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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen

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Bericht aus der Forschung

Bernhard Theil

Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen

I.

Militärgeschichte und Kulturgeschichte — diese Verbindung wäre noch vor 50 Jahren als absonderlich empfunden worden. Gerade unter dem Einfluß des Nationalsozialismus war erstere in genauer und übersteigerter Weiterführung preußischer Traditionen — die frei- lich auch andere Staaten pflegten — vor allem Kriegsgeschichte mit »applikatorischem«

Charakter, das heißt, einzelne Lagen in vergangenen Kampfhandlungen sollten herausprä- pariert werden, um für künftige Fälle angewandt zu werden; sie war also Generalstabswis- senschaft, die an den Offiziersschulen gelehrt wurde und für Fragen der militärischen Füh- rung herangezogen werden konnte. Damit verband sich die Geschichte von Organisation und Struktur militärischer Verbände — auch diese praktisch anwendbar. Dazu kam von alters her die Pflege militärischer Traditionen, die die ruhmreichen Taten der Vorfahren, ihre Siege und Opfer gleichermaßen in Erinnerung halten sollten, auch dies letzten Endes mit einer aktuellen — pädagogischen — Zielsetzung, damit diese nämlich als Vorbild für die gegenwärtige Soldatengeneration dienten1.

Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß diese Art von Militärgeschichte in der Ge- schichtswissenschaft heute keine Rolle mehr spielt. Militärgeschichte im engeren Sinne fragt heute allenfalls nach dem Militär als Mittel der Politik in der Hand der Staatsgewalt und nach der bewaffneten Macht als Faktor und politische Kraft im Rahmen des Staats2, ge- hört aber im übrigen meist zu den Gesellschaftswissenschaften, insofern sie sich mit dem Verhältnis des Militärs zur Gesellschaft und seiner Rolle in ihr in der jeweiligen Zeit be- schäftigt3.

Militärgeschichte ist somit eine historische Spezialdisziplin, die in besonderer Weise auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen ist4, denn das Militär berührt nicht nur Poli-

1 Vgl. zur Rolle der traditionellen Militärgeschichte etwa: Geschichte und Militärgeschichte. Wege der Forschung, hrsg. von Ursula v. Gersdorff mit Unterstützung des Militärgeschichtlichen For- schungsamtes, Bonn 1974, v. a. Einführung (S. 7 ff.), ferner Johann Christoph Allmayer-Beck, Die Militärgeschichte in ihrem Verhältnis zur historischen Gesamtwissenschaft, in: Osterreichische Militärische Zeitschrift, 2 (1964), S. 97—105 (Nachdruck in: Geschichte und Militärgeschichte, S. 177—199); Zur Diskussion um Ziele und Methodik der Militärgeschichte nach 1945, in: Mili- tärgeschichte. Probleme — Thesen — Wege. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungs- amtes aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens ausgewählt und zusammengestellt von Manfred Mes- serschmidt, Klaus A. Maier, Werner Rahn und Bruno Thoß, Stuttgart 1982 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd25), Teil I, S. 15—78.

2 Manfred Messerschmidt, Einführung, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1979, Bd 1, S. III; Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte, in: M G M 1 (1967), S. 21—29, wiederabgedruckt in: Geschichte und Militärgeschichte (wie Anm. 1), S. 165—175, hier S. 170.

3 Zielsetzung und Methode der Militärgeschichtsschreibung, in: Militärgeschichte. Probleme (wie Anm. 1), S. 48—59, hier S. 54.

4 Ebd., S. 55.

Militärgeschichtliche Mitteilungen 52(1993), S. 411—428 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Freiburg i.Br.

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tik und Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik und viele andere Lebensbe- reiche des Menschen, sondern — dies gilt vor allem für bestimmte Abschnitte der Vergan- genheit — steht in echten Wechselbeziehungen zu ihnen.

Wo das Militär Mittel zur gewaltsamen Erreichung politischer Ziele ist — dies gilt trotz aller gegenteiligen Beteuerungen auch heute noch in den meisten Teilen der Welt — beein- flussen militärische Überlegungen ihrerseits auch die Politik. Wenn die Rolle des Militärs in der Gesellschaft — aus welchen Gründen auch immer — an Bedeutung zunimmt, wie dies während des 19. Jahrhunderts ständig geschah, wächst natürlich auch sein Einfluß auf diese. Gleichzeitig gilt: Armeen organisieren im Frieden und im Krieg große Menschen- massen; dadurch entstehen umfangreiche Personalunterlagen, aus denen zahlreiche sozial- geschichtliche Fragen, auch mit quantifizierenden Methoden, beantwortet werden kön- nen. In jedem Fall spiegelt das Militär auch die es umgebende Gesellschaft. Armeen beschäf- tigen, ja prägen, indem sie Investitions- und Verbrauchsgüter in großen Mengen beschaf- fen, ganze Wirtschaftszweige; sie sind aber auch angewiesen auf deren Bedingungen. Dies gilt sowohl für die Landwirtschaft, für die die Verpflegung von Truppen in vor- und früh- industrieller Zeit eine unmittelbare, mitunter schwer zu bewältigende Aufgabe darstellte, als auch besonders für die Industrie, deren neuartige Produktionsmöglichkeiten die Aus- rüstung und Verpflegung grundlegend verändern und die andererseits unter dem Einfluß militärischer Bedürfnisse viele Entwicklungen erst aufgreift und vorantreibt. Dies gilt erst recht für Wissenschaft und Technik selbst. Genannt seien nur die Bereiche Bewaffnung und Medizin, deren Fortentwicklung sich gegenseitig beschleunigen. Die Entwicklung der Physik und der Chemie sowie der Ingenieurwissenschaften führt zu immer perfekteren Waffen, die wiederum die Vorsorge für Armee und Zivilbevölkerung vor große Heraus- forderungen stellen. Aber auch ohne die Extremsituation des Krieges erfordert die Unter- bringung, Bereithaltung und Betreuung großer Menschenmengen ständig Höchstleistun- gen im Bereich der Gesundheitsvorsorge — man denke nur an die Bemühungen zur Ver- besserung der Hygiene und anderer vorbeugender Maßnahmen einerseits, an den Ausbau der Krankenhäuser und die Entwicklung der Medizin und der Arzneimittel andererseits.

Militärgeschichte berührt aber auch in besonderer Weise die moderne Landes- und Stadtge- schichte. Im begrenzten, geographisch fest umrissenen Raum, ganz besonders in der einzel- nen Garnisonstadt, verändert das Militär entschieden den Siedlungsraum und die Topogra- phie, indem es große Flächen für die Errichtung von Kasernen und anderen militärischer Anlagen benötigt, aber auch die Atmosphäre und die Gesamterscheinung einer Stadt werden von dem in ihr garnisonierten Militär geprägt; andererseits beeinflussen aber auch die jeweili- ge Stadt und ihr Kulturraum, zu der auch ihre Gesellschaft und deren Mentalität gehören, das in ihr untergebrachte Militär — Beziehungen, die bisher kaum behandelt wurden.

So ist Militärgeschichte in besonderer Weise Teildisziplin der allgemeinen Geschichte5; sie leistet zugleich einen Beitrag zur Uberwindung der Spezialgeschichte, indem sie »Inte- gration und Korrelation als Leitgedanken historischen Forschens«6 erkennen läßt und die

»gesamtgeschichtliche Rahmenorientierung«7 durch den Gegenstand selbst immer durch-

5 Messerschmidt (wie Anm. 2), S. III.

6 Spezialforschung und »Gesamtgeschichte«. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frü- hen Neuzeit, hrsg. von Grete Klingenstein und Heinrich Lutz, Wien 1982 (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd 8), vor allem: Einleitung (S. 9—13), Beitrag von Lutz, Kultur, Kul- turgeschichte und Gesamtgeschichte (S. 279—299), Beitrag August Nitschke, Neue Wege zu einer Gesamtgeschichte (S. 302—308).

7 Lutz (wie Anm. 6), S. 297.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 4 1 3 sichtig macht. Deutlich wird dabei, daß die Einzeluntersuchung nur dann in befriedigen- der Weise abgeschlossen werden kann, wenn der Historiker bis in einen Bereich hinein vor- dringt, von dem aus alle anderen Aspekte einer Gesellschaft besser verständlich werden8. Besteht doch die menschliche und geschichtliche Wirklichkeit nicht aus säuberlich trenn- baren Faktoren; die Gesellschaft als ganze ist letztlich Ziel der Erkenntnis. Einer solchen Verknüpfung der Aspekte entspricht die »histoire totale«, die die sozialen, ökonomischen, ideologischen, religiösen und mentalen Erscheinungen nicht einzeln voneinander loslöst, sondern in wechselseitiger Verbindung und Verflechtung als integrierende Komponenten des gemeinsamen Lebens der Menschen der jeweils zu erforschenden Epoche betrachtet9. Ein »Integrationsfach« ist besonders die Kulturgeschichte, die das Ganze des menschli- chen Lebens zu umgreifen sucht10, wenn man sie versteht im Sinne jener von den Sozial- wissenschaften, der Ethnologie und der Kulturanthropologie geprägten Geschichte kol- lektiver Mentalitäten11, auch im Sinne der schon von Karl Lamprecht und Max Weber geforderterten historischen Wirklichkeitswissenschaft12. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht Äußerungen einzelner reflektierender Individuen, sondern der »Habitus«, die Gesamt- heit der »kulturellen Praxis«13, die mehr ist als die Summe einzelner Handlungen. Insbe- sondere van Dülmen und sein Kreis haben hier wichtige Themen neu formuliert und auch schon vielfach ihre Erforschung vorangetrieben. Nach ihrer Definition ist Kultur die Art und Weise, wie Gruppen oder Klassen selbständige Lebensformen ausbilden; sie artiku- liert ihre Bedürfnisse, Interessen und Vorsteillungen und strukturiert damit die Lebens- wirklichkeit14. So thematisiert die Kulturgeschichte in erster Linie alltägliche Lebenszu- sammenhänge, sowohl im Sinne alltäglicher Gewohnheiten als auch der dahinter stehen- den Werte, Ideen und Bedeutungen, die aber niemals losgelöst von der Praxis betrachtet werden können. Alltag bedeutet dabei auch und vor allem die von objektiven Gegeben- heiten bestimmten Verhaltensformen, in denen sich dann Wertsysteme unmittelbar aus- drücken, in denen also Mentalitäten sichtbar werden. Wichtig ist also einmal der beson- dere Bezug zur Sachkultur15 — also jenes durch Wohnung, Kleidung, Essen und Trinken,

8 Nitschke (wie Anm. 6), 'S. 302,

9 Vgl. Aaron Ja. Gurjevic, Die Geschichte als Dialog mit den Menschen vergangener Epochen, in: Theorie der modernen Geschichtsschreibung, hrsg. von Pietro Rossi, Frankfurt a. Main 1987, S. 267.

