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Mittit ad virginem

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Andreas Kraß

Mittit ad virginem

Die Bearbeitungen der Mariensequenz durch den Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Heinrich Laufenberg

Die im zwölften Jahrhundert entstandene Sequenz Mittit ad virginem themati- siert die Verkündigung des Erzengels Gabriel an die Jungfrau Maria. Sie wurde im Spätmittelalter mehrfach in die deutsche Sprache übertragen.1 Auf der einen Seite steht eine Reihe von Prosaübersetzungen, die sich wörtlich an die lateini- sche Vorlage halten, auf der anderen Seite drei Versübertragungen, die aus der Feder prominenter Liederdichter stammen: des Mönchs von Salzburg, Oswalds von Wolkenstein und Heinrich Laufenbergs.2 Im Folgenden werden die Versbe- arbeitungen näher vorgestellt; daran schließen sich grundsätzliche Überlegun- gen zum Verhältnis von Liturgie und Volkssprache im Medium des geistlichen Lieds an.

1 Mittit ad virginem

Die Überlieferung der Mariensequenz setzt im zwölften Jahrhundert ein. Die Textzeugen stammen vorwiegend aus dem englischen und französischen Raum;

im deutschen und niederländischen Raum ist der Text kaum überliefert.3 Man vermutet daher, dass die Sequenz in England oder Frankreich entstanden ist.

Die traditionelle Zuschreibung an Petrus Abaelardus wurde inzwischen aufge- geben.4 Die Sequenz wird gattungsgeschichtlich dem sogenannten Zweiten Stil zugerechnet, der sich, im Unterschied zum Ersten Stil, durch strikte Einhaltung von Metrik, Rhythmus und Reim auszeichnet. Als musterhaft für den Zweiten Stil gelten die Sequenzen Adams von St. Viktor (gest. 1146). Clemens Blume und Henry M. Bannister erläutern:

Als echte Paradigmen einer vollkommenen, durch und durch regelrecht gebauten Se- quenz zweiter Epoche gelten die Sequenzen, welche dem großen Victoriner Adam zuge-

||

1 Vgl. Spechtler, Sp. 628‒629.

2 Vgl. Bärnthaler.

3 Vgl. AH 54, S. 296–298, Nr. 191.

4 Vgl. Spechtler, Sp. 628.

DOI 10.1515/9783110475371-014, © 2017 Andreas Kraß.

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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schrieben werden. Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Technik sind: 1. regel- rechter, auf dem natürlichen Wortakzent (nicht auf der Quantität der Silben) beruhender Rhythmus, so daß der Versakzent ausnahmslos mit der gewöhnlichen Wortbetonung harmoniert; 2. innerhalb des Verses eine gleichmäßige Zäsur, die mit dem Wortschlusse zusammenfällt; 3. reiner, mindestens zweisilbiger Reim.5

Diese Merkmale treffen auf die Sequenz Mittit ad virginem zu. Sie weist elf gleich gebaute Versikel auf, die sich paarweise zu Strophen (Doppelversikeln) zusam- menfügen (I–V). Den Abschluss bildet ein einzelner Schlussversikel, den man aufgrund der Klangähnlichkeit des letzten Verses auch dem letzten Doppel- versikel zurechnen kann (Va/b: -em, Vc: -um). In den mittelalterlichen deut- schen Übersetzungen werden die letzten drei Versikel stets als durch reinen Reim verbundene Tripelversikel wiedergegeben. Jeder der insgesamt elf Versi- kel besteht aus fünf sechsilbigen Versen. Gemäß der natürlichen Wortbetonung lässt sich das Metrum als dreihebiger Jambus deuten. Da die Verse stets betont beginnen und unbetont enden, gleitet der Rhythmus ununterbrochen durch das gesamte Lied. Die Verse weisen Kreuzreime sowie umarmende Reime auf, die die Versikel zu Paaren verklammern (ababc dedec).

Im Folgenden zitiere ich die Textfassung der Analecta hymnica. Sie basiert auf sechzig Textzeugen, von denen die Herausgeber 28 kollationierten:

Ia Mittit ad virginem Non quemvis angelum, Sed fortitudinem Suam, archangelum, Amator hominis,

Ib Fortem expediat Pro nobis nuntium, Naturae faciat Ut praeiudicium In partu virginis.

IIa Naturam superet Natus rex gloriae, Regnet et imperet Et zyma scoriae Tollat de medio;

IIb Superbientium Terat fastigia Colla sublimium Calcans vi propria Potens in proelio.

||

5 Vgl. AH 54, S. V–VII, hier S. VI.

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IIIa Foras eiciat

Mundanum principem Matremque faciat Secum participem Patris imperii.

