesehen.

A lle in m it sich selbst w ird er überhaupt nicht gezeigt. Die Folie des Anderen is t im m er da, sehr im Gegensatz zu den übrigen handelnden

11 Über StaaJ’ vgl. C. Nicholas Lee, The Novels o f M ark AleksandroviC Aldanov, The H ague/Paris 1969, S. 57/58, dessen Ausführungen man nur beipflichten kann. V g l. auch die Besprechung von Заговор von M. Osorgin in den Современные Записки, N r .33,

(21)

Personen, deren eigene Gedankengänge, Meinungen und Beziehungen ausführlich re fe rie rt werden und so das schaffen, was man einen Cha- ra k té r nennt. Lam ors eigener, sehr eigenwilliger C harakter zeigt sich n u r in seinem Redefluß in Dialogen, den er selbst als « б о л тл и в о сть » bezeichnet und dessen T hem atik und Niveau sich nach dem geistigen N iveau und der S tellung des jeweiligen G e s p rä c h s p a rtn e rs richten.

Es sind dies der jugendliche Š ta a l’ , der Chemiker und Idealrevolutio- när B e a u re g a rd (Boregar), m it dem er im Gefängnis, die H in rich tu n g erw artend,12 ein philosophisch sehr bedeutendes Gespräch fü h rt

(Д е- вятпое Термидора

, S.337ff.), der M ystiker und A lch im ist B a ra ta e v , der ih m seinen « уто м и те л ь н ы й пессимизм» v o rw irft und von seiner

« б о л тл и в о с ть » ominös m eint, sie käme ״ vom Teufel“ (о т дьявола) (

Чортов м ост ,

S. 244), und als historisch reale Person T a lle y ra n d , m it dem er über Geschichte, P o litik und M etaphysik spricht (

Чортов м ост ,

S. 108ff.). A ls Redner und Diskussionspartner t r i t t er in

Заго- вор

bei dem Em pfang im Hause des Generals T a ly z in auf, wobei er als K ritik e r des Freim aurertum s, dem er selbst angehört, wohl seine schärfsten Paradoxe zum besten g ib t.

D urch diesen ,teuflischen‘ Redefluß erreicht A ldanov, was er of- fenbar bezweckt: Lam or ve rlie rt an R ealität (tro tz d e ta illie rte r Be- Schreibung seines Äußeren, wie schon im Falle des «ваятель» im Pro- log) und gew innt die A u ra des Mephistophelischen, des U nw irklichen, des fast Allw issenden und dabei doch physisch Gegenwärtigen. Me- phistopheles gleich, entw ickelt er, wie schon erw ähnt, zuweilen auch verstehenden H um or angesichts der Schwächen der Menschen, ja er ist selbst zum M itle id m it ihnen fähig, wie zum Beispiel im Fall der neapolitanischen R evolutionäre, deren grausames Schicksal er voraus- sieht

(Чорт ов мост ,

S .242), oder im Fall der g u illo tin ie rte n G i- rondisten (

Девят ое Термидора,

S. 249). Selbst fü r die M y s tik sei- nes ,Gegenspielers‘ Barataev hat er volles, wenn auch n u r theoreti- sches Verständnis, und seine Betrachtung über die platonische Liebe

13 Hingerichtet w ird allerdings nur Boregar. Lamors Name steht, obwohl er verurteilt wurde, mysteriöserweise ״ nicht a u f der Liste“ . Wieder ein Hinweis a u f seine nicht ganz irdische A rtu n g !

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk ‘21

(22)

(

Заговор

, S. 105/106) zeugt von tiefem Einfühlungsverm ögen in die menschliche Psyche. Selbst die Träne, die St aal’ bei der Rückkehr nach Frankreich a u f seiner Wange sieht

