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Krieg in der Ge- schichte, 28), EUR 24,90 Die Militärgeschichte ist reich an Beispielen militärischer Okkupation, reichhaltig ist daher auch die Literatur zu diesem vielschichtigen Phänomen

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Academic year: 2022

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Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der An- tike bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Günther Kronenbitter, Markus Pöhl- mann und Dierk Walter in Verbindung mit dem Arbeitskreis Militärge- schichte e.V., Paderborn [u.a.]: Schöningh 2006, 226 S. (= Krieg in der Ge- schichte, 28), EUR 24,90

Die Militärgeschichte ist reich an Beispielen militärischer Okkupation, reichhaltig ist daher auch die Literatur zu diesem vielschichtigen Phänomen. Bedingt auch durch die tagespolitische Aktualität des Themas ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten beiden Jahren mehr als ein Dutzend Werke allein über Formen, Faktoren und Folgen militärischer Fremdherrschaft im 20. Jahrhundert erschienen sind. Die Vielfalt an Untersuchungen kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wissenschaftliche Diskussion über die vage Begrifflichkeit erst am Anfang steht: Besatzung, Fremdherrschaft, Okkupation, Kollaboration, Zusammenarbeit oder Widerstand, die mit diesen Termini zusammenhängenden Probleme, insbeson- dere die Fragen nach der Dauer, Art und Zweck der Situation, erfordern eine viel- schichtige methodische Herangehensweise.

Besatzungsgeschichte ist immer auch eine »verflochtene Geschichte«, eine Geschichte der Beziehungen und ihrer Perzeption auf verschiedenen Ebenen der Herrschaft, ein Nebeneinander von Kommunikation und Verweigerung, von Anpas- sung und Beharrungsvermögen. Dieser wichtige Bereich der Interaktionsgeschichte steht im Mittelpunkt des anzuzeigenden Bandes. Ein Großteil der Beiträge geht auf eine gleichnamige Tagung des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V. aus dem Jahr 2002 zurück. Anders als auf der Tagung selbst wurde allerdings für den Sammelband auf eine systematische Behandlung gleichartiger oder ähnlicher As- pekte in Sektionen verzichtet und eine rein chronologische Abfolge gewählt. Bedau- erlich ist diese Wahl insoweit, als dass es durch die lineare Betrachtungsweise erschwert wird, Gemeinsamkeiten und Unterschiede einzelner »Besatzungstypen«

epochenübergreifend zu erfassen und zu vergleichen.

Der Komplexität des Themas werden die 15 Beiträge, die zumeist von Nach- wuchswissenschaftlern erstellt wurden, durchaus gerecht. Das Spektrum der Ein- zelbeiträge ist überwiegend breit, die inhaltliche Kohärenz gewahrt, der übergeord- neten Leitfrage wird durchgängig Rechnung getragen. In vielen Fällen sind die Beiträge komparativ angelegt. Zwei Drittel der Aufsätze behandeln »Besatzung«

im 20. Jahrhundert, allein acht Studien sind den beiden Weltkriegen gewidmet.

Fünf Artikel decken durch Gesamt- oder Einzelfallanalysen die übrigen 2 400 Jahre ab und reichen von der Antike bis in das 19. Jahrhundert. Deutsche als Besatzer oder Besetzte stehen zumeist im Mittelpunkt der Betrachtungen. Die eurozentrische Sicht wird durch einen Beitrag zur »Reconstruction« in den amerikanischen Süd- staaten nach 1865 durchbrochen. Der Untersuchungszeitraum endet mit der Phase des Kalten Krieges. Auf den nahezu zeitgleich erschienenen Tagungsband des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit e.V. unter dem Titel

»Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert«

konnte zumindest noch verwiesen werden.

Es ist hier nicht der Platz, alle Beiträge in extenso vorzustellen. Hervorgehoben sei aber im Folgenden die überaus anregende und in ihrer Reflexionstiefe beeindru- ckende Studie von Hans-Henning Kortüm über »Besatzung im Mittelalter« (S. 37-55).

Militärgeschichtliche Zeitschrift 66 (2007), S. 159-278 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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160 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen Die schwierige Aufgabe, die den Forschern der Vormoderne abverlangt wird, Phänomene einer Epoche von 1000 Jahren auf weniger als 20 Seiten vorzustellen und zu analysieren, ist von Kortüm eindrucksvoll gelöst worden. In vergleichender Perspektive werden auf breiter Quellenbasis Wahrnehmungen und Wechselbezie- hungen der jeweiligen Akteure behandelt. Als Beispiele werden zeitlich begrenzte Fremdherrschaften in den Großstädten Rom und Paris sowie in den sächsischen und normannischen Gebieten betrachtet. Das Ergebnis mag den Neuzeithistoriker überraschen: Mittelalterliche und moderne Besatzungsszenarien ähneln sich durch- aus. Parallelen sind etwa zu erkennen bei der Vermeidung pejorativ besetzter Termini, bei der Suche nach Legitimität oder auch in vielen, vor allem auch gewaltsa- men Aspekten des Besatzungsalltags.

Mit militärischer Okkupation in der Frühen Neuzeit beschäftigen sich zwei Bei- träge. Während Jürgen Lüh Art und Absichten der schwedischen Besatzung in Sachsen im Jahr 1706/07 behandelt (S. 57-66), untersucht Daniel Höhrath inner- städtische Festungsbauten als Herrschaftsinstrumente im Europa des 18. Jahrhun- derts (S. 67-79). Für die außereuropäische Moderne steht der kompetente Artikel von Jörg Nagler über die »militärische Besatzung der Südstaaten während der Reconstruction (1865-1877)« (S. 81-92). Ein kurzes Beispiel aus dem Ersten Welt- krieg, »Die deutsche Besatzung im >Land Ober Ost<« (S. 93-104), bietet als ausge- wiesener Kenner der Materie Vejas Gabriel Liulevicius, der allerdings den Vortragsstil im Wesentlichen beibehalten hat. Einem interessanten und vielschichtigen Thema widmet sich Christian Koller, der das Verhältnis zwischen Behörden, Bevölkerung und französischen Kolonialtruppen im Rheinland der 1920er Jahre analysiert (S. 105-117). Formen des organisierten Widerstands gegen die Besetzung des Ruhr- gebiets im Jahr 1923 stellt Gerd Krüger vor (S. 119-130). Die Deutschen als Besatzer hat Benott Majerus in seinem Beitrag über die deutsche Verwaltung Belgiens in den beiden Weltkriegen im Blick (S. 131-145), wobei er durch den gelungenen diachro- nen Vergleich Kontinuitäten und Brüche in der Besatzungspolitik aufzeigen kann.

Okkupation aus der Gender-Perspektive steht in den überzeugenden Studien der beiden Autorinnen des Bandes im Mittelpunkt: Claudia Lenz hinterfragt kritisch die Geschlechterverhältnisse im deutsch besetzen Norwegen der 1940er Jahre unter den Vorzeichen von Zusammenarbeit und Widerstand (S. 147-159). Nicht minder eindrucksvoll sind die Ausführungen von Almuth Roelfs, die unter dem Titel »>Ami- Liebchen und >Berufsbräute<« (S. 201-209) am Beispiel der deutschen Prostitutions- politik im besetzten Nachkriegsdeutschland (insbesondere im Land Bremen) mit Blick auf das vormals deutsch besetzte Frankreich aufzeigt, wie mit polizeilichen und gesundheitspolitischen Mitteln versucht wurde, >abweichendes< Verhalten von Frauen zu disziplinieren.

Zwei weitere Beiträge sind schließlich dem Thema Wehrmacht und Okkupation im Osten gewidmet: Armin Nolzen untersucht die Rückzugsbewegungen der deutschen Truppen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, die begleitet wurden von einer Politik der verbrannten Erde, den sogenannten ARLZ-Maßnahmen (»Auflockerung«, »Räumung«, »Lähmung«, »Zerstörung«) (S. 161-175). Frank Grelka analysiert in komparativer Perspektive die Hartnäckigkeit antisemitischer Feind- bilder, insbesondere der Legende vom »jüdischen Bolschewismus«, welche die deutsche Militärverwaltung in der Ukraine in den Jahren 1918 und 1941 propagan- distisch zu nutzen wusste (S. 177-189). Die Besatzungspraxis der Wehrmacht im Westen untersucht Peter Lieb mit Blick auf die Folgen für die Zivilbevölkerung in der Normandie (S. 191-200). Den Abschluss bilden beziehungsgeschichtliche

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Betrachtungen von Christian Th. Müller zum Thema der sowjetischen Truppen in der S B Z / D D R bis 1989 (S. 211-223).

Es liegt in der Natur eines epochenübergreifenden Sammelbandes, dass allein aus Platzgründen viele Themenbereiche ausgeblendet werden müssen. Allerdings wären komparative Skizzen auch jenseits vielbehandelter Zeiten oder Räume oder interdisziplinäre Studien durchaus willkommen gewesen. Da die einzelnen Beiträge am Ende nicht in einer Synthese ausgewertet werden, bleibt zwar ein Eindruck von der Variationsbreite des Phänomens, gleichzeitig wird es aber dem Leser nicht unbedingt erleichtert, Ähnlichkeiten und Unterschiede im historischen Prozess zu erfassen. Insoweit vergibt der Sammelband die Chance, sich in der gegenwärtigen Diskussion zu positionieren und neue Forschungsperspektiven aufzuzeigen. Wie viele Beiträge des Sammelbands nämlich zeigen, ist die vergleichende Okkupations- forschung auf einem guten Weg.

Loretam de Libero

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Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Portraits. Hrsg. von Stig Förster, Markus Pöhlmann und Dierk Walter, München: Beck 2006,415 S., EUR 24,90 [ISBN 978-3-406-54983-0]

Die Herausgeber betonen, sie wollten nicht zurück zu einer Kriegsgeschichte, in der Wohl und Wehe der Nationen von den Entscheidungen von Feldherren und Stra- tegen abhängen. Sie haben ihren Band eben auch nicht »Feldherren der Weltge- schichte« genannt, sondern 22 Beiträge über »Kriegsherren« zusammengetragen.

Was ist ein »Kriegsherr« im Verständnis dieses Bandes?

