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Transzendentale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im

19 S. Ульмская ночь, S. 52; vgl. dazu meinen in Anm . 1 genannten Aufsatz, S. 113/114.

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk 27

Schicksale des Einzelnen.

Daß A ldanov sie kannte, d a rf man wohl m it Sicherheit annehmen. Diese D e fin itio n la u te t: ״ ,Z u fä llig ‘ bedeu- te t das Zusam m entreffen in der Z e it, des kausal nicht Verbundenen“ .20 Schopenhauer e rlä u te rt aber: Es gebe nichts a b s o lu t Zufälliges, denn gehe man, die K ausalkette oder das Kausalnetz verfolgend, w eit ge- nug in der Z e it zurück, so werde m an finden, daß das Z ufällige nur a u f e n tfe rn te s te m Wege herangekommen sei, und man werde einse- hen müssen, daß sich das Z ufällige doch notwendig ergab und daß es gerade je tz t eintreten m ußte. Bei Schopenhauer heißt es:

״ Jede Begebenheit näm lich is t das einzelne G lied einer K e t- te von Ursachen und W irku n g e n , welche in der R ichtung der Z eit fo rtsch re ite t. Solcher K e tte n g ib t es aber unzähli- ge, vermöge des Raums neben einander. Jedoch sind diese nicht einander ganz frem d und ohne allen Zusammenhang unter sich, vie lm e h r sind sie vielfach m it einander verfioch- ten: z. B. mehrere je tz t gleichzeitig wirkende Ursachen, de- ren jede eine andere W irk u n g h e rvo rb rin g t, sind hoch herauf aus einer gemeinsamen Ursache entsprungen und daher ein- ander so verw andt, wie der U renkel eines A hn herrn: und andererseits b e d a rf o ft eine je tz t eintretende einzelne W ir- kung des Zusam m entreffens vieler verschiedener Ursachen, die jede als G lied ih re r eigenen K e tte , aus der Vergangen- h e it herankom m en. Sonach b ilden alle jene, in der R ichtung der Z e it fortschreitenden K ausalketten ein großes, gemein- sames, vielfach verschlungenes Netz, welches ebenfalls m it seiner ganzen B re ite , sich in der R ichtung der Z eit fo rtb e - wegt und eben den W e ltla u f ausm acht“ (S. 258/259).

Dies entspricht fast w ö rtlic h Aldanovs K onzeption des « н е п о ср е д - ственны й» und « о тд а л е н н ы й с л у ч а й »

(У льм ска я ночь

, S. 52 und 84). Schopenhauer sagt s ta tt dessen: ״ gerade je tz t“ und ״entfernte- stes“ .

20 Insel Ausgabe o. J. IV , S. 258.

Schopenhauer w ill zuletzt doch a uf eine w eit entfernte Ur-Ursache hinaus, aus der sich das verschlungene N etz der K ausalketten m it N ot- w endigkeit e rgibt. Diese in der ״ entferntesten Vergangenheit“ (S. 2G0) liegende prim äre Ursache ״ w irk t aus einer Region, die w־e it über unser vorstellendes, individuelles Bewußtsein h in a u slie g t“ (S. 263). Die Ver- schhm genheit der unzähligen Kausalketten, die etwas wie eine ״ prästa- b ilie rte H arm onie“ ergibt, ״ übersteigt unsere Fassungskraft“ (S. 265).

D ie K e tte von Ursachen und W irkungen reicht bis ins U nendliche hin- a u f (S. 266), und so lä u ft es bei Schopenhauer schließlich a uf eine ״ge- heim nisvolle Lenkung“ (S. 267) eines jeden in d ivid u e lle n Lebenslaufs hinaus. Es ist eine A rt M y s tik , die Schopenhauer zwar in sein Konzept vom W ille n als D ing an sich einzufügen weiß, aber als Ganzes doch eine Anschauung, die der Skeptiker A ldanov offenbar n ich t ganz m it- machen kann, obwohl L a m o r eine E ntw icklun g und d a m it W andlung des menschlichen Bewußtseins und Erkenntnisverm ögens in Jahrtau- senden fü r m öglich h ä lt: er n im m t 170000 Jahre an.

A llerdings ist hier zu bemerken, daß Schopenhauer in diesem gan- zen m erkw ürdigen vierten A b sch n itt der

Parerga und Paralipomena

sehr vorsichtig und hypothetisch b le ib t, ja von einem ״ Tappen und Tasten im D unkeln“ spricht (S. 243), was sonst seine A r t durchaus nicht ist.