10 Vgl. Lutz (wie Anm. 6), S. 279ff., S. 295.

11 Vgl. Ludwig Linsmayer, Genußkultur, industrielle Technik und anthropologischer Wandel. Zu den zivilsationsgeschichtlichen Arbeiten Wolfgang Schivelbuschs, in: Armut, Liebe, Ehre. Stu- dien zur historischen Kulturforschung, hrsg. von Richard van Dülmen, Frankfurt a.Main 1988, S. 258.

12 Vgl. Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht, Wegbereiter einer historischen Sozialwissenschaft?, in: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hrsg. von Notker Hammerstein, Stuttgart 1988, S. 163 und passim; ferner: Gangolf Hübinger, Max Weber und die historischen Kulturwissenschaf- ten, ebd., S. 281.

13 Vgl. dazu etwa Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils- kraft, Frankfurt a.Main 1982.

14 Vgl. dazu vor allem die programmatischen Äußerungen van Dülmens als Vorbemerkung zu: Volks- kultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.—20. Jahrhundert), hrsg. von Richard van Dülmen und Norbert Schindler, Frankfurt a.Main 1984 sowie: Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, hrsg. von Richard van Dülmen, Frankfurt a.Main 1988 und:

Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung II, hrsg. von Richard van Dülmen, Frankfurt a.Main 1990.

15 Vgl. Roderich Schmidt, Kulturgeschichte in landeskundlicher Sicht, in: Zeitschrift für Ostfor- schung 30 (1981), S. 330, 348.

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Körperpflege und andere objektive Gegebenheiten bestimmte Ensemble, das in engster Wechselwirkung steht mit der Verhaltenskultur, zum andern die Beachtung der prägen- den Kraft bestimmter Verhaltensweisen, die wiederum neue Wertsysteme schafft, ohne daß diese ausdrücklich begründet sein müssen. Kulturgeschichte ist mithin einmal All- tagsgeschichte im Sinne einer Erforschung menschlicher — vor allem materieller — Lebens- grundlagen, zum andern Mentalitätengeschichte, wie sie sich aus der Analyse von alltägli- chen Verhaltensweisen ergibt, aus Gewohnheiten und Gebräuchen, aber auch aus typi- schen Reaktionsformen auf einmalige Situationen.

II.

Daß Militärgeschichte im Sinne dieser Kulturgeschichte tatsächlich verstanden werden kann, zeigt eine genauere Betrachtung militärgeschichtlicher Quellen. Insbesondere gilt dies für das 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf das Militär eine zunehmend wichtigere Rolle spiel- te und schließlich die Gesellschaft als ganze nachhaltig prägte. So erfüllen militärische Quel- len hier einmal in idealer Weise die methodischen Voraussetzungen für die Erforschung kollektiver Verhaltensweisen, aus denen sich allgemein verbreitete Mentalitäten erschlie- ßen lassen, die im begrenzten — militärischen — Raum, gleichsam verdichtet, wie in einem Brennpunkt sichtbar werden: Lebensweise und Werte des Militärs können jedenfalls prin- zipiell auf den größeren Rahmen der Gesellschaft übertragen werden. Im übrigen gilt: Woh- nung, Kleidung, Essen, Trinken, Körperpflege und Gesundheitsfürsorge, aber auch Arbeit und Freizeit sind zentrale Themen vieler militärischer Quellen — so wie sie wichtige Fra- gen der Kulturgeschichte darstellen.

Kulturgeschichtlich wichtig sind ferner viele Quellen über den Krieg selbst, jener Ex- tremsituation im militärischen Bereich, insofern sie Fragen beantworten nach dem Kriegs- erlebnis und seiner Verarbeitung durch den Menschen. Wie wird der Krieg vom durch- schnittlichen Menschen, vom Intellektuellen, von Frauen erlebt und aufgenommen? Wie reagiert der Soldat auf extreme Herausforderungen? Aber auch Haltung und Verhalten der Menschen, etwa in bezug auf Gemeinschaft und Kameradschaft und deren Gegen- teil, Einsamkeit und Verlassenheit, lassen sich mit Hilfe solcher Quellen mitunter be- handeln16.

Kriegsalltag und Kriegserlebnis sind in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der Alltags- und Mentalitätengeschichte gerückt, weniger dagegen das Militär als solches, das heißt vor allem aber Realien und Alltag des Militärs im Frieden.

Aus der Fülle hier möglicher Themen und Zeugnisse sollen daher im folgenden einige Beispiele aus diesem Bereich vorgestellt werden, die bislang noch wenig im kulturgeschicht- lichen Rahmen herangezogen wurden. Es ist dies einmal der schon mehrfach angespro- chene Fragenkomplex der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit, wozu natürlich Körperpflege, Hygiene, Medizin, aber auch Sport gehören. Andererseits sollen typische militärgeschichtliche Quellengruppen näher betrachtet werden und auf kultur-, alltags- und mentalitätsgeschichtliche Informationen befragt werden. Die Beispiele werden ausschließlich den Beständen des Stuttgarter Militärarchivs entnommen, das, im Jahre 1921 vor allem für die Akten des XIII. (württembergischen) Armeekorps gegründet, die gesamte militäri-

16 Vgl. dazu etwa Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und Friedenserziehung, hrsg. von Peter Knoch, Stuttgart 1989, hier v. a. S. 8, S. 222 ff.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 415 sehe Überlieferung Württembergs von 1806 — 1920 umfaßt17. Selbst wenn man zahlrei- che Kassationen in den 40er Jahren berücksichtigt, darf das dort erhaltene Material durch- aus als repräsentativ für militärisches Schriftgut des 19. Jahrhunderts gelten. Ausgewählt wurden Parolebücher und Gerichtsakten, wobei letztere mit ihren Verhörprotokollen und Ermittlungsunterlagen für die Kenntnis von alltäglichem Verhalten und den dahinter ste- henden Wertsystemen besonders ergiebig sind; Gerichts- und vergleichbare Untersuchungs- akten wurden daher schon öfters für derartige Fragen herangezogen18. Aber auch die Parole- bücher — fortlaufend geführte Aufzeichnungen über Weisungen und Bekanntmachungen im Zusammenhang mit der täglichen Paroleausgabe — erfüllen entsprechende methodi- sche Voraussetzungen: sie sind gleichförmig aufgebaut und erlauben daher über einen län- geren Zeitraum hinweg die Beobachtung alltäglicher Vorgänge, also eine »serielle Auswer- tung«19. Damit kommt das Kollektive, das Automatische, das Repetitive am besten in den Blick20, aus dem gerade kulturelle Praktiken und Mentalitäten gut erkennbar werden.

Natürlich gilt bei allen diesen Quellen, daß sie sozusagen gegen den Strich gelesen werden müssen, um ihre besondere Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang zu entfalten21.

1. Gesundheit, Erhaltung und Wiederherstellung

Die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik, wie sie sich während des gan- zen 19. Jahrhunderts zunächst stetig, dann stürmisch vollzog, veränderte nicht zuletzt auch den Alltag des Menschen nachhaltig und damit seine Einstellung zur Lebenswirklichkeit.

Der ungeheure Eindruck, den die Einführung der Dampfmaschine, der Eisenbahn und des Gaslichts — um nur einige markante Beispiele zu nennen — auf die Menschen mach- te, führte allmählich zu einer Fortschrittsgläubigkeit22, die gerade auch die Vorstellung

17 Zum Militärarchiv des Hauptstaatsarchivs Stuttgart (HStAS) vgl.: Übersicht über die Bestände des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. M-Bestände des Militärarchivs. Bearbeitet von Joachim Fischer, Stuttgart 21983 (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 31);

Günter Cordes, Von der Pertinenz zur Provenienz. Zur Neuordnung der militärischen E-Bestän- de des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, in: Aus der Arbeit des Archivars. Festschrift für Eberhard Gönner, Stuttgart 1986 (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archiwerwaltung, Bd 44), S. 129—

143; Joachim Fischer, Zehn Jahre Militärarchiv des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, in: ZWLG 37 (1978), S. 362—368; ders., Das württembergische Kriegsarchiv. Zur Überlieferungsgeschichte der militärischen Archivalien von Württemberg, in: Aus der Arbeit des Archivars, S. 101—128; Bern- hard Theil, Das Militärarchiv des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. Geschichte — Bedeutung — Quel- lenwert, in: Beiträge zur Landeskunde 5 (1990), S. 7—14.

18 Vgl. etwa die Forschungen von David W. Sabean, z.B.: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerstand im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986.