(Девятое Термидора,

S. 209), ist bezeichnend...

D ie T h e m e n von Lam ors Gesprächen wiederholen und verschlin- gen sich, jedoch in im m er neuen, frappierenden K om binationen und sprachlich einprägsamen Form ulierungen. D om inierend ist das The- ma G e s c h ic h te als Summe der Zufälligkeiten, die den n a tü r lic h e n Z u s ta n d des Menschen abgelöst hat, ohne daß das W achstum des Bewußtseins und d a m it, sollte man meinen, der V ernunft an dem G rundzug der w eit überwiegenden M ehrzahl der M enschheit, näm - lieh ih re r D u m m h e it, v ie l verändert hätte. Die Geschichte m it ihren

sub specie aeternitatis

sinnlosen Kriegen und R evolutionen, bei de- nen der im G runde zufällige E rfo lg und der illusorische F o r ts c h r itt bestim m ende U rte ils k rite rie n sind, w ird zuzeiten gelenkt durch ein un- begreifliches ״ Schicksal“ (р о к ) und beeinflußt durch die Existenz der W e lte n A u n d В im einzelnen Menschen und in den V ö lk e rn .13 M it der D um m heit ist m eist das B öse eng verbunden. Seine sehr reale Existenz lie fe rt Lam or im m er wieder den ungezwungenen Übergang von der Geschichte zur E th ik (das Sittengesetz) und M e ta p h y s ik (die U n ste rb lich ke it der Seele). K u ltu r und K unst sind m it der Ge- schichte n a tü rlic h eng verwoben. — Diese Themen gehen zuweilen bewußt durcheinander, doch ergeben sie sich zwanglos aus der jew ei- ligen S itu a tio n und werden je nach dem Gesprächspartner v a riie rt.

Das Gleiche g ilt auch von Brauns Gesprächen, nur daß der The- m enkreis, was die Fakten b e trifft, naturgemäß w eiter ist: es liegen im - Hierhin ca. 150 Jahre dazwischen. Brauns Gesprächspartner ist fast durchweg Fedos’ev, doch in seinen gesellschaftlichen Konversationen überhaupt sowie insbesondere in seinen Dialogen m it K le r v ill5

(Пещ е- pa

I, S. 206-216), m it V itja

( Пещера

II, S. 90-100) und vor allem in seiner großen Xiebesszene‘ m it M usja

( Пещера

II, S. 242-262) fin - det sich vie l W eltanschauliches und P rinzipielles, ob nun Philosophie,

13 Darüber Weiteres unten.

(23)

L ite ra tu r, Geschichte oder P o litik gestreift werden.

Lam ors Skepsis, sein Kulturpessim ism us, sein A n tih isto rism u s, sei- 11e Menschenverachtung, sein scharfer, ironischer In te lle k t sind nicht ohne ,L ichtblicke‘ : dem seiner W eltanschauung d ia m e tra l entgegenge- setzten Barataev, der sich darüber w undert, wie m an den M u t haben könne, über etwas zu spotten, wovon man keine V orste llu n g habe (.3a-

говор

, S. 38), und der ih n als seelenlos bezeichnet (

Заговор

, S. 40), e rw id e rt Lam or, er stehe der M y s tik Barataevs in vielem bedeutend näher als dieser glaube:

« ...е с т ь сим волы гл у б и н ы , есть ве л и ч е ств е н н а я по- эзи я м ы сли» (

Заговор

, S.39).

« В ы го в о р и те , я все ненавиж у. Э т о неверно. Я м ногое л ю б л ю . П р и р о д }' очень л ю б л ю . Н е то ч то к а к у ю -н и б у д ь д ол ину К ол орад о (к р а с и в е й я ниче- го не в и д а л ), — нет, сам ую о б ы кн о в е н н ую п р и р о д у : гд е есть вода и солнце и зелень, там и ч уд е сн о . Д а- же в вашем п е те р б ур гско м холодном ве тр е е сть своя п р е л е сть. М у з ы к у тож е очень л ю б л ю . У м н ы е кни- г и еще больш е л ю б л ю . Т о л ь ко ум и т а л а н т ведь и ж и в у т вечно. Н у , не вечно, та к д о л го .» (

Заговор

, S. 3 6 /3 7 ).14

A11 der menschlichen Psychologie ist Lam or besonders interessiert, und es geht aus seinen W orten hervor, daß A ldanov schon zu dieser Zeit seine später von Braun in

Ключ

ausführlich entw ickelte Theorie von den zwei W elten im Menschen, die B raun «из у ч е н о го педан- тизм а и для уд о б ств а излож ения»

(К лю ч,

S. 210) als Wre lt A und W elt В bezeichnet, konzipiert hatte; diese Theorie durchzieht das gan- ze W erk Aldanovs und is t fü r das Verständnis seiner W eltanschauung von entscheidender Bedeutung. Braun sagt zwar, daß es sich nur um

14 Braun wurde Übrigens auch beschuldigt, alles zu hassen und eine ״attilistische“ Ein- Stellung ги allen Werten zu haben (Клю ч, S. 207), obwohl dies auch in seinem Fall nicht immer seinem Verhalten entspricht.