W'as die Schicksalsnotw׳endigkeit b e trifft, so unterscheidet A ldanov, wie die alten Griechen, zwischen xú^r,, einem Schicksal, in welchem die Rolle des Zufalls reduziert werden kann, und [Joipa, dem Schicksal jenseits jeden menschlichen Einflusses.21 Auch d a fü r fin d e t sich bei Schopenhauer eine ziem lich genaue Parallele: E r spricht von demon- strablem und transzendentalem Fatalism us (IV , S. 244-246).

D ie oben erwähnten W'elten A und В im Menschen spiegeln bei Aldanov n a tü rlic h einerseits den Dualism us Descartes^ der ja alles Daseiende in G o tt und W elt und den Menschen in G eist und M aterie spaltete, wie es Schopenhauer ausdrückt (IV , S. 98).

Doch andererseits neigte A ldanov auch der Lehre des P e rs o n a

-г1 V gl. Ульмская ночь, S. 224 und meinen Aufsatz A nm . 1, S. 124.

Die philosophischen A spekte von M ark A ldanovs W erk ‘29

łis m u s zu, dem n ich t n u r das E rk e n n e n , wie Descartes es w ollte,

33 Diese in deutscher Sprache wiedergegebenen Fragmente, wie sie V itja , alias Aldanov, offenbar sehr genau m itschrieb, besagen, daß alles Streben des Menschen nach innerer gei*

stiger Freiheit des Denkens m it der Religion verknüpft ist, die sich ja m it den ,letzten Dingen* befaßt und sie zu enträtseln sich bemüht. Das Freiheitsstreben w ird stets zu einer A rt Religion, die die Ew igkeit sucht. Das geistige Leben ״ w ird zu bloßem Schein und Schatten, wenn ihm kein Streben zur Ew igkeit innewohntu ( Пещера I, S. 148). Die Menschheit meinte, die Erhellung des eigenen Daseins durch das fortschreitende Verständ- nis des Alls, das die ״Tiefe der Dinge“ eröffnen sollte, erreichen zu können. Doch hat dieses

D ie W e rte th ik und die Frage nach den « ц е н н о сти » tauchen schon in Lam ors Reden auf: Es kom m t a u f den g a n z e n Menschen, nicht nur a u f sein Erkenntnisverm ögen an. Dem Ausspruch Descartes1 ״cogito ergo suin“ scheint A ldanov das ״ vivo ergo sum “ vorzuziehen. T ro tz des grundlegenden Dualism us und der im m er wieder betonten W id e r- sprüchlichkeit im Menschen (W 'elt A versus W elt B ) b le ib t er doch ein lebendes Ganzes (m it seinen Antagonism en). Gerade a u f die W ide r- spriiche weist Lam or gern und ausdrücklich hin:

«Я хо р о ш о знал В о л ь т е р а .. .и м о гу вас у в е р и т ь , ч то не бы ло бол ьш его реакц и онера в душ е чем э т о т ве- л и ки й с л о в о б л у д — <просветитель>. Н ы неш ны е ре- во л ю ц и о н н ы е болваны непрем енно о т р у б и л и -б ы ему го л о в у , — и по своем у б ы л и -б ы соверш енно п р а в ы ...»

(

Девят ое Термидора

, S. 200)

Lam or sagt w eiter, er habe die m eisten der «соврем енны е знаме- н и т о с т и » persönlich gekannt, bevor sie b e rü h m t w urden: «они т о г - да, до р е в о л ю ц и и , бы ли соверш енно д р у ги е » (

Девят ое Тер- мидора,

S. 200). E r am üsiert sich über steinreiche R evolutionäre, die bereit sind, ih r L e b e n fü r das V aterland zu opfern, dabei habe er aber noch keinen gesehen, der seinen R e ic h tu m geopfert h ätte:

« Э т о не л о ги ч н о , и б о ж изнь, р а зум е е тся , д о р о ж е л ю д ям чем б о г а т с т в о ... О д и н из бесчисл енны х а б с у р д о в , залож енны х в п р и р о д у человека» (

Девятое Термидора,

S. 250). Redet jem and in R evolutionszeiten viel von seiner E h rlic h k e it, so is t das ein u n trü g - liches Zeichen: « З н а ч и т мы имеем дело с м ерзавцем » (

Чортов м ост

, S. 116).