Unter diesem Begriff wollen die Herausgeber historische Personen verstanden wissen, die zugleich die politische Letztverantwortung für kriegerisches Geschehen getragen und in die konkrete Führung militärischer Operationen eingegriffen haben.

Nicht alle beschriebenen Persönlichkeiten werden diesem Anspruch gerecht: Die Kaiserinwitwe Cixi etwa, die hier von Sabine Dabringhaus vorgestellt wird, besaß eher informelle Macht und gestaltete die Operationen der von ihr geführten Kriege fast gar nicht mit. Aber vielleicht wäre ohne sie Maria Theresia als einzige Frau in diesem Band etwas einsam geworden ...

Fast archetypisch für die hier vorgestellten Kriegsherren ist naturgemäß Maria Theresias großer Gegenspieler, Friedrich II. von Preußen. Dennis Showalter skizziert ihn kenntnisreich und abgewogen in seiner Gespanntheit zwischen Landesherr und Feldherr.

Erich Ludendorff in dieser Gesellschaft wiederzufinden, mag überraschen, war er doch nicht wirklich Staatsoberhaupt. Aber wie Markus Pöhlmann (noch einmal) überzeugend nachweist, hatte sich die 3. Oberste Heeresleitung so sehr zum wahren Machtzentrum des Kaiserreichs entwickelt, dass es völlig gerechtfertigt scheint, den Verfechter des »Totalen Krieges« in diese Sammlung mit aufzunehmen.

Ahnliches mag auch für Churchill gelten - der britische König griff weder in die Gestaltung der Politik noch in die der Kriegführung ein und überließ beides seinem Premierminister. Der aber verfügte bereits seit dem Burenkrieg über eigene Front- erfahrung und sah sich daher als kompetent an, auch in operativen Fragen mitzu- reden.

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162 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen Andere sind nicht wirklich Staatenlenker gewesen - Hannibal etwa, von dem Pedro Barcelo berichtet, wie er sich immer als ausführendes Organ der karthagischen Republik gesehen habe. Oder Tecumseh, der zwar einige wichtige der indianischen Stämme seiner Zeit einte, der aber daraus nicht einmal annähernd ein Staatswesen zu formen wusste (Beitrag von Stephan Maninger). Ganz zu schweigen von Paul von Lettow-Vorbeck, der zwar weitgehend selbstständig (und, wie Tanja Bührer zeigt, im Konflikt mit den politischen Autoritäten der deutschen Kolonien) Krieg führte, den man aber doch nicht auf die selbe Stufe stellen kann wie Mao Zedong (Beitrag von Marc Frey).

Das kann aber keine Kritik an dem Kernansatz dieses Bandes begründen. Der Frage nach dem Verhältnis von Struktur und Individuum in einer modernen Militär- geschichte nachzugehen, wäre reizvoll - man würde bei dem hier vorzustellenden Buch eher bedauern, dass nicht alle biographischen Skizzen sich dieser Gesamt- darstellung hinreichend gründlich widmen.

Wie bei dem ähnlich strukturierten Band der selben drei Herausgeber zu

»Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai« (München 2001; siehe auch die Rezension von Enrico Syring in MGZ 62/2003, S. 548) geht die Auswahl chrono- logisch vor. Das erschwert einen eigentlichen Vergleich; eher stehen die Biografien etwas unverbunden nebeneinander.

Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die Herausgeber auf ein Schlusswort verzichtet haben. Sie haben eine spannende Frage gestellt, und sie haben 22 span- nende Einzelbiografien gesammelt. Auch wenn diese 22 Beiträge die gestellte Frage letztlich nicht beantworten, ist hier ein höchste lesbares Buch entstanden. Die spannende Frage wird an anderer Stelle beantwortet werden müssen.

Winfried Heinemann

Strabo, Geographica. In der Übers, von Aflbert] Forbiger, Wiesbaden: Marix Verl. 2005,1341 S„ EUR 24,00 [ISBN 3-86539-051-X]

Strabons Geographika. Bd 1: Prolegomena, Buch I-IV: Text und Übersetzung.

Mit Übers, und Komm. hrsg. von Stefan Radt, Göttingen: Vandenhöeck &

Ruprecht 2002, XXVI, 563 S., EUR 141,00 [ISBN 3-525-25950-6]

Kenntnisse über Länder, Meere, Siedlungen und Völker zählten schon immer zu den wichtigen Voraussetzungen jeder erfolgreichen Politik. Und seit der Antike bilden Beschreibungen der Erde (Geographie), Gebirge (Orographic), Gegenden und Orte (Topographie), Meere (Ozeanographie), Völker (Ethnographie), Wälder (Hylegraphie) und Wasserläufe (Hydrographie) ebenso unverzichtbare Grundlagen für militärische Strategien und Taktiken. Wie die Fremdworte schon belegen, können antike Griechen als Erfinder der genannten Wissenschaftsbereiche gelten. Und in ihrer Tradition steht der aus dem im kleinasiatischen Pontus gelegenen Amaseia stammende, unter Augustus und sehr wahrscheinlich noch in frühtiberischer Zeit schreibende griechische Geograph, Historiker und Philosoph Strabo.

Gerade zur Zeit der augusteischen Expansion des Imperium Romanum, z.B. in den Nordwesten Spaniens, nordwärts über die Alpen und auf dem Balkan, in die Donauländer und das Innere Germaniens sowie Osteuropas hinein, bedingten sich Kriegführung und stetige Erweiterung des Weltbildes wechselseitig. Römische

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Kriegsgeschichte war zugleich Entdeckungsgeschichte. Und für die politischen und militärischen Akteure war zuvorderst militärische Geographie und Topographie vonnöten, aber auch das Wissen um die Wohnsitze auswärtiger Völkerschaften, deren Sitten, politische Bezüge, Wehrfähigkeit und Potenziale. Strabo integriert diesbezüglich ermittelte Informationen in seine 17-bändige Erdkunde, die Geogra- phikä. Er schildert die Gliederung der Länder, gibt die Richtung von in ihnen verlaufenden Flüssen an, wobei er sich z.B. in Germanien auf schiffbare beschränkt (Strab. 7,1,3 p. 290-1), also diejenigen, die als Einfallsrouten und dabei vor allem für die römische Militärlogistik wichtig waren. Wo er kann, beziffert er Entfernungen zwischen Orten, Flüssen oder anderen Landmarken. Er verzeichnet die relative Lage der einzelnen Völkerschaften und benennt gelegentlich deren Wehrkraft. So berichtet er z.B., dass sich die aktuelle Kriegsmacht der Daker in Folge interner Auseinandersetzungen und Niederlagen gegen Rom von 200 000 auf 40 000 Mann verringert habe (ib. 7,3,12-13 p. 305), beschreibt die Bewaffnung auswärtiger Völker (z.B. der Lusitaner und Iberer: ib. 3,3,6 p. 154; 3,4,15 p. 163), charakterisiert Völker- schaften als kriegsuntauglich (u.a. Ägypter: ib. 17,1,53 p. 819) und verzeichnet die von Rom militärisch erzwungenen Umsiedlungen von Geten (ib. 7,3,10 p. 303) und rechtsrheinischen Germanen (ib. 7,1,3 p. 290) sowie dortige Absetzungsbewegungen von Stämmen in die Tiefe des Raumes (p. 290-1). Da Strabon nicht nur Geograph sondern auch Historiker war - von seinem Polybios' Historien fortsetzenden Geschichtswerk (Historika hypomnemata) existieren allerdings nur noch wenige Fragmente - verwundert es nicht, wenn er historische Abrisse z.B. über die mili- tärischen Eroberungen Roms gibt (ib. 6,4,2 p. 287 f.) oder über den >aktuellen< Krieg in Germanien (ib. 7,1,4 p. 291 f.). Erwähnung finden ebenso die Unterwerfungen der Alpenvölker (ib. 4,6,6-9 p. 204-206), Nordwestspaniens und die Anzahl dortiger Besatzungstruppen (ib. 3,3,8 p. 156; 3,4,20 p. 166).

Als Zeit-, womöglich sogar als Augenzeuge, bewahrt uns Strabo detaillierte Nachrichten zu einem augusteischen Feldzug hinein nach Arabien und einem über Ägyptens Südgrenze hinweg nach Nubien (Strab. 16,4,22-24 p. 780-782; 17,1,54 p.

820-821). Zahlreiche Einzelheiten zu vielen anderen Feldzügen seiner Zeit sind uns übrigens nur aus seinem Werk bekannt, z.B. die römische Entdeckung der Donauquellen im Zuge von Tiberius' Feldzug in Vindelikien 15 v.Chr. (ib. 7,1,5 p.

292); Drusus' Naumachia auf der Ems und seine Eroberung der zuvor belagerten Nordseeinsel Burchanis (= Borkum?) (ib. 7,1,3 p. 291). Allein von Strabo wissen wir auch, dass Augustus im Interesse einer räumlichen Begrenzung des germani- schen »Kriegstheaters« seinen Feldherrn spätestens zum Jahre 5 n.Chr. verboten hatte, die Elbe mit Heeresmacht zu überqueren (ib. 7,1,4 p. 291). Die Geographika enthält unser ältestes Prosazeugnis der Varusniederlage (ib. 7,1,4 p. 291) und den einzigen detaillierten Bericht vom Triumph des Germanicus 17 n.Chr. (ib. 291 f.).

Allenthalben verknüpft Strabo die Nennung von Lokalitäten mit der von militärisch bedeutsamen Ereignissen, wie in Spanien z.B. Hannibals Eroberung von Sagunt (ib. 3,4,6 p. 159), die Kämpfe zwischen Sertorius und Pompeius sowie zwischen dessen Generälen und Caesar bei Herda (ib. 3,4,10 p. 161).