" Norbert Schindler, Spuren in der Geschichte der anderen Zivilisation. Probleme und Perspekti- ven einer historischen Volkskulturforschung, in: Volkskultur (wie Anm. 14), S. 49.

20 Vgl. Roger Chartier, Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, in: Mentalitä- ten-Geschichte, hrsg. von Ulrich Raulff, Berlin 1987, S. 78f.; Alf Lüdtke, Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebens- weisen, hrsg. von Alf Lüdtke, Frankfurt-New York 1989, S. 11.

21 Vgl. Lüdtke (wie Anm. 20), S. 19; Klaus Tenfelde, Schwierigkeiten mit dem Alltag, in: Geschich- te und Gesellschaft 10 (1984), S. 393.

22 Vgl. dazu Armin Hermann, Wissenschaftspolitik und Entwicklung der Physik im Deutschen Kaiserreich, in: Medizin, Naturwissenschaft, Technik und das Zweite Kaiserreich, Göttingen 1977, S. 53;· ferner Hans Süssmuth, Geschichte und Anthropologie. Wege zur Erforschung des Men- schen, in: Historische Anthropologie, hrsg. von Hans Süssmuth, Göttingen 1984, S. 5—18, hier S. 9.

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vom erreichbaren Ideal des gesunden Menschen nachhaltig beflügelte. Man war bald der Meinung, daß nahezu alle Probleme der Erkennung, Bekämpfung und Verhütung von Krankheiten mit Hilfe besserer Hygiene und der neuen Wissenschaft der Bakteriologie gelöst werden könnten23. Alle damit zusammenhängenden Fragen berührten auch zentrale Bereiche militärischen Planens, Organisierens und der Kriegführung, deren wichtigstes

»Material« bei aller Technik immer noch der Mensch blieb. So enthält das Militärarchiv umfangreiche Unterlagen über den Stand der Hygiene in den Kasernen und Krankenhäu- sern, durch deren Verbesserung zahlreiche Krankheiten in der Truppe von vornherein ver- mieden werden können. Insbesondere die Bauakten der Intendantur des XIII. Armeekorps (M 17/1) beschäftigen sich ständig mit diesen Fragen. Neben allgemeinen Gutachten über den Stand der Hygiene in den württembergischen Kasernen, in denen schonungslos auch Mängel — etwa auf dem Hohenasperg, in der Tübinger Kaserne (Büschel 86) oder in der Ludwigsburger Garnison (Büschel 108) und der Kavalierkaserne Ulm (Büschel 138) — detail- liert beschrieben werden, finden sich besonders viele Akten, die sich mit Latrinen und Abonen beschäftigen (z.B. Büschel 38b, 39, 94, 102, 103, 117, 120); in der Tat gingen von ihnen ja die größten gesundheitlichen Risiken aus. Mäßnahmen zur Verbesserung der Fäka- lienbeseitigung und der Entsorgung werden bis auf die Ebene des Kriegsministeriums diku- tiert. So werden Prospekte für Patent-WC's (M 17/1, Büschel 102) oder geruchlose Closets nach dem »Prinzip getrocknete Erde« oder verschiedene Desinfektionsmethoden genau überprüft (z.B. ebd., E 271c, Büschel 2146). Besonderes Augenmerk richtete man auch auf Kücheneinrichtungen (M 17/1, Büschel 26, 89), Bade- und Waschanlagen (z. B. ebd., Büschel 84, 100, 102, 103, 111, 122, 146, 230) und die Trockenlegung der vielfach vom Schwamm befallenen Gebäude (ebd., Büschel 101, 111, 121). Auch die hohe Bedeutung der Wasser- versorgung wird klar erkannt, ihr Stand genau überprüft, Verbesserungen werden ausführ- lich diskutiert (z.B. Büschel 137, 143, 149, 230, 231).

In allen diesen Akten verstärkt sich im Laufe des Jahrhunderts die wissenschaftliche Akri- bie, die auch früher Ungenanntes detailliert benennt im Bewußtsein, den Übeln auf den Grund zu kommen. Die umfassende Informationsbeschaffung militärischer Stellen bedeutet eine Dokumentation bis in den internationalen Bereich, so daß die Unterlagen den Stand des Wissens und der Technik nahezu vollständig spiegeln und darüber hinaus auch deut- lich machen, wie sehr das Militär selbst Vorreiter war, wenn es neue Verfahren entwickel- te24. Dies gilt auch und ganz besonders für den Krankenhausbau. Der Zustand der Mili- tärspitäler ist schon seit den dreißiger Jahren Gegenstand eingehender Berichte. Stand der Hygiene, Beleuchtung, Heizung, Sauberkeit, Toiletten, Nachtstühle und Belüftung wer- den — zunehmend kritisch und detailliert — beobachtet (z.B. E 271c, Büschel 2121). Beson- ders interessant ist dabei natürlich die Behandlung der Krankheiten selbst. Zunächst wird ihre Diagnose und Systematisierung im Laufe des Jahrhunderts immer genauer. Die vor- liegenden Statistiken sind zwar vor allem erstrangige medizinhistorische Quellen; Beschrei- bung der Krankheiten und Methoden ihrer Bekämpfung spiegeln aber auch die Lebens- wirklichkeit und die Probleme, mit denen das Militär im besonderen und die Gesellschaft im allgemeinen zu kämpfen hatten. So spielt etwa die Krätze, über deren Heilung schon 1821 berichtet wird (E 271b, Büschel 407), zu Beginn des Jahrhunderts eine besonders wich-

23 Vgl. Hans Seidler, Der politische Standort des Arztes im Zweiten Kaiserreich, in: Medizin, Natur- wissenschaft (wie Anm. 22), S. 87—101, hier S. 93.

24 Vgl. Heinz Goerke, Großstadtmedizin und Kassenarzt, in: Medizin und Naturwissenschaft (wie Anm. 22), S. 1 0 2 - 1 1 5 , hier v.a. S. 105, 108f.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 4 1 7 tige Rolle; später wird das sogenannte gastrische Fieber die wichtigste Krankheit. Gerade die- se Krankheiten stehen- auch in einem engen Wechselverhältnis zur Unterschicht und ihren spezifischen Lebensformen. Krankheit ist überhaupt in einem heute kaum mehr vorstellba- ren Maße schichtenspezifisch. Dies gilt besonders auch für die beim Militär häufig vorkom- menden Geschlechtskrankheiten, deren Bekämpfung in besonderer Weise in Fragen der Verhaltensweise und der Mentalität vor allem der männlichen Bevölkerung führte. Sie wird nach der Gründung des Kaiserreichs bald zur Reichssache, aber mit der konkreten Durch- führung, die im vorliegenden Zusammenhang ja von besonderer Bedeutung ist, beschäfti- gen sich zahlreiche regionale Gremien; ihre Aufrufe und Gutachten finden sich vielfach in militärischen Akten (z.B. M 1/8, Bund 46). Neben Propagierung von Gesundheits- und Hygienebewußtsein wird in ihnen etwa über die allgemeinen Gefahren des außereheli- chen Geschlechtsverkehrs bei Schülern, Studenten, kaufmännischen Angestellten und natür- lich Soldaten doziert — Personengruppen, die häufig außerhalb fester familiärer Bindungen lebten, weil sie in einer fremden Umgebung in Ausbildung stehen, arbeiten oder Dienst tun.

In diesen Ausführungen werden implizit und explizit Wertsysteme der Gesellschaft beson- ders deutlich. Besondere Aufmerksamkeit gilt auch dem Schlafgängerwesen; denn dieses

— so ein Gutachten von 1909 (M 1/8, Bund 46) — gibt, »wenn es nicht genügend beauf- sichtigt wird, sicher oft Anlaß zur Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten« (ebd.). Gefor- dert wird auch die bessere Überwachung der »Animierkneipen«, wenngleich das Gutach- ten des Königlichen Medizinalkollegiums von 1909 auch einräumt, daß diese in Württem- berg keine große Rolle spielen, und schließlich der Kampf gegen den Alkoholismus.

Was ferner die Bekämpfung der Epidemien betrifft, so hat diese für das Militär wieder- um besondere Bedeutung. Es wird auch hier zum Vorreiter neuer Maßnahmen — so etwa bei der Einführung der Impfung, über die schon aus der Zeit vor der Mitte des Jahrhun- derts Material vorliegt (E 271c, Büschel 2195—2196), aber auch bei der Erprobung neuer Desinfektionsmethoden nach Pocken-, Cholera-, Typhus- und Grippeepidemien (z.B. E 271c, Büschel 2188, 2192, 2195—2201; M 1/8, Bund 46). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Trinkwasserversorgung, von deren Situation im 19. Jahrhundert ein detailliertes Bild entsteht. Zu nennen sind hier exemplarisch die Akten des Gouvernements Stuttgart, die ein lebendiges Bild der Maßnahmen in Stuttgart während des 19. Jahrhunderts ver- mitteln, das weit über den militärischen Bereich hinausreicht und daher zahlreiche Infor- mationen bietet, die sonst — gerade für Stuttgart — nicht vorliegen. Immer wieder ist die mangelhafte Wasserversorgung Gegenstand eingehender Untersuchungen, wobei ein noch lange ungelöstes Problem die strikte Trennung von Brauchwasser und Abwasser dar- stellte (z.B. M 32, Bund 25).

Die Entwicklung der Verwundetenfürsorge — von der freiwilligen Hilfe bis zur Institu- tionalisierung25 — , der Aufschwung der medizinischen Technik ünd der Chirurgie wird natürlich vor allem durch die Kriege von 1870/71 und den Ersten Weltkrieg gefördert.