« Н и к то , к с т а т и , та к искренне не в о зм ущ а е тся вся- ким н а р уш е н и е м к о н с т и т у ц и и , и н и к то та к не ка- рает п о с я га те л ь с тв а п р о ти в с у щ е с тв у ю щ е го с тр о я , как л ю д и , за хва ти вш и е в л а сть п о ср е д ств о м го с у д а р - стве н н о го п е р е во р о та » (

Чортов м ост ,

S .241).24

24 V gl. auch das Gespräch m it Talleyrand über M achiavelli, Ч о р то в м о с т ז S. 119.

Die philosophischen A spekte von M ark A ldanovs W erk 31

Es g ib t eben Menschen, die n ich t einen, sondern mehrere Cha- raktere haben «и д о б р ы й д е сято к ум ов на п р и д а ч у » (

Заговор

, S.35). Sehr d e u tlich w ird die V ita litä t des g a n ze n Menschen in Aussprüchen wie: « В е д ь ч е го ж и в о й человек за один день не перед ум ает, а тем более за сем ьдесят лет» (

Заговор

, S .3 5 ).25 Barataev m e in t, Lam or selbst sei ein Beispiel fü r Menschen, die zwar nicht mehrere C haraktere besitzen, aber auch nicht einm al e in e Seele, und er fü g t n ich t ganz logisch h in zu , der Ton seiner Seele sei « тя ж е л , очень тя ж е л и однообразен» (

Заговор

, S.40). Lam or selbst s te llt auch tatsächlich in seinem großen A u ftr itt beim Souper im Hause des Generals T a lyzin fest, er könne sich keinen anderen B e g riff vom Leben vorstellen als einen rein-pessim istischen (

Заговор

, S .60).26 D enn so p o s itiv er auch ״ lebensvolle Menschen“ , die nicht bloß « р а с с у ж д а ю - щ ие а в то м а ты » sind, bew ertet (

Заговор

, S. 58), so bedauert er doch, daß diese lebendigen Menschen heutzutage kein einziges ethisches A x i- о т aufzuweisen haben, von dem ausgehend sie ihre « р а ссуж д е н и я » entwickeln könnten. H ie r w ird d e u tlich die W e rte th ik (M a x Sehe- 1er, N icolai H a rtm a n n ) g e stre ift, wie es schon in

Ульм ская ночь

ge- schah. «Я не знаю в настоящ ее врем я н и одной о б щ е п р и зн а н - ной ц енно сти » (

Заговор

, S. 58). Die W erte bleiben im m er bestehen, doch schwanken das Interesse und das G efühl fü r ih re Bedeutsam keit im Laufe der Geschichte im Bewußtsein der Menschen (eine These, die N icolai H a rtm a n n in seiner

Ethik

(1962) entw ickelt). Bei der amüsan- ten Kontroverse m it T a ly z in über die Sklaverei (bzw. die Leibeigen- schaft) gesteht Lam or:

« М о ж е т б ы ть , в м оей д уш е есть и та ка я ч а с ти ц а , ко- то р а я ж а ж д е т п о л н о й со б стве н н и че ско й в л а с ти над человеком . Е с л и я в ы р о д о к, тем хуж е . Н о я э т о го не д ум а ю » (

Заговор

, S. 58/59).

35 Ähnlich denkt, wie w ir erfahren, Braun: « . . . я ж ивой человек, а не м аш ина для вы р а б о тки < с тр о й н о го образа мыслей> и, как ж ивой человек, п о д д а ю сь в п е ч а тл е н и я м ... » (К лю ч, S. 225).

36 Braun fo rm u lie rt dasselbe etwas anders: «ведь для меня оптим изм и гл у п о с т ь нечто вроде с и н о н и м о в ...» (К лю ч, S .346).

Die gefährliche W elt В im Menschen, die W id e rsp rü ch lich ke it in der Seele — ״ W er weiß, aus welchen In s tin k te n sich die besten mensch־

liehen G efühle zusammensetzen, welcher Erreger (п о б у ж д е н и я ) die sogenannten «д облестны е п о д в и ги » herbeiführen“ — w ird hier be- sonders k la r hervorgehoben. « Ш а т к а я , ш а тка я вещ ь человечес- кая д у ш а , во т у ж из нее н и ка к нельзя сд ел ать и схо д н о е поло- ж ение: н и ч е го хо р о ш е го не п о с тр о и ш ь » (

Заговор

, S.59). Jeder Mensch hat etwas, was fü r ih n das A llerrealste, das Allerechteste ist.

Lam or m eint, fü r ih n selbst sei aus seinem langen Leben nur der ״ W is- sensdurst“ (ж а ж д а знаний;

Заговор

, S. 60) übriggeblieben. Doch ist unsere E rkenntnism öglichkeit sehr beschränkt. So b le ib t nur der G lau- be an das .Jenseits, der fü r die große Menge der M enschheit erhalten werden sollte, wenn n ö tig m it Scheiterhaufen, wie es die In q u is itio n

___ « «

ta t. Die diabolische Ironie Lam ors t r i t t in solchen Äußerungen kla r hervor, 11111 so m ehr als er den nach der französischen R evolution verlo- renen G lauben und d a m it den ebenfalls verlorenen Sinn des Lebens bei der großen Menge nicht durch ein diabolisches, sondern durch ein b il- liges, ״ skeptisches Lächeln“ (с к е п ти ч е с к а я у л ы б о ч к а ) ersetzt sieht.