Während wissenschaftliche Ausgaben des griechischen Textes mit englischen und französischen Ubersetzungen seit langem vorlagen, existierte bislang keine griechisch-deutsche Ausgabe. Und bis 1988 war jahrzehntelang nicht einmal eine einzige deutsche Übersetzung dieses bedeutenden Textes im Buchhandel zu erwer- ben. Die vorgelegte Neuausgabe beseitigt dieses Defizit nun endlich auch für die

»jüngste« aller deutschen Gesamtübersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts, näm-

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164 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen lieh Albert Forbigers in der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen (Bde 52-55) unter dem Titel Strabo's Erdbeschreibung übersetzt und mit Anmerkungen erläutert (8 Teile mit einem Register in 4 Bden, Berlin, Stuttgart 1856-1862; 3. Aufl. 1906-1908) erschienene. Mit dieser bezog Forbiger kritisch Stellung gegen die deutschen Übersetzungen von Karl Kärcher (12 Bändchen, Stuttgart 1829-1836) und Christoph Gottlieb Groskurd (4 Tie., Berlin, Stettin 1831-1834). Zugleich wollte er, in den Fuß- noten mit griechischen Textvarianten und Lesarten philologisch argumentierend, vorliegende wissenschaftliche Editionen verbessern (S. 8 f.). Als Verfasser des dama- ligen Standardwerks Handbuch der Alten Geographie (3 Bde, Hamburg 1842-1843;

2. Aufl. 1877) war Forbiger für die Aufgabe geradezu prädestiniert, vereinigte er doch geographische Fachkompetenz und philologisches Talent. Das Resultat ist eine hoch lobenswerte, wirklich lesbare, sachlich abgeprüfte und verlässliche Über- setzung, deren neues Schriftbild jetzt auch dem heutigen Leser die Lektüre erleich- tert oder überhaupt erst ermöglicht. Die Einteilung dieser alten Übersetzung im neuen Gewände ist denkbar einfach, folgt sie doch der traditionellen Einteilung in die 17 Bücher der Geographika mit der ebenfalls gewohnten Unterteilung in Kapitel und Paragraphen, wobei der immer noch üblichen Praxis, nach der Paginierung der Edition von Casaubonus (Paris 1620) zu zitieren, durch eine marginale Zählung Rechnung getragen wurde. Die Anmerkungen bringen neben philologischen Recht- fertigungen der Übersetzung in der Regel moderne geographische Verortungen der genannten Plätze, deren antike Bezeichnungen keine Identifizierung gestatten.

Dem Verlag ist einerseits für das Unternehmen als solches zu danken, eine alte Übersetzung zu aktualisieren und erneut zugänglich zu machen, andererseits dafür, in den Anmerkungen das für die Mehrzahl der heutigen Leser nichtssagende, wissenschaftlich aber nach wie vor relevante Griechisch belassen zu haben. Zu kri- tisieren ist er freilich dafür, dass weder der Originaltitel genannt wird noch die verwendeten Ausgaben bibliographisch korrekt zitiert werden. Auch die Beigabe von Karten wäre für ein breites Publikum nicht nur ungemein hilfreich, sondern absolut nötig gewesen. Immerhin ist Forbigers vorbildliches und enorm hilfreiches Register (S. 1175-1341) wiedergegeben, das auch dem nur an bestimmten Details interessierten Nutzer (über die Casaubonus-Paginierung am Rande des Textes) die schnelle Auffindung des Gesuchten ermöglicht.

Gleichzeitig mit jener alten Übersetzung im neuen Layout erschien die erste zweisprachige Ausgabe auf dem deutschen Buchmarkt und damit, nach beinahe 150 Jahren, endlich wieder eine aktuelle deutsche Übersetzung: Strabons Geogra- phika, mit Übersetzung und Kommentar hrsg. von Stefan Radt ist eine auf 10 Bände angelegte kommentierte Edition, von der bisher Bde 1-5, Göttingen 2002-2006, erschienen sind. Eingeteilt ist das Gesamtwerks wie folgt: Bde 1-4: Prolegomena, Text und Übersetzung; Bde 5-8: Kommentar; Bd 9: Mittelalterliche Strabon-Epitome und Strabon-Chrestomathie; Bd 10: Register. Von den vier vernünftigerweise beige- gebenen Karten zeigt die erste »Wie Strabon sich die bewohnte Welt (Oikumene) vorstellte«; die drei anderen (2. Iberien; 3. Das Keltische; 4. Die Alpen) verzeichnen bei Strabo erwähnte Inseln, Vorgebirge, Gebirge, Gewässer, Städte und Stämme auf aktuellen Kartengrundrissen. Auch dieser hoch lobenswerten Übersetzung gebührt das gleiche Qualitätsurteil wie das oben bereits formulierte. Die o,g. Formal- kriterien gelten auch für diese Ausgabe, wobei die Fußnoten in den Text-Über- setzungs-Bänden nur den ausführlichen textkritischen Apparat mit abweichenden Textvariationen, Lesarten usw. enthalten. Selbst für einfache Erklärungen oder

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Identifikationen antiker Orte ist der Leser daher leider auf den jeweiligen Kommen- tarband angewiesen. Dieser bietet dann zwar die bislang umfangreichste Kommen- tierung von Strabons Werk, aber auch hier dominiert - aus Sicht des Historikers leider - der Philologe. Ihm ging es primär »darum, mit einer adäquaten kritischen Ausgabe eine zuverlässige Grundlage zu schaffen für weitere Forschung« (Bd 1, S. XXI); und der Kommentar »soll an erster Stelle den konstituierten Wortlaut recht- fertigen und erklären« (ebd.).

Die Prolegomena (S. VII-XXI) erläutern kurz die Uberlieferungssituation des von Strabo selbst nicht mehr abschließend redigierten Textes, dessen sprachliche Formen, besondere textkritische Zeichen u.a.m. (S. XV-XVII). Der textkritische Apparat wird durch einen am Ende eines jeden Textbandes befindlichen Appendix apparatus critici entlastet, der für die Textkonstituierung unwesentliche Lesarten verzeichnet. Ferner benennt Radt seine Leitlinien für die Übersetzung und den Kommentar (S. XIX-XXI), wobei besonders der hier versteckte Hinweis wichtig ist, dass die angegebenen Entfernungen zwischen Lokalitäten »sich immer auf die Luftlinie, nicht auf die Wegstrecke [beziehen]« (S. XXI). Die Siglen und allgemeine Abkürzungen sind auf den S. XXXIII-XXVI verzeichnet; die Kürzel für Textausgaben und Sekundärliteratur stehen im Bd 5, S. 3-44, wobei einzig die Unart zahlreicher unvollständiger Titelangaben zu rügen ist.

Peter Kehne

Martin Luik, Der schwierige Weg zur Weltmacht. Roms Eroberung der Iberi- schen Halbinsel 218-19 v.Chr., Mainz: von Zabern 2005,117 S., EUR 37,90 [ISBN 3:8053-3471-0]

300 Jahre Krieg, 300 Jahre Schlachten. Auf der Iberischen Halbinsel hat das römische Militär lange und erbittert gegen einen hartnäckigen Gegner gekämpft. Der Weg Roms zur Weltmacht war im Westen Europas mit blutigem Lorbeer gepflastert.

Die zahllosen Kriege Roms in Spanien zwischen 218 und 19 v.Chr. hat der Münche- ner Archäologe Martin Luik erstmals in >Zaberns Bildbände< nachzuzeichnen versucht. In dieser Reihe, die für ihre prachtvollen Bilddokumentationen bekannt ist, konzentriert sich Luik im Wesentlichen auf den operationsgeschichtlichen Aspekt der römischen Expansion, wie ihn auch die antiken Quellen vorgeben.

Fotos, Karten und diverse Rekonstruktionen sollen dem Leser helfen, die kriege- rischen Ereignisse besser verstehen zu können.

Der Band ist in fünf unterschiedlich lange Kapitel geteilt: Nach einer kurzen Vorstellung der wichtigsten Quellen zum Thema folgt ein historischer Abriss, in dem die uns bekannten Vorgänge auf der Pyrenäenhalbinsel vom 9. bis zum 3. Jahrhun- dert v.Chr. beschrieben werden. Vorgestellt wird hierbei auch die heterogene ethni- sche Zusammensetzung der Bevölkerung vor dem Auftreten der Römer, phönizi- sche und griechische Handelsstützpunkte, iberische Siedlungen und keltiberische Niederlassungen.

Im zweiten Kapitel steht der 2. Punische Krieg im Mittelpunkt, der 219/18 v.Chr.

seinen Ausgang in Spanien nahm. Betrachtet werden die karthagische Expansion auf der Halbinsel unter den Barkiden, die hiergegen gerichteten römischen Inter- ventionsversuche und schließlich die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Karthago auf iberischem Boden. Chronologisch werden die jeweiligen

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kriegerischen Operationen abgehandelt, wobei die faktengesättigte Darstellung er- gänzt wird durch Landkarten und alte Schlachtpläne nach Kromayer-Veith, die allerdings, so etwa bei der Schlacht von Baecula, nicht mit archäologischen Erkennt- nissen abgeglichen werden.

Das dritte Kapitel, das mit fast 50 Seiten den Hauptteil des Bandes ausmacht, ist den Kriegen des 2. Jahrhunderts v.Chr. gewidmet. Nach dem Sieg über Karthago blieben die Römer aus strategischen und vor allem auch ökonomischen Erwägungen in Hispanien, das sie in zwei militärische Amtsbereiche (provinciae) einteilten. Die neuen Herren wurden von der tributpflichtigen Bevölkerung nicht einhellig begrüßt.

Es kam zu Aufständen, die blutig niedergeschlagen wurden. Ruhmsucht, Habgier und Inkompetenz mancher Provinzstatthalter, die oft genug das geltende Völker- recht mit Füßen traten, wurden selbst von römischen Geschichtsschreibern ange- prangert. Die Kriege in den spanischen Provinzen galten um 150 v.Chr. als derart grausam und verlustreich, dass es in Rom selbst zu Kriegsdienstverweigerungen gekommen ist.