So beschleunigte ersterer etwa die Einführung der aseptischen Wundbehandlung, durch die vielfach Amputationen vermieden werden konnten26. Für alle diese Fragen stehen viel-

25 Vgl. Herbert Grundhewer, Von der freiwilligen Kriegskrankenpflege bis zur Einbindung des Roten Kreuzes in das Heeressanitätswesen, in: Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865—

1985, hrsg. von Johanna Becker und Heinz Peter Schmiedebach, Frankfurt a. Main 1987, S. 29—44, hier v. a. S. 3 f.

26 Vgl. Johanna Becker, Medizin im Dienst des Kriegs. Krieg im Dienst der Medizin. Zur Frage der Kontinuität des ärztlichen Auftrags und ärztlicher Werthaltungen im Angesicht des Krieges, in: Medizin und Krieg (wie Anm. 25), S. 13—25, hier S. 16, 19f.

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fältige Quellen zur Verfügung. Aber auch die Unterlagen aus der Friedenszeit vermitteln interessante Einblicke in die Entwicklung der medizinischen Technik und ihre Auswir- kungen auf die allgemeine Lebenswelt.

Schließlich zeigt sich in den militärischen Akten über Krankheiten, seien sie im Frie- den oder im Krieg entstanden, eine allmählich sich ändernde Einstellung zur Krankheit, die aus einer natürlichen, von Gott verhängten Erscheinung, ein lästiges Übel macht, das im Bewußtsein des naturwissenschaftlichen Fortschritts überwindbar erscheint. Die Arz- te hatten entsprechend wenig Sinn für psychogene Symptome, die beim Soldaten natür- lich — besonders dann in der Extremsituation des Krieges — eine besondere Rolle spiel- ten. Sie versuchten im Gegenteil, diese rein naturwissenschaftlich oder sogar als vorge- schützt zu erklären. Psychologische Methoden spielten praktisch keine Rolle. Hier wird einmal mehr deutlich, welche Revolution Psychoanalyse und Psychotherapie bedeuteten.

Genannt sei in diesem Zusammenhang die Problematik des Schocks und der sogenannten Kriegsneurotiker, aber auch die Thematik »Drückebergerei« und »Simulantentum«, auf die unten noch näher einzugehen ist. Schon vor dem Ersten Weltkrieg sind hier die Fron- ten zwischen der Medizin und den betroffenen Menschen schroffer, die Konflikte häufi- ger geworden27.

Das Thema »Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit« gewinnt aber im 19. Jahr- hundert noch einen weiteren kulturgeschichtlichen Aspekt, der ebenfalls aus militärischen Dokumenten besonders deutlich wird. Mit der Entwicklung der Hygiene und der natur- wissenschaftlich fundierten Medizin trat die Eigenwertigkeit des Körperlichen ganz anders als früher ins Bewußtsein der Menschen, gleichzeitig erhielt mit der zunehmenden Bedeu- tung der rational gesteuerten — rationellen — Arbeit nicht zuletzt auch beim Militär die Freizeit als Gegensatz zu dieser Arbeit eine früher nie gekannte Bedeutung. Als ein wich- tiges Zentrum dieser Freizeit entwickelte sich der Sport, der sozusagen eine Veralltägli- chung des Fests bedeutete28. So sind Sport und die nunmehr entstehenden sogenannten

»Leibesübungen« einerseits Ausdruck des sich wandelnden Körperbewußtseins, anderer- seits erfüllen sie wichtige Ausgleichsfunktionen in dem bald rational verplanten Alltag.

Das Militär übernahm auch hier wiederum eine Vorreiterrolle. Gesundheit und körperli- che Kraft wurden neben Ordnung und Drill prägende Elemente einer schlagkräftigen Armee29. Die Entwicklung des Schwimmens, über das die militärischen Akten vergleichs- weise viel Material enthalten, kann dies verdeutlichen. Schon seit Beginn des 19. Jahrhun- derts wurden Schwimmübungen im Neckar und in der Donau abgehalten, die bald zur Errichtung von Schwimmanstalten führten (E 271b, Büschel 285, 396). Der regelmäßige Schwimmunterricht diente sowohl der militärischen Einsatzverbesserung als auch der dar- über hinaus führenden körperlichen Ertüchtigung. Die Fotos, die vom Ende des Jahrhun- derts und vom beginnenden 20. Jahrhundert erhalten sind, zeigen die Schwimmschulen als Orte des Dienstes, aber auch des Vergnügens und der Entspannung (M 703, Reihe 326).

Sie sind im übrigen ein gutes Beispiel für die mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Bedeu-

27 Vgl. dazu v. a. das Kapitel Die Gerichtsakten; vgl. auch Esther Fischer-Homberger, Der erste Welt- krieg und die Krise der ärztlichen Ethik, in: Medizin und Krieg (wie Anm. 25), S. 122—132, hier S. 122, 128.

28 Vgl. Werner K. Blessing, Fest und Vergnügen der »kleinen Leute«. Wandlungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Volkskultur (wie Anm. 14), S. 3 5 2 - 3 7 9 , hier S. 369 ff.

29 Vgl. Henning Eichberg, »Schneller, höher, stärker«. Der Umbruch in der deutschen Körperkul- tur um 1900 als Signal gesellschaftlichen Wandels, in: Medizin, Naturwissenschaft (wie Anm. 22), S. 2 5 9 - 2 8 3 , hier S. 267.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 419 tung dieser Fotos. Daß in großem Umfang regelmäßig Schwimmunterricht erteilt wurde, macht auch auf einen Umstand aufmerksam, der nicht weniger wichtig ist. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war es unüblich, ohne besondere Notwendigkeit zu schwimmen.

Dementsprechend konnte in breiten Bevölkerungsschichten niemand schwimmen, ja die- ses wurde eher als riskant empfunden. Daß es in der Praxis des Schwimmunterrichts oft genug auch im späten 19. Jahrhundert noch Unfälle gab und daß besondere Maßnahmen gegen das Ertrinken getroffen wurden, zeigen die militärischen Quellen während der gan- zen Zeit30. Das Schwimmen blieb noch lange eine gefährliche Sache.

2. Besondere Aktengruppen 2.1 Die Parolebücher

Obwohl typische militärische Quellen der wilhelminischen Zeit, sind die Parolebücher in Württemberg nur von einigen Einheiten erhalten — vieles ist den schon erwähnten Kas- sationen zum Opfer gefallen. Von der 3. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 180 lie- gen neun Bände vor von November 1897 bis Oktober 1908 (M 99, Bund 2—3), vom Pio- nierbataillon 13 in Ulm (M 201) und vom Gouvernement Stuttgart (M 32) sind sie voll- ständig erhalten. Diese sollen daher genauer betrachtet werden.

Die Parolebücher des Pionierbataillons Nr. 13 umfassen 38 Bände vom 1. Januar 1872 bis zum 1. Juli 1914 (Band 2—38), decken also praktisch die gesamte Friedenszeit ab; sie sind daher für eine repräsentative Untersuchung besonders geeignet. Ihr Aufbau und ihre Form ändern sich im Verlauf der Jahrzehnte kaum. Nach Datum und Nennung der Parole — in ihr allein spiegeln sich schon zeitgenössische Vorstellungen und Werte, ohne daß hier näher darauf eingegangen werden kann —, werden zunächst die zum Garnisondienst kom- mandierten Offiziere namentlich aufgeführt: der Offizier »du jour«, der 24 Stunden für die ordnungsgemäße Einhaltung der Wachvorschriften zuständig und verantwortlich ist, der Offizier der »Haupt-Ronde«, der vor Mitternacht, der Offizier der »Visitir-Ronde«

oder 2. Ronde, meist ein jüngerer Leutnant, der nach Mitternacht die Wachen revidierte31. Danach folgen — im allgemeinen in hierarchischer Reihenfolge — allerhöchste Befehle, Korpsbefehle, Kontingentsbefehle, Gouvernements- und Kommandanturbefehle, Regiments- und Bataillonsbefehle sowie Bekanntmachungen und allgemeine Mitteilungen. Letztere werden an unterschiedlicher Stelle eingefügt; sie enthalten besonders viele Informationen über das Alltagsleben in der Garnison und, darüber hinaus, in der Stadt Ulm, werden allerdings im Laufe der Zeit immer knapper. Dies hat zur Folge, daß Alltags- und Lebens- formen des Militärs in ihrem Verhältnis zum bürgerlichen Leben nicht mehr so explizit hervortreten. Darin zeigt sich wohl auch, daß in der späteren wilhelminischen Zeit ent- sprechend der allgemeinen Entwicklung die Einbindung des militärischen Lebens in die bürgerliche Gesellschaft weitgehend verloren gegangen ist und Lebensformen und Alltag des Militärs sich auch in Württemberg eigenständig entwickelten.

Die in den Parolebüchern der 70er und 80er Jahre aufgeführten allgemeinen Bekannt- machungen betreffen zu einem großen Teil die verschiedensten geselligen Veranstaltungen.