Die philosophischen A spekte von M ark A ldanovs W erk 23

(24)

eine Seitenbemerkung handle, aber er m eint d a m it offenbar nicht die Theorie selbst, sondern nur die Term inologie, die er der ״ Bequem lich- k e itw wegen wählte.

In der Seele eines jeden Menschen existieren zwei W elten A und B.

W elt A is t die ״ sichtbare, eingespielte“ (м и р вид им ы й, н а и гр а н - н ы й ), W elt В die verborgene und deshalb echtere, aber nicht unbe- d in g t böse W elt. Diese W elten widersprechen sich diam etral, wenn sie sich zuweilen auch berühren können. Die W elt В ist keineswegs das U n- oder Unterbewußte. Sie ist «постояннее и у с то й ч и в е й » als die W elt A. Alles Irra tio n a le stam m t zwar aus ih r, doch könnte der Mensch seine W elt В sehr wohl sehen und erkennen. E r sieht sie aber n u r selten, wenn überhaupt, denn sein Denken ist in dieser Beziehung träge. So lebt er in seiner sim ulierten W elt A und n u r zuweilen kom m t die echte W elt zum Vorschein. Im e in z e ln e n Menschen is t keine die- ser W elten !)esser oder schlechter, gut oder böse, — es handelt sich um das S im ulierte und N ichtsim ulierte, Echte, wobei allerdings durch das lange Sim ulieren beides durcheinander kommen kann und der Mensch das S im ulierte vom Echten selbst nicht mehr kla r zu unterscheiden weiß. ״ W irklich e Schurken g ib t es in der W elt selten“ , heißt es in

Клю ч

(S. 211). Nach dem V erhältnis dieser beiden W elten zueinander sollten die Menschen analysiert und b e u rte ilt w׳erden.15

Anders steht es dam it allerdings in der Geschichte. Auch ,gesell- schaftliche K o lle k tiv a ‘ , die Staaten, haben ihre n ich tsim u lie rte W elt B. Diese W elt aber ist im m e r böse, und sie b rich t schicksalhaft in gewissen Abständen als Revolutionen und Kriege, die von der К reu- zung von Zufallsketten ausgelöst16 werden, hervor. Diese vom Z u fa ll bedingte schicksalhafte N otw endigkeit des Durchbruchs nennt B raun

« р о к» ; es ist der rätselhafteste aller menschlichen Begriffe

(К л ю ч,

S. 214 und 152).17 Die durchbrechende ״schwarze W e lt“ is t urböse und

15 Von den Staatsmännern meint Braun: «В прочем , я всегда д ум ал, ч т о го*

сударственные лю ди позволяю т себе роскошь иметь два суж дения: в п о л и ти - ческой работе и в частной ж изни, и ни один искренний п о л и ти ч е ски й деятель п р о ти в э т о го возраж ать не будет» (Клю ч, S. 155).

Ів S. meinen Aufsatz Anm . I.

17 Auch in dem Schauspiel Л иния Брунгильды spielt diese Theorie eine wichtige Rolle

(25)

ein kra n kh a fte r W ahn, der durch die in jedem Menschen schlum m ern- de ״ Bosheit und H irn lo sig ke it“ (злоба и безумие;

Клю ч,

S. 214) zu erklären ist. Verglichen d a m it wäre der absolute Egoismus aller ein glücklicher Zustand, da jeder von seinem persönlichen Interesse gelei- te t wäre und, der menschlichen N a tu r gemäß, nicht das Böse an sich wollen würde.