Luik beschreibt detailreich die zahlreichen römischen Feldzüge vom älteren Cato über den umsichtigen Gracchus bis hin zum glücklosen Mancinus. Breiten Raum nehmen naturgemäß die bekanntesten Feldzüge ein, die Viriathus-Kriege (148-139 v.Chr.) und die Eroberung von Numantia (133 v.Chr.), wobei auch Reste römischer Militärlager, deren Untersuchung einen Forschungsschwerpunkt des Autors darstellt, berücksichtigt werden. Der lusitanische Heerführer Viriathus, der auch in römischen Quellen als »Befreier Hispaniens« (Eutropius 4,16,2) verklärt wird, gilt heute noch den Portugiesen als Freiheitsheld. Zwar zeigt Luik das be- kannte Gemälde von Jose de Madrazo y Agudo (1781-1859), »Der Tod des Viria- thus«, aber vermisst wird in diesem Zusammenhang etwa ein Foto von der mo- dernen Bronzeplastik des Helden aus dem portugiesischen Viseu oder aus dem spanischen Zamora mit der sinnigen Inschrift »Terror Romanorum«.

Im letzten Kapitel schließlich werden die Auswirkungen des römischen Bürger- krieges auf die Provinz dargestellt, vor allem der Aufstand des Sertorius (82-72 v.Chr.), wobei auch hier wieder römische Militärlager Erwähnung finden. Die Dar- stellung bricht recht unvermittelt mit dem Jahr 19 v.Chr. ab, in dem Kampfhand- lungen gegen die Bergvölker der Asturer und Cantabrer in Rom offiziell für beendet erklärt wurden, allerdings gehörten, wie auch Luik andeutet, nach diesem Jahr Kriege und Konflikte auf der Halbinsel keineswegs der Vergangenheit an.

Die Quellenlage zwingt uns, die geschichtlichen Ereignisse vor allem aus der Sicht der römischen Sieger zu betrachten. Luik gelingt eine detailgetreue, quellen- kritische Schilderung auf der Basis der gängigen Literatur. Von nicht geringem Wert ist der Versuch, den neuesten archäologischen Forschungsstand mit den bekannten Quellenzeugnissen zu verbinden. Allerdings tritt dieses Bemühen nicht selten hinter die Operationsgeschichte zurück. Interessant wäre es nämlich zu erfahren, welche aktuellen Ausgrabungen durch das Deutsche Archäologische Institut in Madrid derzeit stattfinden, beispielsweise zum Akkulturationsprozess der letztlich besiegten Gegner. Als Faktoren der Romanisierung werden lediglich römische Kdloniegründungen am Schluss des Werkes angesprochen.

Es bleibt darüber hinaus unklar, an welchen Leserkreis sich dieser Bildband wendet, für den interessierten Laien, der die Hauptzielgruppe der >Zabern Bild- bände < ausmachen dürfte, sind manche Fachtermini und einige Karten sicherlich nur schwer nachzuvollziehen, die vielen spanischen Literaturtitel im Anhang sind zwar beeindruckend, aber ebenfalls wenig hilfreich. Auch erschließt sich nicht

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immer der Sinn mancher Abbildungen (so etwa die Statue des Redners Aule Metelle, sog. Arringatore, Abb. 32). Zwar ist die Numismatik über Gebühr berücksichtigt, aber die Epigraphik bleibt außen vor: Ein Foto der neuen, viel diskutierten Bron- zetafel aus Alcantara, die die bedingungslose Kapitulation eines Stammes im Jahre 104 v.Chr. in Hispania ulterior schriftlich festhält (L'Annee Epigraphique 1984,495), hätte einen trefflichen zeitgenössischen Beleg für den Umgang Roms mit einem unterlegenen Gegner abgegeben. Wünschenswert gewesen wäre zudem noch eine stärkere Betonung der kultur- und sozialgeschichtlichen Aspekte, etwa welche Auswirkungen die fortwährenden Kriege auf die soziale, wirtschaftliche oder ökologische Entwicklung des Landes hatten. Die Frage nach einem »Freiheits- kampf«, die von Luik kaum berührt und verneint wird, hätte bei der erstaunlichen Vielzahl und Dauer der Kriege ausführlicher beantwortet werden müssen. Dennoch gewährt der Bildband einen plastischen Einblick in das Zeitalter der »schmutzigen«

Kriege in Spanien, die an Härte und Grausamkeit ihresgleichen suchen.

Loretam de Libero

Madeleine Haehl, Les affaires etrangeres au temps de Richelieu. Le secretariat d'Etat, les agents diplomatiques (1624-1642), Bruxelles: Lang 2006, 370 S„

EUR 31,60 [ISBN 978-90-5201-284-1]

Frankreich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es regiert Ludwig XIII. Doch im Hintergrund zieht ein Mann Gottes die Fäden in der Politik und bestimmt somit die Geschicke Frankreichs innerhalb eines sich entwickelnden europäischen Staa- tenwesens mit. Zudem stehen konfessionelle Konflikte an der Tagesordnung, die im Dreißigjährigen Krieg kulminierend, die besondere Aufmerksamkeit erfordern.

—Doch-aueh arrattderen »Fronten« ist die Situation aufgeheizt und eher kritisch. So ist es der bourbonisch-habsburgische Gegensatz, der die Beziehungen zu Spanien und die Konflikte um die norditalienischen Besitzungen bestimmt, ähnlich wie auch Frankreichs Interessen in Konstantinopel und in den Niederlanden gewahrt werden wollen. Betrachtet man dieses Beziehungsgeflecht, so scheint die Rolle des Kardinals Jean Armand Duplessis, due de Richelieu, der im Schatten des Königs seine creatures in alle Richtungen ausschwärmen ließ, sehr komplex.

Nach dem Tod König Heinrichs III. im Jahre 1610 lag die französische Innen- und Außenpolitik schwerfällig am Boden. Es fehlten Kontinuität und Planungssicherheit.

Mit der Berufung Richelieus in den Rat König Ludwigs XIII. im Jahre 1624 und seinen Erfahrungen, die er bereits 1617 als secretaire d'Etat gesammelt hatte, sollte sich dies ändern. Das 1589 gegründete und vergleichsweise erst junge secretariat d 'Etat des Affaires etrangeres sollte dafür noch effizienter gestaltet werden.

Das Bild und die Rolle des omnipotenten Kardinals und Politikers Richelieu entspricht heutzutage aber eher einer Genese durch Fiktion und Romantik aus Lite- ratur und Film, die wenig mit dem aufziehenden und sich entwickelnden systeme bureaucratique im damaligen Frankreich zu tun hat. Häufig werden dabei die sich ohne Vorbild entwickelnden administrativen Ebenen vernachlässigt, die in ihrer Summe ein wirkungsvolles Instrument für Richelieus Politik werden sollten.

Zahlreiche Publikationen lassen sich in Bezug auf den Aufbau und das Funktio- nieren der Administration, die Politik und die Geheimverhandlungen Richelieus finden, besonders zu seiner Rolle im Westfälischen Frieden oder den Beziehungen

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168 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen zwischen Bourbonen und Habsburgern (z.B. Marie-Catherine Vignal Souleyreau, Richelieu et la Lorraine, Paris 2004; Anuschka Tischer, Französische Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999). Einen weiteren Beitrag zu einem besseren Verständnis sich entwi- ckelnder frühneuzeitlicher Staatlichkeit, vor allem aber einen detaillierten und quellenbasierten Einblick in die Ursprünge und Konstitution eines »Ministeriums«

wie dem Sekretariat für ausländische Angelegenheiten, bietet das vorliegende Werk der französischen Historikerin Madeleine Haehl.

Das Werk gliedert sich in drei größere Bereiche. Einleitend behandelt Haehl den Esprit und den institutionellen Aufbau des Sekretariats, das erst 1589 durch eine Anordnung König Heinrichs III. namentlich als Sekretariat benannt wird, ob- wohl es formal bereits existierte. Damit gab Heinrich III. die gesamte Korrespondenz mit dem Ausland an den ernannten Staatssekretär Louis Revol ab. Alles das Ausland Betreffende sollte in den Händen eines Mannes liegen, der durch einen Commis so- wie sechs Geistliche unterstützt wurde. Zwei der Letztgenannten waren allein für die Rezensionen und Übersetzungen der Depeschen zuständig, die dann dem König gegen fünf Uhr morgens vorgelegt werden sollten. Auch der spätere Kardinal Richelieu übte 1617 vorübergehend das Amt des secretaire d'Etat charges des Affaires etrangeres aus.

Erst aufgrund eines kleinen Skandals wurde das Sekretariat durch einen Königs- befehl Ludwigs XIII. im Februar 1624 bis zum Jahr 1626 auf vier Sekretäre mit unterschiedlichen Gebietsverantwortlichkeiten aufgeteilt: Raymond Phelypeaux, seigneur d'Herbault, mit der Verantwortlichkeit für Spanien, Piemont, Italien, Schweiz und Graubünden sowie interessanterweise auch die »Hugenottenproblematik«, Nicolas Potier, seigneur d'Ocquerre für das Deutsches Reich, die österreichischen Erblande, Polen, Flandern und die Vereinten Provinzen, Henri Auguste de Lomenie, seigneur de la Ville aux Clercs für England, das Osmanische Reich, die Levante und schließlich Charles Le Beauclerc, seigneur d'Hacheres et de Rougemont mit dem Zustän- digkeitsbereich für Kriege und diplomatische Verbindungen zu Schweden, Däne- mark und Schottland.

Im selben Jahr wurde Richelieu zum Minister ernannt und bewirkte die »Wieder- vereinigung« der Sekretariate für das Jahr 1626, der eigentlichen »Geburtsstunde«

des französischen Außenministeriums, mit dem königlichen Befehl Ludwigs XIII.

vom 11. März 1626. Fortan sollte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kaum etwas daran ändern. Richelieu selbst sorgte für die Einsetzung seiner creatures in die Posten der obersten Sekretäre und konnte so seine bestimmende Rolle in der Politik durchsetzen.

Haehl beschreibt die ersten in diese Periode fallenden secretaires d'Etat charges des Affaires etrangeres genauer und ordnet sie sowohl biografisch als auch politisch in die Netzwerke auswärtiger Politik ein. Dabei handelt es sich um Claude Bouthillier, seigneur du Pont et de Fossigny (1629-1632) und seinen Sohn Leon Bouthillier, comte de Chavigny et de Buzancay (1632-1643). Vater und Sohn hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Politik Frankreichs. Die Familie war bereits vor 1629 mit der Familie Richelieus durch Heirat verbunden. Nun aber sollten die gemeinsamen politischen Ideen die Bande fester knüpfen. War der Vater noch ein exekutiver Beamter, ent- wickelte sein Sohn Leon bereits eigene Ideen und begann mit seinen 24 Jahren das Amt zu formen und eine Schlüsselrolle in der französischen Außenpolitik neben Richelieu zu entwickeln.