Genannt werden etwa der Wirtschaftsbesuch der Offiziere oder Unteroffiziere zum gemein- samen Mittagstisch in namentlich aufgeführten Ulmer Lokalen (z. B. in der »Krone«) oder

30 Dazu v. a. den folgenden Abschnitt: Die Parolebücher.

31 Vgl. Militär-Handlexikon, hrsg. von August Niemann, Stuttgart 1881.

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verschiedene Festessen, meist aus Anlaß bestimmter Jubiläen. 1876 ist von einem regelmä- ßig — einmal im Monat — stattfindenden Diner der Generale und Stabsoffiziere im Gast- hof »Kronprinz« die Rede. Eine große Rolle spielten ferner Tanzveranstaltungen, beson- ders während des Winters, bei denen sowohl Offiziere als auch Unteroffiziere zugelassen waren, mitunter auch Mannschaften. Genannt wird 1884 etwa ein Ball, bei dem die Unter- offiziere der Garnison die Offiziere einluden. Daß zumindest in den 70er Jahren die Tanz- veranstaltungen in den öffentlichen Lokalen keinen exklusiven Charakter hatten, zeigt sich auch an einem Kommandanturbefehl vom 16. Oktober 1875 (Bd 3, S. 349 f.). Danach sah sich das Festungskommando veranlaßt, eine neue und — so darf man hinzufügen — schär- fere »Instruktion für die zur Tanzaufsicht kommandierten Sergeanten« zu erlassen, die Ruhestörungen und Exzesse unter Militärpersonen zu schlichten bzw. den Schuldigen zu verhaften hatten. Ausdrücklich wird hierbei auch auf die Beteiligung von Zivilpersonen eingegangen, gegenüber denen sich die Sergeanten zurückzuhalten hatten — ein Hinweis darauf, wie kompliziert das Verhältnis zwischen Militär und Zivilbevölkerung vor allem auf der unteren Ebene war. Für Bälle und andere gesellige Veranstaltungen spielten im übrigen vor allem bürgerliche Vereine und Gesellschaften eine große Rolle — etwa die

»Abonnierte Gesellschaft«, die zum Beispiel am 14. August 1875 um 5 Uhr nachmittags auf die Wilhelmshöhe zu einer »Reunion mit Tanzunterhaltung« einlud (Bd 3). Im Gast- hof zum »Hirsch« veranstaltete sie im selben Jahr einen Weihnachtsball. Auch andere Unter- haltungen gingen von ihr aus — etwa Schlittenpartien, bei der »Musik« mitgenommen werden konnte, Treibjagden, Preiskegeln und Schnitzeljagden. Neben der »Abonnierten Gesellschaft« sind u.a. auch die »Museumsgesellschaft«, der Offiziersjagdclub, die Schüt- zengesellschaft und der Schlittschuhclub beteiligt. Sie veranstalteten auch Landpartien, Kon- zerte, Faschingsreunionen mit lebenden Bildern und — später — Tennisspiele. In allen die- sen Gesellschaften kamen Bürger und Offiziere in zwangloser, aber gehobener Form zusam- men. Es zeigt sich jenes gesellige Verhältnis zwischen Bürgertum und Militär, das gerade in Württemberg Tradition hatte — das Militär dominierte noch nicht die Gesellschaft — und wie es in den Karikaturen des Stuttgarter Malers Carl Kurtz (1817—1887) zum Ausdruck kommt, der Mitglieder der Stuttgarter Gesellschaft »Olymp« — Offiziere und Zivilisten (meist Beamte, aber auch einzelne Künstler) in ironisch-humorvoller Weise darstellte32.

Zu den geselligen Veranstaltungen gehörten aber auch Einladungen zu Bildungsaben- den, meist freilich nur für Offiziere, bei denen etwa Vorträge aus dem naturwissenschaft- lich-technischen Bereich gehalten oder neue technische Einrichtungen vorgeführt wurden.

So fand am 11. November 1884 ein Vortrag des Hauptmanns a.D. Geiger über »Der Vege- tarismus in seiner Bedeutung für das Wohl des Einzelnen und der Gesamtheit« statt (Bd 14, S. 332), am 19. Dezember desselben Jahres können eine »dynamo-elektrische Maschine und eine Anzahl elektrischer Apparate für Lichterzeugung, Kraftübertragung, Minenentzündung etc.« (ebd., S. 366) besichtigt werden.

Die Betrachtung der geselligen Aktivitäten, wie sie die Parolebücher verzeichnen, weist auf ein auch sonst beobachtetes Phänomen der wilhelminischen Zeit hin. In der Gast- wirtschaft, in der Kneipe organisiert und stimuliert sich nicht nur Arbeiterkultur, son- dern auch im militärischen Alltag entwickelt sich diese zum Ort der Kommunikation, hier freilich nicht zuletzt auch wegen der relativ großzügig bemessenen Freizeit aller Dienst- grade — was sich auch gerade aus den Parolebüchern ablesen läßt. Die Gastwirtschaft wird so zu einem Ort der Selbstrepräsentation der Männerwelt, in der sich dann auch Konflik-

32 HStAS M 703, Reihe 940, Nr. 2.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 4 2 1 te häufig in den absonderlichsten Formen zuspitzen und entladen. Während in den unte- ren sozialen Schichten Schlägereien an der Tagesordnung waren — die Parolebücher legen davon wiederum beredtes Zeugnis ab —, entstand auch ein Gutteil aller Duellforderungen aus banalen Streitigkeiten in Kneipen33.

Es scheint aber auch, daß ein beachtlicher Teil der Mannschaft nicht einmal so soziali- siert war, daß er überhaupt eine Gastwirtschaft besuchte. Immer wieder verzeichnen die Parolebücher Maßnahmen gegen das Herumlungern von Soldaten auf dem Bahnhof an Sonn- und Feiertagen.

Neben den geselligen Veranstaltungen nehmen in den Parolebüchern — mit zunehmen- der Tendenz — politisch-militärische Feste und Feiern einen breiten Raum ein. Ihre pro- tokollarische Regelung bis in alle Einzelheiten, die vielfältigen damit verbundenen mili- tärischen Aufgaben bestimmten den Dienstplan auf Schritt und Tritt. So ergänzen und illustrieren die Parolebücher jenes schon oftmals beschriebene Bild vom militärischen Festmilieu mit Kasernenhofstimmung34. Sedansfest, Champigny-Feier, öffentliche Weihe und Einweihung von Denkmälern, Vereidigung von Rekruten, Geburtstagsfeiern des Kai- sers sowie der Könige von Bayern und von Württemberg, Jahrzeitfeste und ähnliches be- stimmten auf Hunderten von Seiten die täglichen Anweisungen. Beflaggüng, Ablauf des Zapfenstreichs, besondere Festgottesdienste, Königssalut, Reveille, d.h. besonders ausge- staltetes Wecken, Paraden und wieder Festessen gehörten zu diesen Tagen. Hierbei spiel- ten natürlich auch die Kriegervereine eine wichtige Rolle. Sie luden etwa in Ulm regel- mäßig zu Champigny-Feiern ein. Die Bedeutung der Kriegervereine für die Militarisie- rung des Denkens im wilhelminischen Reich ist schon vielfach untersucht und etwa von Heinrich Mann in exemplarischer Weise auch literarisch behandelt worden35. Die enge Zusammenarbeit dieser Vereine mit den Militärbehörden wird hier erneut deutlich. Got- tesdienst und Religion sind aber nicht nur bei militärisch-ideologischen Feiern ein zen- trales Element. Kaum eine Anordnung kehrt in den Parolebüchern so häufig wieder wie Bestimmungen über den sonntäglichen Kirchgang, der meist als Dienst betrachtet wur- de. Organisiert mit starkem Verpflichtungscharakter wurden während des ganzen Zeit- raums sogar Osterbeichte und Osterkommunion, und dies nicht nur für Katholiken, son- dern selbstverständlich auch für Protestanten. Selbst als die Parolebücher schon recht knapp geworden waren, sind derartige Befehle vergleichsweise ausführlich gehalten. Soldaten aller Sparten werden auch immer wieder aufgefordert, in den Ulmer Kirchenchören mitzu- wirken. So ergänzt sich das Bild, das auch aus anderen Quellen deutlich wird: Religion hatte — wie überall in der Gesellschaft — eine wichtige Ordnungsfunktion, die natür- lich für das Militär besonders nutzbar war. Der regelmäßige Besuch des Sonntagsgottes- dienstes war Ausdruck der Ehrfurcht vor Gott und der gewachsenen weltlichen Ordnung, wie sie sich mit dem Herrscherhaus an der Spitze in der bürgerlich-konservativen Gesell- schaft spiegelt36.

33 Vgl. Alf Lüdtke, Lebenswelten und Alltagswissen im Zweiten Deutschen Kaiserreich, in: Hand- buch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd4: 1870—1918, München 1991, S. 57—90, hier S. 81.

34 Dieter Düding, Die Kriegervereine im wilhelminischen Reich und ihr Beitrag zur Militarisie- rung der deutschen Gesellschaft, in: Jost Dülffer und Karl Holl, Bereit zum Krieg. Kriegsmenta- lität im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1986, S. 99—121, hier S. 108.

35 Vgl. v. a. Düding (wie Anm. 34), Lüdtke (wie Anm. 33); ferner Heinz Stübig, Das Militär als Bil- dungsfaktor, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd 3: Von der Neuordnung Deutsch- lands bis zur Gründung des Deutschen Reichs, München 1987, S. 362—377 hier S. 375.

36 Vgl. Stübig (wie Anm. 35), S. 374f.

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Schließlich zeigen die Parolebücher sehr eindrücklich, wie permanent präsent das Mili- tär in der Stadt Ulm war. Ständig wurden beispielsweise an irgendeiner Stelle der Stadt, auf Plätzen, vor bestimmten Wohnhäusern, musikalische Darbietungen von Militärkapellen zu Gehör gebracht. Fast täglich findet sich daher eine Anweisung, wann und wo »die Musik«

zu spielen hat. Daß hierbei zuweilen des Guten zu viel getan wurde, ergibt sich aus Anord- nungen, die das klingende Spiel verboten, etwa während des Sonntagsgottesdienstes, vor be- stimmten Häusern auf Wunsch der Bewohner, mitunter waren dabei auch hohe Offiziere.