« П р е ж н и й см ы сл ж изни п о те р я н , новы й не найден» (

Заговор

, S.61). Deshalb steht die W elt je tz t vor dem Chaos. Den Ausweg aus diesem D ilem m a versuchte A ldanov eben im Personalismus und dem ihm nahestehenden Denken Euckens zu sehen. Der ,Neuidealism us‘

Euckens, die M ö g lich ke it, den Menschen als Person am E rkenntnispro- zeß, am Geistesleben als teilnehm end z ìi betrachten, schien Aldanov wohl die einzige R ettu n g zu sein. Daß der S keptiker A ldanov an die- se M öglichkeit w irk lic h g la u b te , is t wohl kaum anzunehmen. Doch ist es keineswegs eine « ске п ти ч е ска я у л ы б о ч к а » , m it der er die W elt sieht, sondern ein schmerzliches Staunen über die D um m heit der meisten. N icht um sonst z itie rt er in

Ист оки

M ontaignes Ausspruch:

«Tous les m aux de ce monde viennent de l ’ânerie» (

Ист оки

I, S. 22), und Lam or fo rm u lie rt prägnant: « О б л а с ть п о л н о м о ч и й зд р а во го см ы сла в ж и зни до см еш ного м ала» (

Заговор

, S. 106).

Typisch fü r Lam ors Redeweise und ein w eiterer, am üsanter Beleg Die philosophischen A spekte von M ark A ldanovs W erk 33

fü r die W id e rsp rü ch lich ke it im Menschen is t seine Bem erkung über die russische P o rtra itk u n s t bei der B etrachtung der Bildnisse im

Михай- лоѳский зам ок:

« Л у к а в ы е л ю д и ваш и п о р т р е т и с т ы ... Р и суе т чело- век э т а к о го ве л ьм о ж у: ка ко й блеск, ч то за величие.

А см о тр и ш ь — ч е го -т о вельм ож е не хв а та е т. Ч е- го бы? Д а , ко л ьц а в н о су — перед то б о й то чн о ра зо д е ты й д и к а р ь . Я п р е у в е л и ч и в а ю , конечно, но ч т о -т о е сть дикое и стр а ш н о е в н е ко то р ы х из э т и х п о р тр е то в » (

Заговор

, S.258).

Der soeben erwähnte Ausspruch M ontaignes schlägt eines der G rundthem en der Gespräche Lam ors an und ist d a m it auch ein wich- tig e r F aktor der W eltanschauung Aldanovs. Im Prolog zum

Д евя-тпое Термидора

z itie rt der B ild h a u e r m ehrmals den Ecclesiasten und, im H in b lick a u f den p lötzlichen Tod des großen Sultans Saladin und a uf das Leben und den Tod anderer vom Ehrgeiz e rfü llte r Herrscher, tu t er den lapidaren Ausspruch: « В о о б р а ж е н и е Т в о р ц а велико, но неб есконечно. Б е ско н е чн а в м ире тол ько человеческая гл у п о с т ь »

(Девят ое Термидора

, S .X V ). Dieses M o tto könnte als Schlüssel zu der Geschichtsphilosophie Aldanovs dienen.

Die Geschichte der M enschheit is t eine A ufzählung der Beweise fü r die menschliche D um m h e it (oder doch außerordentliche Beschränkt- h e it der U rte ils fä h ig k e it). In der B eu rteilung der Geschichte und ih re r E ntw icklun g s tim m t A ldanov wieder weitgehend m it Schopenhauers U rte il überein: Eine W issenschaft im eigentlichen Sinne ist, nach Scho- penhauer, die Geschichte n ich t, w eil sie n ich t allgemeine W ahrheiten, sondern n u r einzelne D inge zum Gegenstand hat (V , S. 487):

״ Der S to ff der G eschichte... is t das Einzelne in seiner E in - zelheit und Z u fä llig k e it, was einm al is t und dann auf im m er nicht m ehr is t, die vorübergehenden Verflechtungen einer wie die W olken im W in d e beweglichen Menschenwelt, welche o ft

durch den geringsten Z u fa ll ganz um gestellt werden. Von diesem S ta n d p u n kt aus erscheint uns der S to ff der Geschieh- te kaum noch ein als ein der ernsten und mühsamen Betrach- tung des Menschengeistes w ürdiger Gegenstand, des Men- schengeistes, der, gerade w eil er vergänglich is t, das Unver- gängliche zu seiner B etrachtung wählen so llte “ ( II, S. 1216).