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Dass das Europa des Ancien Regime unter der französischen Außenpolitik mehr und mehr zu einem Netzwerk wurde, zeigt die Autorin im dritten Abschnitt ihres Buches, in dem sie die politischen Handlungsmaxime, diplomatische Mittel und Akteure der aktiven Außenpolitik nach Ländern geordnet vorstellt. Sie be- schränkt sich dabei auf den von ihr gewählten zeitlichen Abschnitt, kann aber eini- ge sehr interessante quellenbasierte Porträts erstellen, die von den offiziell bestellten und ständigen Botschaftern in Rom, London, Madrid, der Schweiz, den Nieder- landen, Schweden, Dänemark, Polen und Konstantinopel bis hin zu einzelnen Mis- sionen bzw. Konsuln, Handelsvertretern, Residenten und Informanten in anderen Ländern reichen. So erscheinen z.B. die ständigen personellen Wechsel der Bot- schafter an der Hohen Pforte in einem anderen Licht, wenn Haehl hervorhebt, dass

»l'inhabilete de nos ambassadeurs ä La Porte, leur ignorance des lois, des usages, leur fit commettre des fautes qui deteriorerent les rapport entre les deux pays [...]

Par ailleurs la complexite des usages locaux, l'ignorance de la langue ne facilitent pas la täche des ambassadeurs« (S. 270). In diesem Zusammenhang zeigen sich auch die Zweifel der Autorin, wenn sie die osmanisch-französischen Beziehungen insgesamt betrachtet, die ja bereits seit der ersten Kapitulation des Jahres 1535 be- standen. Haehl beschließt ihr Werk mit einem kleinen Quellenanhang, der das von ihr entworfene Bild noch einmal bestätigt.

Madeleine Haehl unterstreicht mit diesem Werk ihre profunden Kenntnisse der französischen Rechts- und Diplomatiegeschichte und verbindet diese mit einer imposanten Quellenkenntnis. Somit erschließt sich dem Historiker als auch dem interessierten Leser die lebendige Entwicklungsgeschichte einer Institution. Allein durch die vorgestellten und zum Teil unbekannten Personen lassen sich zusammen mit den Handlungsmaximen und der Organisation des Sekretariats die Möglichkei- ten erschließen und verstehen, die Kardinal Richelieu und Ludwig XIII. zur Durch- setzung ihrer politischen Ziele hatten.

Stephan Theilig

Beate Engelen, Soldatenfrauen in Preußen. Eine Strukturanalyse der Garni- sonsgesellschaft im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Münster: LIT Verlag 2005, 624 S. (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 7), EUR 59,90 [ISBN 3-8258-8052-4]

Die traditionelle Militärgeschichte, die fast ausschließlich von Männern betrieben wurde, stellte den Mann als Akteur in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Die Rolle und Funktion von Frauen für das Militär blieb dabei ein Randthema. Erst in den letzten Jahren ist die Militärgeschichte in Bewegung geraten. Die Militärhistori- ker öffneten sich zunehmend sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichen Fragestellun- gen. Damit geriet erstmals auch die Militärgesellschaft und somit die Angehörigen der Soldaten, in den Blickpunkt der Forschung. Diese soziale Gruppe umfasste in den europäischen Großmächten mehrere hunderttausend Menschen. Trotz dieser thematischen Öffnung der Militärgeschichte wurden den Frauen und Kindern der Soldaten nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die neuere Forschung betonte zwar die herausragende Bedeutung von Frauen in der Lagergesellschaft der frühneuzeitlichen Heere, doch wurde damit nur ihre Rolle während des Krieges, der auch in der Frühen Neuzeit die Ausnahme bildete, beschrieben. Die Funktion

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170 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen der Frauen in der Militärgesellschaft blieb weiterhin ein »weißer Fleck« in der Militärgeschichte der Frühen Neuzeit.

Krankte die ältere Militärgeschichte an der »doppelten Männlichkeit« (Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006), da sie nur von Männern betrieben wurde und nur Männer als historische Subjekte wahrnahmen, so befassen sich in jüngster Zeit zunehmend Frauen mit militärhistorischen Fra- gestellungen und der Rolle von Frauen im Militär. Die Dissertation von Beate Engelen ist ein Beispiel für diese thematische Neuorientierung und die langsame Öffnung der Militärgeschichte für die Fragen der Frauen- und Geschlechtergeschichte.

Am brandenburgisch-preußischem Beispiel, wobei besonders die Kurmark und die Residenzstädte Potsdam und Berlin betrachtet werden, untersucht die Autorin die Lebens-, Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse der weiblichen Militärangehörigen.

Hervorzuheben ist dabei, dass in die Untersuchung auch kleinere Städte, wie Prenz- lau und Strausberg einbezogen wurden, richtete sich doch in der Vergangenheit das Interesse der Forschung häufig nur auf die großen Städte, wie Berlin, Frank- furt/ Oder und Potsdam.

Der Verlust des preußischen Heeresarchivs auf dem Potsdamer Brauhausberg nach einem alliierten Bombenangriff im April 1945 und damit das Fehlen der Akten der preußischen Armee wird von den Militärhistorikern beklagt. Ein Pilotprojekt für das preußische Westfalen sowie die Ergebnisse einer Forschergruppe unter der Leitung des Geheimen Staatsarchivs, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs und des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam haben gezeigt, dass in den Archiven zwischen Elbe und Oder zahlreiche Quellen zur branden- burgisch-preußischen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit vorhanden sind.

Beate Engelen hat für ihre Arbeit eine Vielzahl von Quellen dieses heterogenen Aktenmaterials der früheneuzeitlichen Verwaltung ausgewertet. Daneben wurden quantifizierende Massenquellen wie Militärkirchenbücher und Akten der Servisver- waltung herangezogen.

Die Untersuchung zeigt, dass die Vorstellung von den zwangszölibatär lebenden Soldaten der Frühen Neuzeit nicht haltbar ist. Trotz der rigiden Heiratsquoten in der preußischen Armee hatte ein nicht unbeträchtlicher Teil der Soldaten Frau und Kinder.

Die Ergebnisse der Arbeit sind dabei nicht nur für die Militär-, sondern auch für die Alltags- und Sozialgeschichte von Interesse. Die Lebensbedingungen der Soldatenfamilien, ihre Stellung in der Garnisonstadt sowie im Ordnungskonzept des frühmodernen preußischen Staates werden dabei detailliert beschrieben. Damit löst die Autorin das ein, was Wolfram Wette bereits vor dreißig Jahren forderte, eine Militärgeschichte von »unten« aus der Perspektive der gemeinen Soldaten zu schreiben und ihre Lebenswirklichkeit aus den Akten zu rekonstruieren.

Dabei wird deutlich, dass die Soldatenfamilien sich kaum von anderen Familien aus den unteren sozialen Schichten unterschieden. Lediglich im Kriegsfall, was seit dem Regierungsantritt Friedrich II. häüfig der Fall war, mussten die Familien der Soldaten besondere Belastungen erdulden. Ging der Mann auf den Schlachtfeldern seinem »Kriegshandwerk« nach, fehlte den Frauen nicht nur der Partner und den Kindern der Vater, sondern auch dessen Sold und seine Arbeitskraft. Der früh- moderne Staat hatte weder die finanziellen noch die verwaltungstechnischen Mittel um für die Soldatenfrauen und Kinder ein soziales Sicherungssystem bereitzustellen.

So blieb es größtenteils den städtischen Magistraten oder dem sozialen Netz der Gar- nisonsgesellschaft überlassen, die Familien in dieser Krisensituation zu unterstützen.

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Neben den mit einem Soldaten verheirateten Frauen gehörten im 18. Jahrhundert auch die sogenannten Soldatenliebsten zur Garnisonsgesellschaft. Da die Heirats- quotierung der preußischen Armee äußerst streng war, die Soldaten aber nicht davon abgehalten werden konnten mit einer Partnerin zusammenzuleben, schuf man in Preußen während der Regierung Friedrich II. die »Soldatenliebsten«. Dieser innovative Rechtsstatus (S. 555) stellte ein alternatives Ehekonzept dar, das nicht auf dem kirchlichen, wohl aber auf dem Gewohnheitsrecht basierte. Mit diesem Konzept erhielten beide Partner Rechte, die sonst nur Eheleuten vorbehalten waren.

Soldatenfamilien lebten am oder unter dem Existenzminimum. Eine reine Elendsgeschichte ist die Geschichte der Soldatenfrauen trotzdem keineswegs. Auch hier gab es Erfolge und Zeichen eines durchaus selbstbewussten Auftretens gegen- über den Repräsentanten des frühmodernen Staates, etwa beim »Holzaufstand«

der Frauen der Potsdamer Garnison anlässlich der ungerechten Verteilung von kostenlosem Holz für die zurückgebliebenen Frauen während des Bayerischen Erbfolgekrieges.

Durch die Auswertung der umfangreichen Quellenbestände gelingt es der Verfasserin, Licht in die Lebensumstände der Soldatenfrauen zu bringen und ein lebendiges Bild der Militärbevölkerung Brandenburg-Preußens im 18. Jahrhundert zu entwerfen.

Carmen Winkel

Jürgen Kloosterhuis, Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer »facheusen« Geschichte, Berlin: Duncker

& Humblot 2006,112 S., EUR 14,80 [ISBN 3-428-12193-7]

Das Kriegsgerichtsverfahren gegen den Kronprinzen Friedrich und seine Mittäter, die Leutnante Hans Hermann v. Katte und Peter Christoph Karl v. Keith, ist wohl der bekannteste Prozess der preußisch-deutschen Militärgeschichte. Doch verdient das Verfahren nicht nur der Prominenz des Hauptangeklagten wegen besondere Aufmerksamkeit, sondern es ist zugleich ein Musterbeispiel für die Rechtsauffas- sungen und die herrscherliche Selbstwahrnehmung Friedrich Wilhelms I.