Erst recht gilt diese Präsenz, wenn man nun die Paralebücher des Gouvernements Stutt- gart genauer betrachtet. Sie reichen in 32 Bänden von 1889 bis November 1919 (M 32, Bund 13—18). In ihnen spielte naturgemäß der Wachdienst eine besonders große Rolle

— einmal wegen der großen Anzahl der zur Residenz gehörenden oder öffentlichen Gebäu- de, die auf militärische Bewachung Anspruch hatten, zum andern aber auch wegen der vielen protokollarisch hochrangigen Veranstaltungen und Ereignisse — Staatsbesuche, Hof- bälle, Familienfeiern im Königshaus, die einen aufwendigen Dienstplan für die Wachen zur Folge hatten. Allerdings scheint das Verhältnis der Wachen zur Bevölkerung nicht unproblematisch gewesen zu sein. So mußten etwa am 19. März 1891 genauere Bestim- mungen über das Verhalten der Wachen erlassen werden (Bund 13). Einige Wachen hatten offenbar das Gewehr so weit vorgehalten, daß Passanten auf die andere Straßenseite hatten ausweichen müssen; darüber hatten sie sich beschwert. Ein derartiges — provozierendes — Verhalten wurde nunmehr verboten. Auch die in großer Anzahl in Stuttgart Dienst tuen- den Ordonnanzen und Flügeladjutanten benahmen sich nicht immer so, wie die Bevölke- rung es wünschte. Dies führte sogar dazu, daß am 29. November 1894 Mannschaften, »insbe- sondere auch Burschen und Ordonnanzen« angewiesen wurden, trotz der kalten Jahres- zeit nicht die Hände in die Hosentaschen zu stecken (ebd.). Ein Jahr zuvor, am 5. September 1893 (ebd.) war es Mannschaften verboten worden, »mit Frauenzimmern am Arm« auf der Straße spazieren zu gehen. So zeigen die Parolebücher einerseits die übliche Mentali- tät des Militärs, das aufgrund eines spezifischen Gruppenbewußtseins und einer entspre- chenden Gruppensolidarität ein bestimmtes Verhalten zeigte37, andererseits hat sich aber zumindest in Württemberg auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch etwas von jener Men- talität der ersten Hälfte gehalten, in der das Militär eher als eine Belastung für die bürger- liche Gesellschaft empfunden wurde38. Die Dominanz des Militärs vor allem in den Festungsstädten, aber auch in den preußischen Garnisonen, die ein eigenständiges kom- munales und bürgerliches Leben fast unmöglich machten39, ist für Württemberg wohl doch zu relativieren. Im übrigen vermitteln die Parolebücher des Gouvernements Stutt- gart — stärker noch als die Ulmer — ein lebendiges Bild vom Freizeitverhalten des Mili- tärs und damit vom Alltag in der Residenz. In ihm spielte das Theater eine große Rolle;

seine Vorstellungen konnten und sollten häufig besucht werden, immer wieder wurden auch Statisten für bestimmte Inszenierungen abkommandiert — etwa für die »Jungfrau von Orleans«, für »Lohengrin« oder »Die Afrikanerin« von Giacomo Meyerbeer. Nicht zuletzt übernahm das Gouvernement auch regelmäßig die nächtliche Feuerwache im Hof- theater. Aber auch von besonderen Militärvorstellungen der Privattheater ist die Rede (z. B.

37 Vgl. Rolf Sprandel, Mentalitäten und Systeme. Neue Zugänge zur mittelalterlichen Geschichte, Stuttgart 1972, S. 85.

38 Vgl. Alf Lüdtke, »Wehrhafte Nation« und »innere Wohlfahrt«: Zur militärischen Mobilisierbar- keit der bürgerlichen Gesellschaft. Konflikt und Konsens zwischen Militär und ziviler Admini- stration in Preußen, in: M G M 30 (1981), S. 7 - 5 6 , hier v.a. S. 19, 26 ff.

39 Ebd., S. 3Off.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 423 M 32, Bund 13, Parolebuch 1889—1895 passim). In denselben Zusammenhang gehören Son- derveranstaltungen von Zirkusunternehmen; Rabatt wurde auch für den Besuch der städ- tischen Reithallen oder des Kaiserpanoramas in der Hauptstädter Straße 19 gewährt. Bei letzterem wurde zur Bedingung gemacht, daß mindestens 25 Personen geschlossen kämen, von denen jeder 25 Minuten bleiben dürfe (Mitteilung vom 13. August 1892, ebd.). Ande- rerseits wurden zahlreiche Veranstaltungen in Gastwirtschaften und auf öffentlichen Plät- zen für das Militär verboten, insbesonders, wenn oppositionelle Einflüsse befürchtet wur- den, die meist von den Sozialdemokraten ausgingen (ebd.).

Alle Parolebücher berichten praktisch für jeden Tag auch von Disziplinarfällen, deren Untersuchung für die Alltags- und Mentalitätengeschichte naturgemäß besonders wichtig ist. Sie zeigen die ganze Palette von Verstößen gegen die militärische Ordnung von einfa- chem Fehlverhalten, Nachlässigkeit in Kleidung und Verhalten in der Öffentlichkeit, Trun- kenheit, Gewalttätigkeit in der Öffentlichkeit, vor allem in Gastwirtschaften bis hin zu Aufsässigkeit und Ungehorsam gegen Offiziere und vieles andere mehr. Auffällig ist, daß fast ausschließlich Mannschaften und untere Dienstgrade vorkommen. Die Vergehen der Offiziere sehen in der Tat anders aus und werden in der Regel auch nicht bei der Paroleaus- gabe bekannt gemacht. So zeigt sich schon an diesem Beispiel die starke soziale Abschich- tung in der Armee und das unterschiedliche Verhalten von Mannschaften und Offizieren.

2.2 Gerichtsakten

Die starke soziale Abschichtung wird vollends deutlich, wenn man die militärischen Ermittlungs- und Gerichtsakten selbst heranzieht, die in großem Umfang im Stuttgarter Militärarchiv vorhanden sind und sich sowohl in den Militärverwaltungs- und Komman- dobehörden finden als auch in den eigentlichen Gerichstakten, wobei letztere sich damals naturgemäß nicht immer genau trennen lassen.

Aufschlußreich sind zunächst die sogenannten Geheimakten des Generalquartiermeister- stabs (E 284b), die unter anderem Dienstangelegenheiten von Offizieren betreffen, bei denen es zu Untersuchungen oder irgendwelchen Ermittlungen kam. Zunächst finden sich in ihnen allerdings auch allgemeine Anweisungen zur Auslegung der entsprechenden Bestim- mungen, so etwa eine Erläuterung des württembergischen Kriegsministers Graf v. Fran- quemont zum § 563 der Allgemeinen Kriegsdienstordnung betreffend die Ehrengerichte von 1826 (Büschel 4), die von grundsätzlicher Bedeutung ist. Hierin stellt der Minister aus gegebenem Anlaß fest, daß zwar der Zweikampf »als Mittel der unerlaubten Selbsthülfe allen Staatsangehörigen ohne Unterschied bei den hertesten Strafen verboten« ist, aber er anerkennt auch die Standespflicht des Offiziers, unter gewissen Umständen »durch den Zweykampf Genugthuung zu geben und zu nehmen«. »Dieser Conflict«, so fährt Fran- quemont fort, »zwischen einem Staatsgesetz und zwischen einer zwar bestehenden, aber nirgends öffentlich sanctionirten Standespflicht kann in manchen Fällen die unangenehm- sten Verlegenheiten herbeiführen«. Die schlimmsten Folgen derartiger Konflikte sollten die Ehrengerichte mildern. So müssen in allen Fällen, in denen es mit der Standesehre vereinbar ist, alle Mittel zur Aussöhnung ausgeschöpft werden. Es sei keine Schande, in Fällen, in denen die Absicht zu beleidigen, »nicht aus den Worten oder aus der Hand- lungsweise unzweifelhaft hervorgeht«, dem Gegner eine Ehrenerklärung abzugeben, bzw.

sich-vor dem Ehrengericht zu entschuldigen. Dieses ist also in jedem Fall einzuschalten, und es darf kein Mittel unversucht bleiben, einen Streit friedlich zu regeln. Sollte dies aller- dings am Ende nicht möglich sein, so soll das Ehrengericht sich auf die Erklärung beschrän- ken, »daß die Beteiligten die vorliegende Ehrensache unter sich auszumachen haben, wie

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die Ehre ihres Standes es erfordere«. Franquemont betrachtet also das Duell allenfalls als notwendiges Übel. Noch spielte es nicht jene verhängnisvolle Rolle, wie sie im späteren 19. Jahrhundert — vor allem von Preußen ausgehend — sich allgemein durchsetzte40.

Die Geheimakten enthalten auch noch weitere Anweisungen über das Verhalten der Offizie- re in der Öffentlichkeit, namentlich in Gastwirtschaften, wobei etwa auf die Vorbildfunktion des Offiziers oder die Vermeidung öffentlichen Ärgernisses (ζ. B. durch Trunkenheit oder Glückspiel) größten Wert gelegt wird (Büschel 4). Aufschlußreich ist ferner eine Weisung des Königs von 1831, in der dieser den Offizieren das Politisieren in der Öffentlichkeit verbietet.

Wendet man sich den Akten über einzelne Ehrengerichtsfälle selbst zu, so wäre etwa die Auseinandersetzung eines Grafen Zeppelin mit dem Ludwigsburger Museumswirt Fels aus dem Jahre 1852 zu nennen. Letzterer hatte den Grafen durch unflätige Bemerkungen be- leidigt, der ihn aber trotzdem nicht gefordert hatte. Das Ehrengericht kam vielmehr zu dem Schluß, daß die Standesehre des Offiziers nicht wirklich verletzt worden sei (Büschel 5).