Die Geschichte g ib t vor, stets etwas anderes zu erzählen, doch ist das Tun, Treiben und Leiden der V ö lke r im m er dasselbe, und die Geschichte is t wie ein Kaleidoskop, welches bei jeder W endung eine neue K o n fig u ra tio n zeigt, während w ir eigentlich im m er dasselbe vor Augen haben ( II, S. 1260). Vom A nfang bis zum Ende w iederholt die Geschichte stets dasselbe unter anderem Namen und anderem Gew׳a11- de ( II, S. 1219). Sie erzählt von la u te r Kriegen und R evolutionen (V , S. 439). — A ldanov m acht es sehr k la r, daß die Französische Révolu- tio n und die russische R evolution dasselbe in anderem Gewände sind, wenn man die Tetralogie und die T rilo g ie vergleicht. Der U rsprung a lle r Kriege aber is t Diebesgelüst. Sobald ein V o lk einen Überschuß an K rä fte n s p ü rt, fä llt es über die Nachbarn her, um sich den E rtra g der Errungenschaften ih re r A rb e it anzueignen. Das g ib t ״ den S toff zur W eltgeschichte und ih re r H eldentaten“ (V , S. 489).

D ie R evolutionen erklären sich aus dem grenzenlosen Egoismus,

״ der fest in jeder Menschenbrust n is te t, zu welchem meistens noch o ill angchäufter V o rra t von Haß und Bosheit sich gesellt“ (V , S. 270).

V iele M illio n e n so beschaffener In d ivid u e n sollen in den Schranken der O rdnung, des Friedens, der Ruhe und G esetzlichkeit gehalten werden, während doch ursprünglich jeder das Recht h at zu jedem zu sagen:

״ Was Du b is t, b in ich auch!“ W ürde man den Menschen, die n u r ih r Interesse im Auge haben, V e rn u n ft, Recht, S ittlic h k e it, M oral predi- gen, so w ürde man n u r Hohngelächter zur A n tw o rt erhalten, falls diese V e rn u n ftp re d ig t gegen ihre Interessen ginge. Es hülfe also allein die G ew alt, die der S taat gebrauchen müßte. Doch is t die w irk lic h physi- sehe G ewalt n u r bei der Masse, ״ bei welcher U nw issenheit, D um m heit und U nredlichkeit ih r Gesellschaft leisten“ (V , S. 271). U nd is t nun

D ie philosophischen A spekte von M ark A ldanovs W erk 35

der Staat selber nicht ganz gerecht und ve rn ü n ftig geleitet (wie meist der F a ll), so fü h rt der F o rtsch ritt an Intelligenz bei der Masse zu Em- pörung und R evolution.

Diese Gedankengänge findet man bei Schopenhauer in

Die Welt ab Wille und Vorstellung

( II, S. 1212) im K a p ite l

Uber Geschichte

und auch mehrfach in den

Parerga und Paralipomena

entw ickelt. Sei- ne Geschichtsauffassung g ib t den H intergrund fü r diejenige Aldanovs m it zuweilen fast w örtlichen, schlagenden Parallelen (vgl. die oben z itie rte n Reden Lam ors).

Die G ü ltig k e it und den W ert der G eschichtsschreibun g leugnet Lam or schon im ersten Gespräch m it S taal1: « Н е т суд а и с то р и и » , sagt er apodiktisch. « Е с ть суд и сто р и ко в и он м еняется каждое д е ся ти л е ти е ; да и в течение одного д е с я ти л е ти я всяки й и сто - р и к о тр и ц а е т то , ч то го в о р я т д р у ги е »

(Девят ое Термидора

, S.201). Jeder H istoriker tu t dies aus O riginalitätsanspruch (denn fü r die O rig in a litä t des Gedankens werden die G elehrten ja bezahlt ). Aus O rig in a litä tssu ch t oder, noch schlim m er, zuweilen auch aus aufrich- tig e r Überzeugung werden manche G elehrte in vielbändigen Werken einst zu beweisen suchen, daß M arat und Robespierre unschuldige En- gel waren, die von voreingenommenen Zeitgenossen verleum det w ur- den. Auch Schopenhauer m eint, ״ daß die Geschichtsniuse K lio m it der Lüge so durch und durch in fic ie rt is t, wie eine Gassenhure m it der S y p h ilis ... Ich glaube, daß die Begebenheiten und Personen der Ge- schichte den w irk lic h dagewesenen ungefähr so gleichen, wie meistens die P o rtra its der S chriftsteller auf dem T ite lk u p fe r diesen selbst“ ( \ \ S. 489/490). Lam or behauptet, daß nur Zeitgenossen allein die W ahr- heit wissen und nur sie ein U rte il fällen können.