Jürgen Kloosterhuis nimmt sich des Themas unter drei Aspekten an, um sie ab- schließend zu einem runden Gesamtbild des Vorgangs zu verknüpfen: aktenkund- lich, archivgeschichtlich und schließlich militärgeschichtlich. Dabei präpariert er die Handlungs- und Sachzwänge, unter denen König Friedrich Wilhelm I. stand, deut- lich heraus und adaptiert den Prozess auf die Kontexte der preußischen Außen-, Adels-, Militär- und Rechtspolitik.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht die preußische Staatsräson des frühen 18. Jahrhunderts, personifiziert im König selbst und exemplifiziert an dessen Ver- ständnis von »Ordre und Kriegsartikeln«. In sechs Abschnitte gegliedert, mit einem umfassenden wissenschaftlichen Apparat unterfüttert und durch einen erhellenden Quellenanhang ergänzt, zerlegt Kloosterhuis den Vorgang, indem er die Rahmen- handlung präsentiert (I.), den üblichen Geschäftsgang der königlichen Verwaltung und die Abweichungen im vorliegenden Fall beschreibt (II.), sich den überlieferten Akten widmet (III.), Herkunft und Vita des Täters Katte entfaltet (IV.), die Position des Kronprinzen als dem zukünftigen König beleuchtet (V.) und dies schließlich in der militärgeschichtlich-wehrstrafrechtlichen Perspektive bewertend zusammenfasst

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172 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen (VI.)· Die Arbeit referiert dabei eher beiläufig und im Apparat verankert den aktuel- len Forschungsstand zur preußischen Geschichte der ersten Hälfte des 18. Jahrhun- derts - inklusive der Rezeptionsgeschichte des Stoffs - und zu den drei Hauptak- teuren: Friedrich Wilhelm I., dem Kronprinzen Friedrich und Katte,

Erfreulich wirkt das ausgewogene Verhältnis zwischen Text, Apparat und Quellenanhang, eine Balance, die bei ähnlichen Veröffentlichungen zum Nachteil der Lesbarkeit nicht immer gewahrt ist. Dass es nicht nur für den professionellen Archivar lohnend ist, sich den Akten, dem Geschäftsgang und der bürokratisch- archivalischen Uberlieferungsgeschichte anzunehmen, belegt die Studie, die unter den Gesichtspunkten der Quellen-, Stil- und Überlieferungskritik einige bemerkens- werte Aspekte des Sachverhalts zutage fördert. Nur einer davon ist die augenzwin- kernde Feststellung, »daß auch in Preußen manchmal Akten verschwinden« (S. 9).

Und zwar fehlt nachweislich seit 1826 (S. 27) eben jener Band der Küstriner Ermitt- lungsakten, der über die Entstehungshintergründe der geheimen Kabinettsordre vom 1. November 1730 Aufschluss geben könnte, die ein Schlüsseldokument des Verfahrens ist - es ist das Aktenstück mit der königlichen Todessentenz zum Nachteil Kattes (S. 88, Q2). Diese Kabinettsordre enthüllt den inneren Konflikt, der Friedrich Wilhelm I. spaltet, der sich aktenstilistisch dort entlarvt, wo der König zwi- schen dem Ich-Stil der Kabinetts-Ordre und dem Objektiven Stil der Kabinetts-De- krete, in dem z.B. Todesurteile üblicherweise abgefasst wurden, schwankt (S. 17).

Einen archivgeschichtlich interessanten Weg nahmen die Akten, bevor sie 1850 vom Geheimen Staatsarchiv ins kgl. Familienarchiv überführt wurden, was zeigt, dass die Einordnung der Akten im Spannungsfeld zwischen Staat und Haus prekär blieb. Übrigens ließen sich alle preußischen Könige von Friedrich dem Großen bis zu Friedrich Wilhelm IV. die Akten persönlich vorlegen. Ein Umstand, über den sich unter Gesichtspunkten der >Aktenhygiene< spekulieren ließe.

Als Kronprinzenkonflikt, Katte-Tragödie und Königsdrama weist der »Fall«

drei personale Ebenen auf, bei deren militärgeschichtlicher Würdigung das Königsdrama in den Mittelpunkt rückt (S. 63 ff.). »Facheuse«, d.h. verdrießlich ist die Geschichte indes bezüglich des Kronprinzen, doch wurde dieser durch die Ermittler und das Einwirken des Ministers v. Grumbkow im Verlaufe des Verfahrens sukzessive als »persona sacra« aus diesem herausgezogen, und in eine kronprinzliche Sonder-Rechtssphäre manövriert. Man betrachtete ihn nicht mehr vorrangig als fahnenflüchtigen Offizier, sondern überantwortete ihn als ungehorsamen Sohn und Prinzen der väterlich-königlichen Jurisdiktion, während Leutnant Katte schließ- lich allein mit seinem Kopf für den Verstoß gegen Fahneneid und Kriegsartikel haftete (S. 66 ff.).

Der Verfasser verzichtet darauf, die bekannte Rahmenhandlung von Vater- Sohn-Konflikt und Flucht vorzustellen, wie sie sich von Spätsommer 1730 bis zur Hinrichtung Kattes im November abspielte. Vielmehr konzentriert er sich auf den Prozess und die für dessen Verständnis erforderlichen Umstände. Der Leser erfährt Wesentliches zur Biografie Kattes und seiner Verwurzelung in zwei höchst unter- schiedliche Traditionen, die eine personifiziert im Vater, die andere im Großvater mütterlicherseits. Während letzterer - Reichsgraf Wartensleben - für das selbstbe- stimmte Leben eines adligen Herren stand, repräsentierte der Vater den domesti- zierten Typus eines in die Regimentskultur der preußischen Armee integrierten Dieners der Krone. Der jüngere Katte hingegen verkörperte »altadlige Selbstbehaup- tung bis zur Fronde« gegen die »dienstwillige Akzeptanz eines absolutistischen Souveränitätsanspruchs« (S. 54). Dieser familiäre Hintergrund und die persönlichen

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Bekanntschaften, u.a. mit Vertretern der französischen Diplomatie in Berlin sowie Kattes Kontakte nach London und Madrid empfahlen ihn geradezu als Mitver- schworenen, verliehen ihm als Mittäter aber zugleich ein ganz anderes Format und brachten damit unmittelbar die hochverräterische Komponente ins Spiel. Hinzu gesellte sich eine gewisse Leichtlebigkeit, eine »Kavaliersattitüde in Uniform«, die sich in König Friedrichs späterem Urteil über Katte - und Keith - wiederfindet:

»aimable tous les deux, mais aussi etourdi que moi« (S. 44). Aber der Vorgang ist mehr als eine kronprinzliche Eskapade, denn er weist diplomatische Dimensionen von internationaler Tragweite auf: leicht vorzustellen sind die Verwicklungen, die ein Asylgesuch des preußischen Kronprinzen in England oder Frankreich nach sich gezogen hätte.

Zuletzt wählt Kloosterhuis eine militärhistorische, d.h. militärjustizielle Perspek- tive, die sich an den preußischen Kriegsartikeln als zentraler Rechtsquelle orientiert.

Hierbei sind zwei Artikel, in Verbindung mit dem Fahneneid, der die Grundpflicht zu Treue ünd Gehorsam gegenüber dem König gebietet, einschlägig: die Artikel 19 und 20. Denn über die normale Fahnenflucht (Art. 19) hinaus, kommt erschwe- rend der Sonderfall des Desertionskomplotts (Art. 20) hinzu. Ebenso verschärfend wirken der Offizierrang der Täter und ihre Zugehörigkeit zu einem Gardetruppen- teil. Nachvollziehbar erfährt der Leser, wie die Kriegsgerichtsverhandlung zuletzt um die Frage des Todesurteils für Katte kreiste, wie das Votum des Kriegsgerichts, divergierend nach Dienstgradgruppen, und der Wille des Königs nicht zusammen- finden konnten, und der König schließlich genötigt war, selbst die Strafschärfung vorzunehmen, der sich das Gericht standhaft verweigerte. Dabei wird deutlich:

unbeschadet der theoretischen Handlungsspielräume des Königs, das Urteil zu schärfen oder zu mildern, bestanden keine Zweifel an der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit von Kattes Handeln. Er war der Desertion und des Majestäts- verbrechens überführt und hatte damit sein Leben verwirkt. Da bereits der flüchtige dritte Komplotteur, Keith, zum Tode verurteilt und in effigie gehängt worden war, schrumpfte der Entscheidungsspielraum Friedrich Wilhelms weiter. »Ein Exempel zu statuieren« war zwingend geboten (S. 82), wollte Friedrich Wilhelm als Regi- mentschef und König ohne Autoritätsverlust bestehen. Kloosterhuis führt dem Leser eindringlich vor Augen, welche Antriebe und Hemmungen im König wider- stritten und wie dieser nicht umhin kam, es mit »ordre und Kriegsartikel[n]« zu hal- ten. Mit »Katte« liegt daher eine gleichermaßen interessante und sachlich fundierte, wie anregend zu lesende Studie auf breiter Quellenbasis vor, die sich durch poin- tierte Formulierungen und einen insgesamt sehr eingängigen Sprachduktus aus- zeichnet.