Lam or bezeichnet sich schon im ersten Gespräch m it S taal’ als Fata- liste n

(Девят ое Термидора,

S. 198) und w iederholt es ausdrücklich:

«Я как древний ессей [Angehöriger einer jüdischen Sekte im II.

J h d t. v. C hr.; V . S.] верю в неотразим ость суд ьб ы . Э то даже единственное, во ч то я в е р ю ...»

(Девятое Термидора,

S .207).

W ie auch Braun s te llt er fest:

« Л ю д и ч у в с т в у ю т время от времени п о тр е б н о сть ски - н у т ь с себя соверш енно все цепи так назы ваем ой кул ь- т у р ы . О чень м ож ет б ы ть, э та п о тр е б н о сть вполне законна и для ч е го -то необходим а природ е» (

Д евя

-

тое Термидора,

S. 198).

M odern ausgedrückt, hieße das: Die Ausartungsbereitschaft des Antriebslebens im Menschen, die das Chaos w ill, ist im m er vorhanden.

Der Mensch w ird n a tü rlich , und alles w ird m öglich. Fedos^v, seiner S tellung entsprechend und seiner Weltanschauung folgend, erw idert B raun, daß es m öglich sein sollte, den «черны й м ир» zu bändigen:

« З а х л о п н у ть бы черны й м ир и запереть надеж ны м клю чем »

(К лю ч,

S.214). W iederum modern ausgedrückt, handelt es sich um die S tabilisierung der Ausbruchsbereitschaft durch staatliche In s titu - tionen.

Auch Lam or m eint: ״ In jeder Menschenseele schlum m ern lastende Leidenschaften (тяж елы е с т р а с т и ): Neid, G rausam keit, Ehrsucht, Zerstörungsw ut, ja einfach der D urst nach dem Bösen (ж аж д а зла) in allen seinen G estalten.“

(vgl. meinen Aufsatz: Z u fall und Schicksal: M ark Aldanovs Schauspiel ,L in ija B ru n g iV d y \ in: j4rs Philologica Slavica, Festschrift für Heinrich Kunstm ann, München 1988, S. 439־

447).

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs W erk 25

(26)

« З а ко н , вл а сть , го с у д а р с тв о тол ько для то го и н у ж - ны , ч то б ы сд е р ж и ва ть зверя железом. Э т о т с та - ры й р а с п у тн ы й и д и о т — я им ею в ви д у Ж а н -Ж а к а Р уссо — ч т о -т о лепетал об естественном со сто я н и и лю д ей. В о т-б ы ему теперь в о с к р е с н у ть , п у с т ь бы п о л ю б о в а л ся , а? Е сл и человек на п я тьд е ся т лет ве р н е тся к своем у естественном у со сто я н и ю , то м ир п р е в р а ти тс я в о кр о ва вл е н н ую п у с ты н ю . К с ч а с ть ю не на сто л ь прод ол ж и тел ьное время. И м с к о р о и э то надоедает. Н о п о тр е б н о сть с та ть дикарем неис- кореним а в человеке, и ей Господ ь Б о г дает вы хо д либо в форме войны , либо — горазд о реже — в форме р е во л ю ц и и . П о природ е война и р евол ю ц и я соверш енно тож д ественны , тол ько первая п р и в ы ч - нее лю д ям и вы зы вает меньше уд ивл ения. О с у ж - д ать те р р о р во врем я револю ции не менее гл у п о , чем о с у ж д а ть у б и й с тв о во врем я войны . Б е скр о вн а я ре- в о л ю ц и я та ка я -ж е смеш ная нелепость, как б е скров- ная в о й н а ... »

(Девятое Термидора

, S. 199)

« С е р д и ть с я на р е во л ю ц и ю — все равно ч т о сер- д и ть с я на Л и сса б о н ско е зем летрясение»

(Девят ое

Термидора

, S. 200).

A u f diese Parallele kom m t Lam or in seiner nächsten Episode wieder zurück:

« Р е во л ю ц и я т в о р и т ь не м ож ет. Е д и нственная ее за- с л у га : после нее все п р и х о д и тс я с т р о и т ь заново. А и н о гд а , (далеко не всегда, в п р о че м ), новое в ы х о д и т л уч ш е с т а р о г о ... Н о э т у з а с л у гу ф ранцузская ре- в о л ю ц и я всецело разделяет с Л и сса б о н ски м земле- трясением »

(Девят ое Термидора

, S. 255).18

!в Hier w ird die Theorie Brauns von den elementaren Ausbrüchen in der Menschheits- geschichte besonders deutlich.