Um in die Geschichte einzugehen, bedarf es eines (wenn auch nur vorübergehenden) E rfo lg e s :

« Н у ж н о ... п р о я в и ть си л у, да н а гр о м о з д и ть в о к р у г се- бя возм ож но больш е т р а ги ч е с к и х эл ем ентов, все р а в - но ка ки х. Ч ем больш е п о л и ти ч е с к и й (а особенно ре- в о л ю ц и о н н ы й ) деятель прол ьет к р о в и , тем больш е

ч е р н и л и слез п р о л ь ю т в его оправдание ум иленны е д у р а к и потом ства»

(Девятое Термидора,

S. 201, 202).

D ie Geschichte im Spiegel der Geschichtsschreibung w ird jeden Un- sinn (w ie z .B . die ,Verkündung der Menschenrechte‘ oder das allge- meine W ahlrecht) m it Sinn erfüllen: « И с т о р и я все о см ы сл и т, она на э т о м а с т е р и ц а ... И зви н и те меня, и с то р и я — дѵра» (

Д евя

-

тое Термидора,

S. 338). Diese Achtung vor v e ra lte te n Meinungen und Idealen w ird nach Lamors Ansicht den Untergang der Z iv ilis a ti- on bringen. Die französischen Revolutionäre, sagt er dem Idealisten Boregar, wuchsen m it den Idealen der A ntike auf:

« Б е ссо ве стн ы й л гу н П л у т а р х , не знавш ий по л а ты - н и , н а уч и л вас рим ской и с то р и и ; о тъ я вл е н н ы й не- го д я й С а л л ю с т и й давал вам у р о к и рим ской м орали;

а порнограф С ве то н и й , не у с ту п а ю щ и й во м н о ги х отнош ениях гр а ж д а н и н у де С ад у, поселил в ваш их д уш а х в о с то р г перед рим ской п р о с то то й нравов.»

(Девятое Термидора,

S. 340/341.)

Sehr eng verbindet A ldanov m it dem Them a der Geschichte seine K r itik der D em okratie. Im Gespräch m it Talleyrand m eint Lam or ironisch:

« Д е м о кр а ти я , Т а л л е й р а н ? О , это и гр у ш к а с боль- ш им б уд ущ и м . Д е м о кр а ти я спасет м и р , она же его потом и п о гу б и т .»

Im H inblick a uf die Französische R evolution s te llt er fest:

« В револю ционное время ш ансы д ем ократии н и ч то ж - ны : она далекая наследница револю ций: не лю бим ая дочь, а неведомая п р а в н уч ка .»

U nd als allgemeine historische Betrachtung fü g t er hinzu:

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk 37

« Е сл и на м гновенье дем ократия п р и х о д и т к в л а сти , она т о тч а с д а р и т п р отивникам по д а р ки : сво б о д у ело- ва, неприкосновенность л и ч н о с ти и м ного д р у ги х хо- ро ш и х в е щ е й ... Я не знаю с л у ч а я в и с т о р и и , чтоб ы к то н и б уд ь п о гу б и л д ем ократию : она всегд а сама себя гу б и л а . З ам етьте, я в принципе больш ой ее с т о р о н н и к ... С ч а стье д ем ократии в том , ч то ее про- ти в н и ки еще пошлее чем она с а м а ... О днако в пери- оды ре во л ю ц и и д ем ократии нечего делать и незачем лезть в и с т о р и ю . П р е д ста вьте себе д у э л ь : у одного п р о ти в н и к а о тто че н н а я ш пага, у д р у го го р а п и р а с т у п о й п у го в к о й на конце. В т о р о й , бы ть м ож ет, фех- т у е т го р а зд о грациознее, но у него на лезвии ту п а я п у го в к а , то гд а как ш пага первого несет с м е р т ь ...

Н еравная б о р ь б а .. , » (

Чортов м ост

, S. 118 119).