Dirk Reitz

Günter Schneider, 1794 - Die Franzosen auf dem Weg zum Rhein, Aachen:

Helios 2006,209 S., EUR 23,80 [ISBN 978-3-938208-24-3]

Thema der vorliegenden Studie ist der Siegeszug der französischen Armee während des Jahres 1794 - angefangen bei der Schlacht von Fleurus am 26. Juni über die Einnahme von Trier und Aachen bis hin zur erfolgreichen Belagerung von Maastricht am 4. November - sowie die daraus resultierende Verschiebung der Ostgrenze Frankreichs bis an den Rhein. Einleitend skizziert der Verfasser die

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politische Entwicklung nach Ausbruch der Französischen Revolution, wobei er vor allem bemüht ist, die politischen Gegensätze und Interessenkonflikte zwischen der Revolutionsregierung einerseits und den verbündeten europäischen Monarchien andererseits herauszuarbeiten. Danach konzentriert er sich im ersten Teil seiner Darstellung auf den Verlauf der Kampfhandlungen im engeren Sinne, wobei die jeweiligen strategischen und taktischen Entscheidungen allerdings nur sparsam und zumeist eher beiläufig kommentiert werden. So etwa, wenn der Verfasser da- rauf hinweist, dass die Österreicher weiterhin am althergebrachten Kordonsystem festhielten, während die französischen Befehlshaber die größtmögliche Konzen- tration ihrer Truppen an einem Punkt anstrebten und danach trachteten, den Gegner durch ständige Angriffe nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Gleichwohl entwirft Schneider ein detailliertes Bild der Marschbewegungen und Gefechtshandlungen, wobei er in seinen Text immer wieder zeitgenössische Äußerungen einfügt, die das Geschehen aus der Perspektive der verantwortlichen Politiker, der kommandieren- den Generale, aber auch der einfachen an den Kampfhandlungen beteiligten Sol- daten kommentieren. Darüber hinaus werden Fremdwörter und (militärische) Fachtermini durchgängig erklärt. Illustriert werden die Aussagen im Text durch entsprechende Karten und Übersichtstabellen, durch Porträts der französischen und alliierten Befehlshaber sowie durch zahlreiche zeitgenössische und später entstandene Abbildungen (letztere werden als solche stets ausgewiesen).

Im zweiten Teil seiner Darstellung erörtert der Verfasser die Lebensbedingungen in den von den Franzosen eroberten Gebieten zwischen Maas und Rhein. Dabei geht es zunächst um die Lasten, die der dortigen Bevölkerung unmittelbar nach dem Eintreffen der französischen Armeen auferlegt wurden. Dazu gehörten u.a. die Kriegssteuern (Kontributionen), die Requisitionen, die der Deckung des ständigen Bedarfs der Besatzungsmacht dienten, sowie die Einquartierung. Vor allem aber schildert Schneider die (offiziell verbotenen) Plünderungen, die die Bevölkerung über sich ergehen lassen musste. Dabei zitiert er ausgiebig aus den Selbstzeugnissen der Betroffenen und lässt auf diese Weise ein plastisches Bild von den ersten Be- satzungsmonaten entstehen. Ferner beschreibt er den Aufbau der von den Franzosen eingerichteten Zentralverwaltung mit Sitz in Aachen, die Einführung der Assignaten und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen sowie die republikanischen Neuerungen, zu denen u.a. die Errichtung von Freiheitsbäumen, die Einführung des Revolutionskalenders sowie das Anlegen der blau-weiß-roten Kokarde ge- hörten. Bei seiner Darstellung ist der Verfasser durchgängig bestrebt, beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dazu gehört, dass er auch auf das Schicksal der einfachen französischen Soldaten eingeht, einschließlich ihrer mangelhaften Ausrüstung und schlechten Verpflegung, und deren Strapazen und Entbehrungen beschreibt, die im Einzelfall auch zu Subordinationsvergehen führten. Ferner weist Schneider zu Recht darauf hin, dass keineswegs alle Bewohner der besetzten Gebiete in den Franzosen die Unterdrücker sahen, und nicht wenige, die mit der Revolu- tion sympathisierten, sie als Befreier begrüßten.

Der letzte Teil gilt der politischen Absicherung des erreichten Zustandes. Eine deutliche Mehrheit der französischen Politiker sah in dem Rhein die »natürliche«

Ostgrenze ihres Landes und trachtete danach, diese Gebiete zu annektieren. Wenn- gleich es auch Gegenstimmen zu diesen Plänen gab, so drehte sich der Streit doch im Wesentlichen darum, ob das betreffende Territorium direkt Teil der französischen Republik werden sollte oder zu einem eigenständigen Staatswesen, der so genann- ten Cisrhenanischen Republik, transformiert werden sollte. An eine Verwirklichung

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derartiger Vorstellungen - ein Lieblingsprojekt der deutschen Intellektuellen und Demokraten - war jedoch nicht zu denken. Was blieb, war die Einverleibung des Landes zwischen Maas und Rhein in die französische Republik, eine Veränderung, die mit dem Frieden von Luneville im Jahr 1801 völkerrechtlich anerkannt wurde.

Der informativen Studie, die sowohl die militärischen Operationen der Franzosen und ihrer Gegner als auch das politische Handeln der Besatzungsmacht Frankreich detailliert und nachvollziehbar darstellt, sind eine Chronik der Jahre 1794 bis 1797, Kurzbiografien der wichtigsten Politiker und Militärs sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis beigefügt.

Heinz Stübig

Ralf Prove, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München: Ol- denbourg 2006, X, 132 S. (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, 77), EUR 19,80 [ISBN 978-3-486-57633-7]

»Das Schmuddelkindimage der Militärgeschichte fand in den 1990er Jahren sein Ende, als ein beispielloser Boom an den Hochschulen einsetzte, der rasch zu einem regelrechten Ansturm auf militärgeschichtliche Themen führte.« Der dieses schreibt, muss es wissen. Ralf Pröve, der diese Zeilen in seinem jüngsten Werk Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert zu Papier bringt (S. 54), hat selbst in früheren Veröffentlichungen maßgeblich daran mitgewirkt, dass die noch Mitte der 1990er Jahre fast unisono beklagte verbreitete Ignorierung des Faktors Militär in den Geschichtswissenschaften nun überwunden scheint.

Das Werk ist erschienen in der Reihe Enzyklopädie deutscher Geschichte (EdG).

Deren Absicht ist es, knappe Darstellungen für Fachhistoriker und interessierte Laien so zur Verfügung zu stellen, dass die Publikationen als Studienbücher, Nachschlagwerke und Forschungsberichte nutzbar sind. Die Reihe verfügt nun über eines von derzeit drei geplanten Werken zur Militärgeschichte; je ein Band zur Militärgeschichte des 18. und des 20. Jahrhunderts sollen aus der Feder von Bernhard R. Kroener folgen. Endlich ist die Lücke geschlossen, die mit der seit 1988 aufgelegten Reihe bestand - sind doch die Ausführungen Peter Blickles im Band 1 der EdG über Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 bis 1800 gänzlich militärfrei. Auch die weiteren Bände der Reihe führen einen verdienstvollen Kreis von allgemeinen oder spezielleren Themen auf: z.B. Handel, Banken und Versiche- rungen im 19. und 20. Jahrhundert (Bd 45) oder die Angestellten im 19. Jahrhundert (Bd 54). Folgt man den bisher erschienenen EdG-Titeln, so stellt sich die deutsche Geschichte als eine rein zivile und weitgehend kriegsfreie Geschichte dar. Wie schön, wenn dem so gewesen wäre! Auch der Themenkreis der Reihe »Staaten- system, internationale Beziehungen« tritt deutlich in den Hintergrund gegenüber den - wichtigen - Bänden zu »Kultur, Alltag, Mentalitäten«, »Wirtschaft« und »Ge- sellschaft«. Wie gesagt, Proves Buch schließt eine Lücke.

Dem Autor geht es in seinem Werk darum, die lange Zeit vorherrschende iso- lierte Betrachtung vom Militär aufzubrechen und - der Titel sagt es - es in den Kontext von Staat und Gesellschaft einzufügen. Damit knüpft er an die im Vor- genannten aufgeführten Themenkreise an, die ja nicht nur die EdG-Reihe, sondern die Tendenzen der geschichtswissenschaftlichen Forschung seit den späten 1980er Jahren kennzeichnen. Ohne diese Anknüpfungspunkte wäre diese »neue Militärge-

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schichte« nicht verständlich. Ist diese sozialgeschichtliche Einbettung der Militär- geschichte wichtig, aber fast schon ein Allgemeinplatz in der Forschung, so beschreitet Prove bei der zeitlichen Abgrenzung seines Gegenstands Neuland: Sieht er doch das darzustellende 19. Jahrhundert, diese »Epoche des Übergangs«, dieses

»Jahrhundert der Transformation« lind »Säkulum des Fortschritts und der Moder- ne« in engem Zusammenhang mit dem vorangegangenen Zeitalter. Mit dem schon zum Klassiker avancierten Nipperdey-Zitat »Am Anfang war Napoleon« beginnt gemeinhin die Darstellung des Säkulums, nicht aber die Proves. Die Genesis dieser Transformationsepoche will er nicht mit dem Korsen, auch nicht mit dem Stichda- tum 14. Juli 1789 starten lassen. Proves 19. Jahrhundert beginnt mit dem Siebenjähri- gen Krieg und endet mit der deutschen Reichsgründung von 1871, spätestens mit der technologischen Umwälzung der 1890er Jahre (S. 1 f.). Mit dieser - diskutierba- ren, aber nachvollziehbaren - Einteilung wird zugleich der scharfen Trennung von

»Moderne« und »Vormoderne« eine klare Absage erteilt. Vielmehr treten die Nuan- cen im Transformationsprozess stärker zutage. Nach dieser Perspektive büßen Modernisierungstheorien, die von einer gleichsam teleologischen Modernisierung seit 1789 ausgehen, viel von ihrer Glaubwürdigkeit ein.

Als Leitmotiv des 19. Jahrhunderts in militärischen Dingen macht Pröve den Widerstreit über die »Volksbewaffnung« aus (S. 15-17). Luzid arbeitet er einen Uberblick über die widerstreitenden Konzeptionen und Semantiken dieses Begriffs heraus, die nicht nur für das Verständnis des 19. Jahrhunderts wichtig sind, sondern Ideologeme und Konzepte widerspiegeln, die bis in die Gegenwart hinein reichen.

Durch die strikt vollzogene gedankliche Alternative »Bürgerlich-liberaler Verfas- sungsstaat oder autokratischer Obrigkeitsstaat« ergaben sich im 19. Jahrhundert

»viele Missverständnisse und Begriffsverwirrungen, die für zusätzliches Chaos sorgten, da sich Sprache und Begriffe innerhalb kürzester Zeit wandelten und neue Semantiken entwickelten, so etwa die Begriffe Freiheit oder Volk«. So wurde der

»Begriff von der Volksbewaffnung [...] zu einer alles umfassenden Chiffre, deren Semantik überdies im Laufe von Reformzeit und Vormärz stark variierte« (S. 16).