(27)

A u f den Einwand S taal’s, es gäbe doch einen Unterschied zwischen K rie g und R evolution, d o rt töte man fremde Feinde, hier eigene M it- bürger, Menschen des eigenen Volkes, erw idert Lam or, man tö te die eigenen M itb ü rg e r, Menschen des eigenen Volkes, während der Re- v o lu tio n ״ m it vie l größerem Vergnügen“ (с горазд о больш им уд о- во л ьстви е м ) als die äußeren Feinde in Kriegszeiten. E r sieht den Unterschied n u r d a rin , daß in der R evolution alles antiästhetisch sei:

Schlacht ohne Fahnen und ohne Kavallerieattacken; die A n fü h re r ohne Degen und «м унд иры ». Eine schmutzige Volksmenge ohne D iszip lin , und vor allem «разливное море слова»

(Девятое Термидора

, S.200). A u f das revolutionäre, politische Geschwätz, überhaupt auf das Geschwätz der P o litike r, kom m t Aldanov m it Verachtung und W i- derw illen o ft zu sprechen. Lam or m eint, jede Seite der revolutionären Zeitungen komme ih m vor wie eine Nacherzählung von Rousseaus Ide- en, von einer « м а л о гр а м о тн а я го р н и ч н а я »

(Девятое Термидора

, S. 200) geschrieben...

F ü r das in Aldanovs Romanen dom inierende Them a der Geschieh- te is t die Frage nach der Beziehung von Z ufall und unabwendbarer, notwendiger Schicksalsbestimmung besonders w ichtig. F ü r den von B raun als der ״ rätselhafteste aller menschlichen Begriffe“ bezeichne- ten «рок» ist in der Weltanschauung Aldanovs, wie sie in

Ульм ская ночь

entw ickelt w ird , kein rechter P latz vorhanden. Wenn a lle s Zu- fa ll is t, v e rlie rt der B egriff «рок» seinen Sinn, was A ldanov wohl kla r war, denn sonst würde er ihn nicht als den ״ rätselhaftesten“ bezeich- neu. Im m erhin unterscheidet er selbst zwei A rte n von Zufälligkeiten:

die u n m itte lb a re n und die entfernten.19 Aldanov m eint, es gebe in der klassischen Philosophie keine genaue philosophische D e fin itio n des Zu- falls

(У л ьм ска я ночь

, S .50/51). Es g ib t sie aber bei Schopenhauer, was A ldanov vie lle ich t nicht ohne Absicht übersieht, da Schopenhauers Folgerungen m it seiner Skepsis nicht gut zu vereinbaren sind. Die De- fin itio n steht in den

Parerga und Paralipomena

im vierten A b sch n itt:

Transzendentale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im

19 S. Ульмская ночь, S. 52; vgl. dazu meinen in Anm . 1 genannten Aufsatz, S. 113/114.

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk 27

(28)

Schicksale des Einzelnen.

Daß A ldanov sie kannte, d a rf man wohl m it Sicherheit annehmen. Diese D e fin itio n la u te t: ״ ,Z u fä llig ‘ bedeu- te t das Zusam m entreffen in der Z e it, des kausal nicht Verbundenen“ .20 Schopenhauer e rlä u te rt aber: Es gebe nichts a b s o lu t Zufälliges, denn gehe man, die K ausalkette oder das Kausalnetz verfolgend, w eit ge- nug in der Z e it zurück, so werde m an finden, daß das Z ufällige nur a u f e n tfe rn te s te m Wege herangekommen sei, und man werde einse- hen müssen, daß sich das Z ufällige doch notwendig ergab und daß es gerade je tz t eintreten m ußte. Bei Schopenhauer heißt es:

״ Jede Begebenheit näm lich is t das einzelne G lied einer K e t- te von Ursachen und W irku n g e n , welche in der R ichtung der Z eit fo rtsch re ite t. Solcher K e tte n g ib t es aber unzähli- ge, vermöge des Raums neben einander. Jedoch sind diese nicht einander ganz frem d und ohne allen Zusammenhang unter sich, vie lm e h r sind sie vielfach m it einander verfioch- ten: z. B. mehrere je tz t gleichzeitig wirkende Ursachen, de- ren jede eine andere W irk u n g h e rvo rb rin g t, sind hoch herauf aus einer gemeinsamen Ursache entsprungen und daher ein- ander so verw andt, wie der U renkel eines A hn herrn: und andererseits b e d a rf o ft eine je tz t eintretende einzelne W ir- kung des Zusam m entreffens vieler verschiedener Ursachen, die jede als G lied ih re r eigenen K e tte , aus der Vergangen- h e it herankom m en. Sonach b ilden alle jene, in der R ichtung der Z e it fortschreitenden K ausalketten ein großes, gemein- sames, vielfach verschlungenes Netz, welches ebenfalls m it seiner ganzen B re ite , sich in der R ichtung der Z eit fo rtb e - wegt und eben den W e ltla u f ausm acht“ (S. 258/259).

Dies entspricht fast w ö rtlic h Aldanovs K onzeption des « н е п о ср е д - ственны й» und « о тд а л е н н ы й с л у ч а й »

(У льм ска я ночь

, S. 52 und 84). Schopenhauer sagt s ta tt dessen: ״ gerade je tz t“ und ״entfernte- stes“ .

20 Insel Ausgabe o. J. IV , S. 258.

(29)

Schopenhauer w ill zuletzt doch a uf eine w eit entfernte Ur-Ursache hinaus, aus der sich das verschlungene N etz der K ausalketten m it N ot- w endigkeit e rgibt. Diese in der ״ entferntesten Vergangenheit“ (S. 2G0) liegende prim äre Ursache ״ w irk t aus einer Region, die w־e it über unser vorstellendes, individuelles Bewußtsein h in a u slie g t“ (S. 263). Die Ver- schhm genheit der unzähligen Kausalketten, die etwas wie eine ״ prästa- b ilie rte H arm onie“ ergibt, ״ übersteigt unsere Fassungskraft“ (S. 265).

D ie K e tte von Ursachen und W irkungen reicht bis ins U nendliche hin- a u f (S. 266), und so lä u ft es bei Schopenhauer schließlich a uf eine ״ge- heim nisvolle Lenkung“ (S. 267) eines jeden in d ivid u e lle n Lebenslaufs hinaus. Es ist eine A rt M y s tik , die Schopenhauer zwar in sein Konzept vom W ille n als D ing an sich einzufügen weiß, aber als Ganzes doch eine Anschauung, die der Skeptiker A ldanov offenbar n ich t ganz m it- machen kann, obwohl L a m o r eine E ntw icklun g und d a m it W andlung des menschlichen Bewußtseins und Erkenntnisverm ögens in Jahrtau- senden fü r m öglich h ä lt: er n im m t 170000 Jahre an.

A llerdings ist hier zu bemerken, daß Schopenhauer in diesem gan- zen m erkw ürdigen vierten A b sch n itt der

Parerga und Paralipomena

sehr vorsichtig und hypothetisch b le ib t, ja von einem ״ Tappen und Tasten im D unkeln“ spricht (S. 243), was sonst seine A r t durchaus nicht ist.

W'as die Schicksalsnotw׳endigkeit b e trifft, so unterscheidet A ldanov, wie die alten Griechen, zwischen xú^r,, einem Schicksal, in welchem die Rolle des Zufalls reduziert werden kann, und [Joipa, dem Schicksal jenseits jeden menschlichen Einflusses.21 Auch d a fü r fin d e t sich bei Schopenhauer eine ziem lich genaue Parallele: E r spricht von demon- strablem und transzendentalem Fatalism us (IV , S. 244-246).

D ie oben erwähnten W'elten A und В im Menschen spiegeln bei Aldanov n a tü rlic h einerseits den Dualism us Descartes^ der ja alles Daseiende in G o tt und W elt und den Menschen in G eist und M aterie spaltete, wie es Schopenhauer ausdrückt (IV , S. 98).