Obwohl Lam or sich als «больш ой сто р о н н и к» der Dem okratie bezeichnet, dachte er doch während der T errorzeit, wie er im Ge- spräch m it Barataev e rk lä rt, m it Sehnsucht an das Regime Ludw ig X IV . zurück, und er bedauert nun das bevorstehende Verschwinden der M onarchien:

« П ы ш н ы й д вор, блеск, кр а со та , а? В зя ть Л у в р или В е р са л ьски й дворец, — ведь д ем ократия та к и х не в ы с т р о и т, правда? И л и N otre Dame? Н и для ун и в е р - с и те та , ни для парлам ента, ни даже для б и р ж и э та - к о го храм а не с о з д а д у т ... Ч т о и го в о р и т ь , не Б о г знает какие орл ы нынеш ние европейские м о н а р хи . Н о в се -та ки сколько кр а со ты у н е с у т они с соб ой из м и р а , ко гд а и сч е зн ут навеки!» (

Заговор

, S. 35/36).

In seinen Reden beim Em pfang bei T alyzin zweifelt Lam or an den

״ W erten“ , die von der D em okratie verkündet werden: Freiheit der Meinungsäußerung, Pressefreiheit, G edankenfreiheit, allgemeines

W ahlrecht. Das Volk, dem die Dem okratie das alles zubilligen w ill, braucht und wünscht diese W erte durchaus nicht. Was es w ill, ist ein re la tiv gutes Auskommen; auf jeder Straße braucht und w ill das Volk eine Bäckerei, eine Metzgerei, eine Kneipe und einen Polizisten, —

«без свободы слова прож ивем (х о ть и очень п р и я тн о чесать я зы к)» ; der sogenannten unabdingbaren Menschenrechte bedarf das V o lk aber gar nicht und wüßte dam it auch nichts anzufangen: «Без д е кл а р а ц и и прав как ниб уд ь обойдем ся, а есть и п и ть хо ти м ка ж д ы й день» (

Заговор

, S. 56/57).

1111 Gespräch m it Talleyrand sieht Lam or die Geschichte als den Schauplatz fü r die Herrschaft der rohen Gewalt. Recht und W ahrheit kommen im m er zu kurz, deshalb schon, weil es mehrere W ahrheiten g ib t, und diese W ahrheiten hassen einander vie l m ehr als den ״ G ewalt- tä te r“ (п а л а ч ), der ebenfalls zu guter Letzt seine eigene ,W ahrhe it‘

״zurechtbastelt“ (ско л а чи ва е т) (

Чортов мост ,

S. 109).

Lam or z itie rt mehrmals Pascals

Pensées:

«La violence et la vérité 11e peuvent rien Типе sur l ’autre» (N r. 257).

A uch Schopenhauer spricht im Paragraph 127 des zweiten Teils der

Parerga und Paralipomena

von der Beziehung zwischen Recht und G ew alt. Bei Aldanov findet man fast w örtliche Parallelen. D er Para- graph beginnt m it dem lapidaren Satz: ״Das Recht an sich selbst ist m achtlos: von N a tu r herrscht die G e w a lt“ (V , S. 270).

Das Recht und die W ahrheit27 des vernünftigen F o rtsch ritts, der sich zuweilen unter der Herrschaft der V ernunft den Weg zu bah- nen suchte, wurden, m eint Lam or, stets von der Gewalt des Ter- rors unterbrochen (z. B. im X III. Jahrhundert von der In q u is itio n , im X V III. Jahrhundert von dem französischen R evolutionsterror;

Чор- тов мост ,

S. 114 115). ״ Rousseau, König der tragikom ischen S chrift- ste ile r“ , sagt Lam or im Gespräch m it Barataev, ״hat behauptet, der Mensch werde als vollkom m en geboren und entwickle sich dann zum gemeinen Schuft (м ерзавец)“ .

« Ч т о однако, если он и р о д и тся, — скажем не вполне

27 Das russische <правда> kann sowohl ,Recht‘ als auch ,W ahrheit‘ bedeuten. Wenn es darauf ankom m t, die Begriffe klar zu scheiden, sagt Aldanov fü r W ahrheit <истина>.

Die philosophischen A spekte von M ark Aldanovs Werk 39

соверш енны м ? А то в самом деле о тк у д а взялась бы и инквизиц ия, и д р а го н а д ы , и т е р р о р , и санф едисты , а? . . . И хо ть бы сча стье э то ем у давало, — нет, он вдобавок еще и несчастен. Я на своем веку ви- дал с десяток с ч а стл и в ы х лю д ей, — из н и х человек п я ть бы ли к р у гл ы е д у р а к и , остальны е пьяницы или, реж е, ф анатики. И хо ть бы несчастье о б л а го р а ж и - вало, как э то ч а с то у т в е р ж д а ю т . В зд ор! Н ико- го оно не о б л а го р а ж и в а е т. О т вполне н е сча стн ы х л ю д ей веет ску к о й — и то л ь ко . М ы и н с ти н кти в н о и х и зб е га е м ... » (

Заговор

, S. 32/33).