IIIb Exi, qui mitteris, Haec dona dissere, Revela veteris Velamen literae Virtute nuntii.

IVa Accede, nuntia, Dic Ave cominus, Dic plena gratia, Dic tecum Dominus Et dic ne timeas.

IVb Virgo, suscipias Dei depositum, In quo perficias Castum propositum Et votum teneas.

Va Audit et suscipit Puella nuntium, Credit et concipit Et parit filium, Sed admirabilem,

Vb Consiliarium Humani generis Et Deum fortium Et patrem posteris In fide stabilem.

Vc Qui nobis tribuat Peccati veniam, Reatus diluat Et donet patriam In arce siderum.6

(Ia) Der Menschenfreund sendet nicht irgendeinen Engel zur Jungfrau, son- dern seinen mächtigsten, den Erzengel.

(Ib) Er schickt den Starken für uns als Boten aus, damit er die Vorbestimmung der Natur in der Geburt der Jungfrau ausführe.

(IIa) Geboren als König der Herrlichkeit überwinde er die Natur, er herrsche und regiere und trage den Sündenpfuhl aus unserer Mitte fort.

(IIb) Der im Kampf Mächtige zerreibe die Überheblichkeit der Hochmütigen und zertrete die Nacken der Stolzen mit seiner Gewalt.

(IIIa) Er stürze den weltlichen Fürsten und lasse die Mutter mit sich gemeinsam teilhaben an der Herrschaft des Vaters.

(IIIb) Geh hinaus, der du geschickt wirst, diese Botschaft zu verkünden, lüfte den Schleier der alten Schriften mit der Stärke des Boten.

||

6 AH 54, S. 296–298, Nr. 191.

(4)

(IVa) Tritt nahe an sie heran, verkündige, sprich: „Sei gegrüßt“, sprich: „Du bist voller Gnade“, sprich: „Der Herr ist mit dir“ und sprich: „Fürchte dich nicht“.

(IVb) Jungfrau, nimm an, was Gott dir anvertraut hat, damit du den keuschen Plan ausführst und das Gelübde hältst.

(Va) Die Jungfrau hört die Botschaft und nimmt sie an; sie glaubt und empfängt und gebiert den so wunderbaren Sohn:

(Vb) den Ratgeber der Menschen, den Gott der Starken, den Vater der Zukunft, den in der Treue Beständigen.

(Vc) Dieser gewähre uns die Vergebung der Sünden, nehme die Schuld von uns und schenke uns Heimat in der Himmelsburg.7

Das Lied thematisiert jenen Moment, als der Engel vor die Jungfrau tritt, um seine Botschaft auszurichten. Als biblische Grundlage dient die Verkündi- gungsgeschichte des Lukasevangeliums (1,26–38). Im folgenden Bibelzitat sind diejenigen Verse, auf die sich die Sequenz bezieht, durch Kursivierung hervor- gehoben:

(26) Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazaret (27) zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit einem Mann namens Josef verlobt, der aus dem Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Maria. (28) Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. (29) Sie erschrak über die An- rede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. (30) Da sagte der Engel zu ihr:

Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. (31) Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. (32) Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. (33) Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben. (34) Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? (35) Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden. (36) Auch Elisabet, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar galt, ist sie jetzt schon im sechsten Monat. (37) Denn für Gott ist nichts unmöglich. (38) Da sagte Maria: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Danach verließ sie der Engel.8 Die Entsprechungen zwischen Sequenz und Evangelium betreffen die Entsen- dung des Boten (Iab, IIIb; vgl. Lk 1,26–27), die Königsherrschaft des Kindes (IIab, IIIa; vgl. Lk 1,32–33), den Gruß des Engels (IVa; vgl. Lk 1,28), die Emp-

||

7 Meine Übersetzung (ich danke Jessica Ammer für ihre Unterstützung).

8 Zitiert nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung.

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fängnis des Kindes (IVb; vgl. Lk 1,31) und den Gehorsam der Jungfrau (Va; vgl.

Lk 1,38).

Die poetische Ausgestaltung der biblischen Verkündigungsszene lässt vier Merkmale erkennen. Erstens verzichtet die Sequenz auf sämtliche Namen; we- der die Personen (Maria, Gabriel) noch der Ort (Nazareth) werden spezifiziert.