Doch andererseits neigte A ldanov auch der Lehre des P e rs o n a -

г1 V gl. Ульмская ночь, S. 224 und meinen Aufsatz A nm . 1, S. 124.

Die philosophischen A spekte von M ark A ldanovs W erk ‘29

(30)

łis m u s zu, dem n ich t n u r das E rk e n n e n , wie Descartes es w ollte, als entscheidend erschien.22 Der Mensch s te llt sich dem Personalis- mus nicht n u r als durch den G eist e rk e n n e n d dar, sondern auch als w e rte n d und der W ertung entsprechend h a n d e ln d .

Diese E in ste llu n g e rk lä rt, weshalb A ldanov R u d o lf Eucken als Vor- b ild fü r den Professor w ählte, den er in persona auftreten läßt und aus dessen Vorlesung er z itie rt (s.o .). Euckens ,idealistischer A k tiv is - mus‘ , die T a t einer sittlich -g e istig e n P ersönlichkeit, als Gegensatz zu der im m er unpersönlicher werdenden m odernen K u ltu r, zog Aldanov offenbar an. Die Z ita te aus der Vorlesung des Professors, gehalten an der B erliner U n iv e rs itä t u n te r dem T ite l

Das Verlangen nach Frei•

heit und Ew igkeit

, weisen gedanklich und s tilis tis c h klare Parallelen zu Euckens dam als gerade erschienenen Buch

Mensch und Welt. Eine

Philosophie des Lebens

(1918, 2. A uflage 1919, 3. A uflage 1923) auf, so daß an der Id e n titä t des Professors kaum zu zweifeln is t.23

Die Schilderung dieser Vorlesung und des Redners aus Aldanovs eigener Anschauung is t m eisterhaft (

Пещера

I, S. 146). Sie w ird in

Пещера

ze itlich tra n sp o n ie rt und V itja Jacenko zugeschrieben (s.o.).

33 Vgl. meinen Aufsatz A nm . 1, S. 126/127.

33 Diese in deutscher Sprache wiedergegebenen Fragmente, wie sie V itja , alias Aldanov, offenbar sehr genau m itschrieb, besagen, daß alles Streben des Menschen nach innerer gei*

stiger Freiheit des Denkens m it der Religion verknüpft ist, die sich ja m it den ,letzten Dingen* befaßt und sie zu enträtseln sich bemüht. Das Freiheitsstreben w ird stets zu einer A rt Religion, die die Ew igkeit sucht. Das geistige Leben ״ w ird zu bloßem Schein und Schatten, wenn ihm kein Streben zur Ew igkeit innewohntu ( Пещера I, S. 148). Die Menschheit meinte, die Erhellung des eigenen Daseins durch das fortschreitende Verständ- nis des Alls, das die ״Tiefe der Dinge“ eröffnen sollte, erreichen zu können. Doch hat dieses Verständnis nicht zu dem erhofften Ergebnis geführt. Die Dinge sind ״ im m er weiter vor uns zurückgewichen. Das wäre fü r uns freilich niederdrUckend, wenn diese Unermeßlich' keit uns im mer fremd und jenseitig bliebe. Aber sie bleibt es nicht durchaus. Sie braucht es wenigstens nicht zu b le ib e n .. . A n der T a t liegt demnach schließlich alle Vernunft des Lebens... N ur die Tat kann dem Menschen einen Rückhalt geben gegen eine fremde, ja feindliche W elt“ ( Пещера I, S. 149). — Gemeint ist hier gewiß die schöpferische T at.

Das Schöpferische kann dem Menschen diesen Rückhalt geben. Etwas naiv meint V itja später, bei der Ü berarbeitung des G ehörten, die ״ T a t* als ״ Handeln“ (действие) verste- hen zu können (Пещера I, S. 164). Die ״ Taten“ der Spartakisten aber, die ihre Gegner, laut Polizeibericht, ״ a u f viehische Weise niedergemacht“ haben (Пещера I, S. 163), wie er hört und dann in einer höchst eindrucksvollen Szene sieht, kann er m it Euckens T a tb e g riff nicht vereinbaren, denn Eucken versteht die T a t ohne Zweifel als das geistige Schaffen, das inspirierte Schöpfertum.

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