So stellt sich hier die Frage nach dem sozialen Gefälle zwischen dem Offizier und dem Gastwirt. Gravierender war ein Vorfall, der sich im Gasthof »Zur Krone« in Esslingen im Jahr 1866 ereignete. Dort hatte ein Hauptmann Starkloff demonstrativ einen jugendli- chen Kellner geohrfeigt, der der wiederholten Aufforderung, das schmutzige Tischtuch zu wechseln und ihm Feuer für seine Zigarre zu geben, nicht nachgekommen war. Dar- aufhin hatte es einen Tumult gegeben, der in einer allgemeinen Empörung der Anwesen- den gegen den Offizier gipfelte. Die Sache kam vor das Ehrengericht, das in seiner Fest- stellung des Sachverhalts das Benehmen des Offiziers gegen das »provozierende« Verhal- ten des Kellners abwog und zu dem Schluß kam, daß Starkloff die Ehre des Offiziersstands nicht verletzt habe (Büschel 16). Der Fall ist auch deshalb von Bedeutung, weil er ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Offizieren und Bürgern wirft. Der Bericht des »Beobachters« vom 13. Mai 1866 kritisiert denn auch ausdrücklich das arrogante jun- kerhafte Benehmen des landfremden Offiziers, das in schroffem Gegensatz zu dem biede- ren bürgerlichen Alltag der Esslinger stehe.

Eigentliche Gerichtsakten der oberen Ebene liegen aus der Zeit vor 1871 zunächst vor allem im Bestand des Oberkriegsgerichts vor (E 271k); sie bestätigen diesen Gegensatz zwi- schen Militär und Bürgertum vor allem in den Unterlagen, die sich aus dem Umkreis der Revolution von 1848 ergeben haben. Wenn die Soldaten verlangen, nicht mehr »wie Skla- ven oder Maschinen, sondern wie Menschen« behandelt zu werden, wenn sie vor einem Feldzug informiert werden wollen, gegen wen und warum sie kämpfen (Büschel 112), so wirft dies zugleich ein Schlaglicht auf die herrschende Mentalität. In den Unruhen in Ulm

— ein Höhepunkt ist der Uberfall durch Angehörige des 3. Reiterregiments auf das dorti- ge Schiffswirtshaus, wo am Abend des 27. Juni 1848 eine Versammlung von Republika- nern stattfand —, zeigt sich deutlich, wie die Bürger die Soldaten ermuntern, sich gegen falsches Verhalten ihrer Vorgesetzten zur Wehr zu setzen. Die Bürgerschaft verlangte kate- gorisch die Einordnung des Militärs in die Gesellschaft; die recht laxe Bestrafung der Ver- antwortlichen für die Schiffswirtshausaffäre ruft die bürgerliche Presse auf den Plan, die die Unabhängigkeit der Justiz bezweifelte; diese milderte jedoch nach 1848, im Geist der Restauration, die ergangenen Urteile sogar noch (ebd.).

Andere — nicht politisch motivierte — Fälle in den Akten des Oberkriegsgerichts sind nicht minder von Bedeutung. Herausgegriffen sei hier nur ein besonders spektakulärer

40 Dazu v. a. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, Stuttgart 1991, passim.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 425 Fall — der eines Ludwigsburger Artilleriekommandeurs, der 1861 wegen Unzucht mit einem siebeneinhalbjährigen Mädchen aus der Nachbarschaft angeklagt und auch verurteilt wurde, obwohl er nie ein Geständnis abgelegt hatte (Büschel 139). Bemerkenswert war, daß der Verurteilte nicht nur im Gefängnis immer wieder versuchte, sich zu entlasten, sondern auch, daß er, nachdem er seine Zuchthausstrafe von sechs Jahren abgebüßt hatte, immer wieder Versuche unternahm, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen, um sich zu rehabilitieren. Die Eingaben, die sowohl an das Oberkriegsgericht, aber auch an den König selbst und an die Ständekammer gerichtet wurden, enthielten schließlich auch Dro- hungen und Beschuldigungen des Gerichts, das wiederum Strafanzeige »gegen den Queru- lanten« wegen Verleumdung erstattete. Der Antragsteller versuchte schließlich sogar, Zeu- gen, die im Prozeß von 1861 gegen ihn ausgesagt hatten, zu bestechen, damit sie ihre Aus- sage änderten. Sämtliche Wiederaufnahmeanträge wurden zwar abgelehnt — ob zu Recht oder zu Unrecht, ist hier unerheblich —, aber der Fall, der in ganz Deutschland Aufsehen erregte — es gab zum Teil auch spontane Unterstützung für den angeklagten Obersten —, ist nicht zuletzt mentalitätsgeschichtlich interessant. So zeigt er etwa, wie sich ein in sei- ner Ehre gekränkter Offizier im Extremfall verhalten konnte, aber auch, wie wenig die Öffentlichkeit ein derartiges Vergehen einem Offizier zutraute. Hinter dem Fall selbst wer- den weitere Probleme indirekt und ansatzweise sichtbar — so etwa konfessionelle Gegen- sätze. In dem großen Wiederaufnahmeantrag eines Rechtsanwalts wird darauf hingewie- sen, daß das evangelisch besetzte Oberkriegsgericht den katholischen Obersten möglicher- weise von vornherein als Heuchler betrachtet und Vorurteile gegen ihn gehabt habe. Ob derartige Aspekte tatsächlich eine Rolle spielten — ganz von der Hand zu weisen sind sie nicht — läßt sich mangels weiterer Zeugnisse für diesen einen Fall nicht sagen, müßte aber in größerem Rahmen genauer untersucht werden. Die detaillierten Ermittlungsakten lie- fern im übrigen eine Fülle von Material zur Beantwortung alltagsgeschichtlich relevanter Fragen — nach den Lebensumständen des Obersten und des Mädchens, dem Verständnis von Sexualität, dem Verhalten der Zeugen, dem Freizeitverhalten von Offizieren und ande- rem mehr.

Der Fall spiegelt sich auch in den Gerichtsakten der ersten Instanz, beim Gouvernement Ludwigsburg, wo er zunächst verhandelt wurde (E 285 Büschel 66). Die Gerichtsakten des Gouvernements Ludwigsburg enthalten daneben weitere Kriminal- und Disziplinarfälle von einschlägigem Interesse — so etwa die kompletten Prozeßakten des Falles Koseritz, der erst vor kurzem ausführlich untersucht wurde41, oder — alltags- und mentalitäts- geschichtlich vielleicht noch interessanter — den Fall des Obersten Bassewitz. Bassewitz, aus Mecklenburg-Schwerin stammend, hatte 1834 Generalleutnant v. Roeder und Oberst Lützow gefordert, weil er den Eindruck gehabt hatte, daß diese durch voreiliges Weiterlei- ten eines Schreibens betreffend die Vernehmung eines Oberleutnants seines Regiments an das Kriegsministerium seine fristlose Entlassung bewirkt hätten. Die geforderten Offizie- re betrachteten die Sache als eine reine Dienstangelegenheit, die Forderung des Bassewitz folglich als einen Verstoß gegen die Subordination, zu der alle Militärpersonen verpflich-

41 Die bisher nur in hebräischer Sprache vorliegende Tel Aviver Dissertation von Gad Arnsberg soll demnächst auch in deutscher Sprache erscheinen; Akten in HStAS E 285, Büschel 68—101.

Oberleutnant Koseritz vom 6. Infanterie-Regiment in Ludwigsburg war der Anführer eines demo- kratischen Verschwörerkreises und hatte einen detaillierten Plan zu einer Militärmeuterei ausge- arbeitet, der aber nach dem Mißlingen des Frankfurter Wachensturms 1833 entdeckt wurde. Koseritz wurde vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt, auf dem Richtplatz aber begna- digt. Er wanderte anschließend nach Amerika aus.

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tet seien. Auch den zur Zeit seiner Entlassung noch amtierenden Kriegsminister Graf v. Franquemont griff Bassewitz an; eine Korrespondenz zwischen beiden nahm immer hef- tigere Formen an, sie endete schließlich darin, daß Bassewitz auch Franquemont forderte und, als dieser ablehnte, von ihm die Zahlung eines lebenslangen Darlehens verlangte als Ausgleich für seine Entlassung. Bassewitz wurde schließlich verhaftet und wegen unbe- rechtigter Forderungen und Nötigung des Grafen Franquemont vor ein Kriegsgericht gestellt, das ihn wegen Forderung hoher Generäle und Stabsoffiziere »aus Rache« zu einer einjährigen Festungshaft verurteilte. Im Verlauf des Verfahrens wurde zwar deutlich, daß der Angeklagte schon immer einen schwierigen Charakter hatte, so »daß er durch zu gro- ße Strenge, die öfters für Plackerei gehalten wurde, durch leidenschaftliche Aufwallungen und beißende Bemerkungen die Herzen eines Theils der Offiziere seines Regiments sich abgeneigt gemacht hatte« und daß nach seiner Pensionierung »Einsamkeit und Geschäfts- losigkeit seinem Schmerz immer neue Nahrung gaben«, daß also der vorliegende Fall — ähn- lich wie der Fall des Ludwigsburger Obersten — ein Extrem war. Dennoch wirft auch der Fall Bassewitz wichtige Fragen nach Verhaltensweisen und Mentalitäten auf, insbeson- dere auch im Hinblick auf die Reaktion der Angegriffenen, die sich ausführlich in der erwähnten Korrespondenz niederschlägt.