Der einzige Ausweg aus der G ew alt-R echt-A porie (ein zw eifelhafter Ausweg) wäre eine Umerziehung des Menschen, die in jungen Jahren (ca. 16) beginnen müßte, doch g la u b t Lam or selbst, angesichts der soeben gegebenen C h a ra kte ristik der Menschen, n ich t daran (

Чортов мост ,

S. 251). Freilich, so hoffnungslos das Unternehm en auch sein mag, man sollte die Umerziehung dennoch versuchen. Gewiß is t der Mensch von N a tu r aus ״ schlim m genug“ (д о с та то ч н о д у р е н ), aber man könnte vielleicht etwas an ihm bessern, wenn man frü h genug anfinge:

«В озьм ите а кр о б а то в. К акие ч у д е с а м ож ет произво- д и ть п р и уче н н о е с д е тства человеческое тел о! Т о л ь - ко н а ч а ть надо лет с п я тн а д ц а ти , не позж е. Ведь а кр о б а тска я те хн и ка у л у ч ш а е т с я с каж ды м поколе- нием. Я д ум а ю , душ а тож е под д ается ги м н а сти ке . Все будущ ее м ира за ви си т от в о с п и та н и я м олоды х поколений»

(Заговор,

S .62/63).

So muß der Mensch also auch zu der ih m n ic h t angeborenen M o ra l und zum Sittengesetz tra in ie rt werden.

« Н р а в стве н н ы й закон есть н е что вроде те х а кр о б а - ти ч е с к и х ф окусов, ко то р ы м необходим о у ч и т ь м оло- д ы х лю дей» (

Заговор

, S. 65).

E in m oralischer F o rts c h ritt der Menschheit ist schwer denkbar, und ohne ihn w ird auch der F o rts c h ritt der Naturwissenschaften nichts nützen. Doch auch abgesehen davon w ird die Naturwissenschaft kos- mischen K atastrophen gegenüber stets vö llig machtlos sein (

Чортов м ост

, S. 251). D er moralische F o rtsch ritt könnte allerdings, bei gu- ter E rnährung aller In d ivid u e n , durch die Chemie (vielleicht sogar A lchim ie) gefördert werden: Eine satte Menschheit w ird wie eine sat- te Bestie ruhiger, frie d lich e r und, verm utlich, unbegabter werden. Es könnte sogar gelingen, chemisch einen Hom unculus herzustellen —

« Т о л ько , п о ж а л у й с та , не по о б разу и под об ию Б о ж и ю » , fügt Lam or, um seinen Gesprächspartner Barataev zu ärgern, hinzu

(3a- говор,

S. 31).

Neben der Frage nach dem Recht beschäftigt Lam or auch die Fra- ge ״ Was ist W ahrheit?“ , e xistie rt überhaupt e in e ״ W a h rh e it“ (и с т и - на)? Lam or beantw ortet sie, wie erwähnt, negativ. Schon im ersten Gespräch m it St aal’ sagt er im H in b lick auf ihren Altersunterschied:

״ W ie könnte ich, ein siebzigjähriger Greis, Sie, einen zw anzigjäliri- gen Jüngling, von irgendetwas überzeugen? Unsere W ahrheit sowohl wie unsere Lüge (наш а и с ти н а и лож ь) sind vö llig verschieden — das liegt in der N a tu r der Dinge“

(Девятое Термидора,

S. 207). — Bei ihrem unerw arteten erneuten Zusammentreffen in Paris spricht er wieder von diesem Unterschied: « Ж и зн ь скверная ш т у к а , но в двадцать лет э т о го еще не замечаешь; и теперь, не п р а в- да ли, было бы особенно ж алко ум ереть, не узнав, как все э то ко н чи тся »

(Девят ое Термидора,

S.248). — In dem philoso- phischen Gespräch m it Boregar im Gefängnis w ird das R elative der

״ W ie könnte ich, ein siebzigjähriger Greis, Sie, einen zw anzigjäliri- gen Jüngling, von irgendetwas überzeugen? Unsere W ahrheit sowohl wie unsere Lüge (наш а и с ти н а и лож ь) sind vö llig verschieden — das liegt in der N a tu r der Dinge“

(Девятое Термидора,

S. 207). — Bei ihrem unerw arteten erneuten Zusammentreffen in Paris spricht er wieder von diesem Unterschied: « Ж и зн ь скверная ш т у к а , но в двадцать лет э т о го еще не замечаешь; и теперь, не п р а в- да ли, было бы особенно ж алко ум ереть, не узнав, как все э то ко н чи тся »

(Девят ое Термидора,

S.248). — In dem philoso- phischen Gespräch m it Boregar im Gefängnis w ird das R elative der