Die im 19. Jahrhundert vollzogene historische Lösung dieses Konflikts bestand im Bündnis von »Staat« und »Volk« durch die Einführung der Allgemeinen Wehr- pflicht. Freilich stand bei der Einführung dieser Wehrform weniger die hehre Idee, sondern blanke Notwendigkeit Pate: »Das Ziel von Scharnhorst und Gneisenau war nicht der mündige Staatsbürger französischer Provenienz, sondern die Stei- gerung der militärischen Effizienz über den massenhaften Einsatz von patriotisch begeisterten Freiwilligen« (S. 10). Damit verkündet der Autor den Abschied von einer liberalen Legende, die von ganzen Historikergenerationen gepflegt wurde.

Dagegen folgt Pröve der liberalen Lesart, dass die Militarisierung von Staat und Gesellschaft vor allem deshalb voranschritt, weil der Obrigkeitsstaat zwar den maximalen Zugriff auf das Rekrutierungspotenzial der männlichen Bevölkerung ermöglichte, dieser aber die politische Mitsprache verweigerte (S. 33). Der Sieg der Konservativen in der Revolution von 1848/49 etablierte das »Militär als letzte Bas- tion« der alten Ordnung (S. 24). Damit sieht Pröve die Revolution in der Jahrhun- dertmitte als »Wasserscheide«: Bestand im Vormärz noch eine kritische Grundhal- tung des Bürgertums gegenüber dem Militär, so erhob sich mit dem Sieg des Militärs über die inneren (1848/49) und äußeren Gegner (1864-1871) eine »Aussöhnung von Bürgertum und Militär und zu einer neuen Form der sozialen Militarisierung breiter Bevölkerungskreise« (S. 42). Als Agent des militärischen Denkens und Han- delns in der zivilen Welt par excellence erhob sich der Reserveoffizier (S. 44). Freilich

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möchte man fragen, ob sich denn die gesamte Entwicklung von Militär und Gesell- schaft im späten 19. Jahrhundert mit dem Schlagwort »Militarismus« erklären ließe.

So unbestreitbar der Militarismus in der Kaiserzeit grassierte, so sehr empfiehlt sich doch eine sozialgeschichtliche Gegenüberstellung konträrer Trends: Irgendwer muss sich ja an den wenig schmeichelhaften Simplicissimus-Karikaturen ergötzt haben; von den ebenso wenig militärhörigen katholischen oder sozialdemokrati- schen Milieus ganz abgesehen. Zudem wirkte sich, so Pröve, das Militär als Bremser von gleichsam naturwüchsigen Entwicklungen aus: »Es war jene unheilvolle Ver- mengung politischer und verfassungsrechtlicher Faktoren und der nie erfolgten Verbürgerlichung und Einhegung des Militärs, die, zusammen mit einer Militari- sierung und Verobrigkeitlichung der Bevölkerung [...] erhebliche Verzögerungen in der Weiterentwicklung gesellschaftlicher und politischer Prozesse zeitigte.« (S. 44) Lugt sie nicht da wieder hervor, die Modernisierungstheorie?

Im zweiten Teil widmet sich der Autor, dem Prinzip der Reihe entsprechend, den Grundproblemen und Tendenzen der Forschung. Aus seinem Überblick über die neuere Forschungsliteratur ist zu Recht die Interpretation hervorzuheben, dass der preußische Zusammenbruch von 1806 als Epocheneinschnitt zu relativieren sei (S. 61). Auch die in der früheren Forschung akzentuierte Kennzeichnung der soldatischen Lebenswirklichkeit im 19. Jahrhundert als »Elendsgeschichte« wird durch neuere Ergebnisse differenzierter gesehen. Insgesamt hat der sozialgeschicht- liche Ansatz der jüngeren Literatur eine breite Schnittmenge von Militär und Gesell- schaft zutage gefördert, mit allen Chancen und Risiken (S. 71 f.). Als neue Felder und Fragestellungen der Militärgeschichte sieht Pröve den Komplex von Sozial-, Kultur-, Stadt-, Frauen- und Geschlechtergeschichte, also dem, was die »neue Militärgeschichte« entscheidend vorangetrieben hat. Daneben zeichnet er die ak- tuellen Untersuchungen in den Themenbereichen Technik-, Wirtschafts- und Politik- geschichte nach. Kurz, aber immerhin im Gegensatz zu vielen anderen Werken der

»neuen Militärgeschichte« geht Pröve auch auf die Operationsgeschichte ein. Auch sie sollte ja wohl nach wie vor auch zur Militärgeschichte gehören; freilich ein- gebettet in die politischen und sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit (S. 73). Als Kernprobleme des Jahrhunderts erörtert der Autor den Komplex von Militarismus und Militarisierung, wobei er die in der jüngeren Forschung vorge- nommene Ausdifferenzierung mehrerer Militarismen hervorhebt. Schließlich streift er die Forschungsdiskussion im Themenkreis von Gewalt und Totalem Krieg. Offen bleibt die Dynamik des Prozesses im Zeitverlauf: Stellte sich die Modernisierung zu immer »totaler« werdenden Destruktionsmitteln und -Organisationen mehr als Evolution oder Revolution dar?

Wichtiger - und kontroverser - als dieser gute Literaturbericht sind Proves Aus- führungen zur Geschichte und Methodik der Teildisziplin selbst (S. 47-56). Das Fach Militärgeschichte war lange in zwei Stränge gespalten: Zum einen die zivile Universitätswissenschaft - meist unter Ausblendung der Kriegführung und mili- tärischen Organisation - ; zum anderen die »applikatorisch« am Anwendungsnutzen ausgerichtete »Kriegsgeschichte« als Teil der Militärwissenschaft innerhalb der Armeen. Ausgehend von den teils dramatischen methodischen Mängeln der appli- katorischen Militärgeschichtsschreibung gerade im späten 19. und frühen 20. Jahr- hundert ist es kein Wunder, dass Pröve natürlich die methodisch saubere Uni- versitätswissenschaft bevorzugt. Dabei kann er ein gewisses Misstrauen gegenüber einer amtlichen oder gar militärisch organisierten Geschichtsschreibung nicht ganz verhehlen. Da sich die von den katastrophalen Folgen des Militarismus gezeichnete

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178 MGZ 66 (2007) Buchbesprechungen bundesdeutsche Gesellschaft und Historikerzunft bis in die 1990er Jahre »völlig unzureichend« mit dem Themen Krieg, Gewalt und Militär beschäftigt habe, sei als Residuum der Militärgeschichte nur das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) übrig geblieben. Dieses hatte freilich selbst zunächst eine interne Ausein- andersetzung zwischen akademischer, zweckfreier Forschungsfreiheit und militä- rischem Anwendungsnutzen einer »Wehrgeschichte« zu führen. Wenn Prove aber feststellt, das MGFA sei »eben kein unabhängiges wissenschaftliches Institut für Militärgeschichte, sondern ein militärisch eingebundenes, den Direktiven des Ver- teidigungsministeriums unmittelbar unterliegendes und von einem Berufsoffizier geführtes Forschungsamt« (S. 51), so meint er das möglicherweise nicht nur hin- sichtlich der organisatorischen Anbindung des Amtes. Hinsichtlich der Forschungs- ergebnisse spiegelt diese Vermutung dagegen einen Zustand wider, der seit einem Vierteljahrhundert überholt ist. Denn Rainer Wohlfeil, auf den er sich (ebd., S. 52) bezieht, stellt seine Erfahrungen aus den Jahren 1952-1967 dar.

Der Punkt ist eher ein anderer: Das MGFA, das an anderer Stelle durchaus Proves Lob auf sich zieht (etwa S. 50 f.) ist in dem von ihm behandelten Themen- bereich kaum vertreten: Mit seinen Publikationen legt das Amt einen Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert - was angesichts der Katastrophe der Weltkriege und der drohenden Apokalypse des Kalten Krieges gerechtfertigt ist. Freilich ist dieser Schwerpunkt derart stark verfolgt worden, dass jüngere Publikationen des Amtes zur Betrachtungszeit vor 1890 eher zum Bereich der Vor- und Frühgeschichte zu rechnen scheinen und entsprechend rar ausfallen. Zur auch im Amt verfolgten Me- thodik einer »modernen Militärgeschichte« fand seit dem Sammelband zum 25-jäh- rigen Amtsbestehen keine umfassende Bestandsaufnahme mehr statt (Militärge- schichte. Probleme, Thesen, Wege, Stuttgart 1982).

Die methodische Auseinandersetzung zwischen »militärischer« und »akade- mischer« Militärgeschichte ist letztlich aber eine Fernwirkung des 19. Jahrhunderts, des hier etablierten Militarismus' und der Kritik an ihm: Proves aufgeklärtes Miss- trauen offenbart eine geistige Tradition, die sich letztlich aus der Militarismuskritik herleitet. Denn erst dieses Interesse an sozialen Strukturen und Lebenswelten im Militär und den von ihm beeinflussten Lebensbereichen hat ja das Heraufkommen einer »neuen Militärgeschichte« angetrieben, und diese erst hat viele nationale, militaristische und nun auch liberale und »linke« Geschichtsvorstellungen revidiert und differenziert. Dabei wurden aber gerade in der Frühen Neuzeit der historio- grafisch konstruierten »Militarisierung der Gesellschaft« Tendenzen einer »Verbür- gerlichung des Militärs« gegenübergestellt.

Vielleicht ist ein derartiger dialektischer Ausgleichsprozess auch in der neueren Militärgeschichte zu erkennen. Denn gegen die in der »alten Bundesrepublik« gern gepflegte Dichotomie von Militär und Gesellschaft sind seitdem vielfältigere Bezugsfelder herausgearbeitet worden; auch in der vorliegenden Publikation Proves.

Sie ist alles in allem empfehlenswert: prägnant und bisweilen provokativ formuliert, lesbar und mit einem Uberblick über die neuere Forschungsliteratur und vor allem mit Denkanstößen versehen. Weiter zu diskutieren wären insbesondere Proves Vor- schlag vom »langen 19. Jahrhundert« sowie die Methodik einer Militärgeschichts- schreibung, von der anzunehmen ist, dass sie auch in Zukunft noch anregende Fra- gen an die Geschichte stellt.

Martin Rink

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