Von den Gerichtsakten nach 1871 sind hier zunächst die Akten der Justizabteilung des Kriegsministeriums (M 1/7) von Bedeutung. Vorgestellt werden sollen einmal Urteile in einzelnen Verfahren, die an die obere Instanz zur Uberprüfung gingen — zwischen 1890 und 1900 an die 200 Fälle (Büschel 125 a-c) —, zum anderen Untersuchungsakten über Todesfälle zwischen 1910 und 1912 (Bund 131—132) sowie schließlich »Criminal-Rapporte«, ebenfalls aus dem Zeitraum von 1890 bis 1900 (Bund 149—159). Einschlägige Akten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, die sehr zahlreich sind, wurden wiederum nicht berück- sichtigt, da sie das Bild, um das es hier geht, eher verfälschen würden: unter dem Einfluß der Extremsituation des Kriegs ergeben sich naturgemäß andere Verhaltensweisen42. Wenn man also die hier ausgewählten — gleichsam »normalen« Zeiträume betrachtet — Reprä- sentativität wird nicht beansprucht, da die Uberlieferung, auch wegen zahlreicher Kassa- tionen, ungleich ist —, so fällt doch die hohe Zahl der Fälle auf: nach dem Rapport von 1890 sind monatlich im Schnitt 45 Verfahren anhängig geworden (Bund 149), nach dem von 1898 sind es im Jahr 1898 monatlich im Durchschnitt 41 gewesen (Bund 157). Aus den Gerichtsakten des Generalkommandos (M 33/1) — also den Akten des Oberkriegsge- richts — ergibt sich ferner, daß dieses zwischen 1901 und 1913 jährlich im Schnitt 30 Urteile fällte. Vom Gericht der 26. Division in Stuttgart sind in den Akten der 26. Division (M 38) schließlich zwischen 1900 und 1914 80 Fälle, vom Gericht der 26. Division in Ludwigs- burg 87 Fälle erhalten (Bunde 36/45—49). Es scheint, daß die Tendenz bis 1914 anstei- gend ist. Dies hängt zweifellos nicht zuletzt damit zusammen, daß Wertvorstellungen wie Ruhe und Ordnung, Straffheit, schneidiges Auftreten und militärischer Drill im Laufe der Zeit immer wichtiger wurden43, andererseits aber immer schwerer durchsetzbar waren.

Es zeigt sich erneut, welche Ambivalenz die wilhelminische Gesellschaft prägte. Spielten doch in allen im vorliegenden Zusammenhang durchgesehenen Gerichtsakten Fahnenflucht und alle Arten von unerlaubter Entfernung von der Truppe die Hauptrolle. Waren es in

42 Über derartige Fragen wurde bereits häufiger gearbeitet; vgl. Kriegsalltag (wie Anm. 16).

43 Vgl. Lüdtke (wie Anm. 38) S. 46; ders. (wie Anm. 33), S. 70ff.; ferner Christa Berg, Ulrich Her- mann, Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Kaiserreichs 1870—1918, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (wie Anm. 33), S. 3—56, hier S. 13.

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Militärgeschichte und Kulturgeschichte. Beobachtungen an Stuttgarter Quellen 427 vielen Fällen zunächst Abenteuer- und Wanderlust, von den Gerichten häufig als »Hang zu Müßiggang und Landstreicherei, zu freiem und ungebundenem Leben« interpretiert, oder aber auch die ländliche Verwurzelung des einzelnen, die als Gründe angegeben wur- den, so sind es später häufig auch Unzufriedenheit mit dem Dienst, das Leiden unter der Rohheit der Vorgesetzten und Kameraden, die sich dann vielfach in tatsächlichen oder eingebildeten Krankheiten äußerten. So sprechen die Akten häufig davon, daß »ihm der Dienst entleidet sei« (Büschel 26/45), oder daß ein »unwiderstehlicher Drang und Wan- dertrieb [...] ihn fortgetrieben [habe], obwohl es ihm beim Militär eigentlich gut gefallen habe« (Büschel 36/46). Nicht selten wird die Fremdenlegion als Ziel der Flucht angegeben.

Und ein Rekrut schrieb an seine Mutter: »Es ist ein groß Herzeleid, das ich Dir, liebe Mut- ter, durch diesen Schritt zugefügt habe, aber ich konnte nicht anders. Was ich in den weni- gen Tagen in Ludwigsburg gelitten habe, ist unbeschreiblich. Meine Kräfte reichten für den Dienst nicht einmal halb aus und doch mußte ich den Dienst verrichten. Und dann die Kameraden. Ich hätte doch nie geglaubt, daß ein Mensch zu solch tierischer Verro- hung herabsinken kann, wie ich es sah. Ferner die Vorgesetzten und die Behandlung. Wenn man solche einem Tier zu teil werden ließe, so würde man bestraft, doch für Menschen gibt es da in einer königlichen Bildungsanstalt anscheinend kein Gesetz.« (Büschel 36/47)

In dem sich verschärfenden Kampf gegen diese zunehmend als »Drückebergerei« und

»Simulantentum« bezeichnete Haltung verhältnismäßig vieler Rekruten und einfacher Sol- daten wurde die Argumentation von den Gerichten häufig umgedreht: Weil sie Drücke- berger seien, würden sie schlecht behandelt. Auch die Zugehörigkeit zur Sozialdemokra- tie wird gelegentlich als Grund für eine derartige Einstellung angegeben (ζ. Β. M 1/7, Büschel 125b). Unterstützung fanden die Gerichte auch bei den Ärzten, die solche Haltungen und Taten als Folge eines schlechten, schwächlichen und milieugeschädigten Charakters inter- pretierten. So konstatierten sie etwa einem zu Begutachtenden »einseitiges, hypochondri- sches, weichliches Denken und ein gereiztes querulierendes Verstimmtsein« (M 1/7, Büschel 132). Die Akten über Fahnenfluchtfälle vermitteln also viel von der Mentalität der Unter- schichten, ihrer geringen Sozialdisziplinierung, ihrer kaum ausgebildeten Fähigkeit, sich in große, komplexe, vergleichsweise abstrakte Systeme einzuordnen, andererseits auch einiges von der Haltung der Ärzte, die psychische Probleme vielfach noch nicht entsprechend beurteilen konnten, sondern sie als Zeichen von Unzuverlässigkeit und schlechtem Cha- rakter oder gar körperlicher Krankheit beurteilten.

Vollends in den Bereich des Pathologischen gedrängt wurden die Selbstmörder und die Soldaten, die sich selbst verstümmelten, um dem Militär zu entkommen (M 1/7, Bund 131 und 132). Dabei wird die Abneigung gegen das Militär selbst schon beinahe als orga- nische Krankheit verstanden und der Selbstmord vielfach als Willens- und Körper- oder Nervenschwäche bezeichnet. Nachlässigkeit und Wehleidigkeit seien die wichtigsten Motive für eine Selbsttötung. »Offensichtlich war der Verstorbene«, so heißt es in einem kriegsge- richtlichen Gutachten zu einem Selbstmordfall von 1912, »infolge schlechter Erziehung und wohl auch Veranlagung ein moralisch haltloser Mensch, welcher in einem Augen- blick der Verzweiflung sein Leben in die Schanze geschlagen habe«. Depressives Verhalten wird so von den Ärzten häufig als Eigensinn und Ungezogenheit, Willensschwäche und Verwöhntheit charakterisiert.

Die Gerichtsakten enthalten also zahlreiche Informationen zur Alltagskultur und Lebens- welt, die noch erweitert werden könnten. Detaillierte Untersuchungen von Sittlichkeits- delikten zeigen ein recht unkompliziertes Verhältnis zur Sexualität bei breitesten Schich- ten. Dem strengen Umgang mit dem Duell entspricht es, wenn in Württemberg Vergleichs-

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weise wenige Duelle vorkommen; der Ehrenkampf spielte hier offenbar eine geringere Rolle als anderswo44. Abweichendes Verhalten gegen Vorgesetzte, Untergebene und Kameraden

— etwa Diebstahlfälle, die natürlich häufig waren — weist spiegelbildlich auf das hin, was normal war, andererseits relativiert und differenziert die Argumentation der Beschuldig- ten dieses. Familiäre und religiöse Bindungen scheinen ebenfalls auf — sowohl in gelegent- lich vorhandenen Privatbriefen als auch in den Beurteilungen seitens eines Gerichts oder eines Vorgesetzten.

III.

An ausgewählten Quellen des Stuttgarter Militärarchivs, die für militärische Unterlagen typisch sind, und an einem in diesen behandelten zentralen Sachkomplex sollte dargelegt werden, daß militärische Archivalien immer auch wichtige Quellen zur Kulturgeschichte enthalten; dabei sollten vor allem Hinweise gegeben werden, auf denen bei der weiteren Arbeit aufgebaut werden kann, gewisse Probleme auch angerissen werden. Die kulturge- schichtliche Relevanz dieser Quellen hat, so wurde deutlich, ihren tieferen Grund in der Eigenart der Militärgeschichte als Integrationsfach, in der die verschiedenen Bereiche der einen Lebenswelt nicht sektoral aúseinandergenommen werden und die folglich über die

»Spezialgeschichte« hinausführt. Militärisches Schriftgut bietet zwar — dies versteht sich am Rande, sei aber zur Vermeidung von Mißverständnissen abschließend noch einmal betont —, nur eine Art von einschlägigem Quellenmaterial, manches ist auch aus anderen Quellen durchaus gut zu erschließen, es kann aber, insbesondere in einer Zeit, in deren Verlauf die Bedeutung des Militärs für alle Bereiche der geschichtlichen Wirklichkeit ste- tig zunahm, einen wichtigen Beitrag zur Geschichte von Alltag und Mentalität, von kol- lektivem Denken und Verhalten leisten.

44 Vgl. dazu Frevert (wie Anm. 40), passim.

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