Zweitens wechselt die Sequenz zwischen Bericht und Szene. Als Ereignisse der Vergangenheit werden im historischen Präsens die Entsendung des Boten (Ia) und der Gehorsam der Jungfrau (Va) mitgeteilt. Der Moment der Verkündigung selbst wird in der Weise vergegenwärtigt, dass der Sprecher in Apostrophen zunächst den Engel auffordert, sich auf den Weg zu machen (IIIb) und seinen Gruß zu sprechen (IVa), und anschließend die Jungfrau ermahnt, die ihr über- brachte Botschaft anzunehmen (IVb). Drittens wird der gesprochene Gruß, der den Kern des Verkündigungsgeschehens und der Mariensequenz darstellt, wört- lich aus dem Lukasevangelium übernommen und mit einer insistierenden Ana- pher gegliedert: „sprich […]: ,Ave,‘ sprich: ,Du bist voller Gnade‘, sprich: ,Der Herr ist mit dir‘ und sprich: ,Fürchte dich nicht‘“ (IVa). Diese drei Mittel dienen der Erzeugung eines Präsenzeffekts, der den Gläubigen in das Geschehen invol- viert. Hinzu kommt viertens, dass der eigentliche Inhalt der Botschaft ausgelas- sen und stattdessen ihre heilsgeschichtliche Bedeutung expliziert wird. Die Geburt des Gottessohns sei, so heißt es, von Anfang an vorherbestimmt gewe- sen (Ib). Der Gottessohn überwinde die Natur, nehme die Sünden fort (IIa), erniedrige die Hochmütigen (IIb), mache die Gottesmutter zur Teilhaberin an der göttlichen Herrschaft (IIIa), sei den Gläubigen treu (Vb), vergebe ihnen die Sünden und schenke ihnen das ewige Heil (Vc). Somit beruht die Komposition des Liedes auf drei Bestandteilen: dem Bericht, der den historischen Rahmen liefert (Ia, Xa), der Szene, die das zentrale Ereignis mit einem Präsenzeffekt versieht (IIIb–IVb), und der Deutung, die das Ereignis theologisch einordnet (Ib–IIIa, Vbc).

Die frömmigkeitsgeschichtliche Eigenart der Mariensequenz liegt in der Vergegenwärtigung des heilsgeschichtlichen Ereignisses. Der Gläubige sucht personale und affektive Nähe zu Maria, Christus und Gott.9 Entsprechend be-

||

9 Eine Parallele bietet die frühmittelhochdeutsche ,Mariensequenz von Muri‘ (1160/70), eine freie Bearbeitung der Sequenz Ave praeclara maris stella (elftes Jahrhundert). Während sich die Vorlage durch allegorische Verdichtung auszeichnet, setzt die Bearbeitung auf die Schilderung einer Szene, in der die Gottesmutter das Jesuskind stillt (Madonna lactans). Vgl. Kraß: Spiel- räume, S. 87–108, hier S. 94–99; Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 74–76; vgl. demnächst auch Eva Rothenbergers Berliner Dissertation zu den deutschen Versübertragungen von Ave prae- clara maris stella. Die Mariensequenz Stabat mater dolorosa, die um die mitleidende Gottes- mutter kreist, gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang; der Gläubige äußert darin die Bitte,

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zeichnet die Sequenz Gott als ‚Menschenfreund‘ (amator hominis). Wenn der Engel aufgefordert wird, er möge ‚nahe‘ (comitus) an Maria herantreten, so im- pliziert dies, dass der Gläubige selbst an dieser Nähe teilhaben möchte. Maria bietet einen persönlichen Heilsweg, da sie dem göttlichen Vater und dem göttli- chen Sohn in familiärer Hinsicht, aber auch – wie die Sequenz Mittit ad virginem betont – als Teilhaberin der göttlichen Herrschaft (participem patris imperii) nahesteht.

2 Der Mönch von Salzburg

Die älteste bekannte Versübertragung deutscher Sprache stammt vom Mönch von Salzburg, einem am Hof des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. von Puch- heim wirkenden Liederdichter, der 27 lateinische Hymnen und Sequenzen be- arbeitete.10 Die Übertragung von Mittit ad virginem ist in zehn Handschriften bezeugt, von denen sechs mit Melodien ausgestattet sind.11 Der folgende Text- abdruck stützt sich auf Spechtlers Edition12 und berücksichtigt die Textbesse- rungen, die Wachinger vorgeschlagen hat (hier kursiv gedruckt):13

|| dass er – gewissermaßen in der Rolle des Lieblingsjüngers – neben Maria unter dem Kreuz

stehen dürfe: iuxta crucem tecum stare; vgl. Kraß: Stabat mater, S. 76‒77, 86–90. Vgl. auch Gaul, hier S. 162.

10 Vgl. Wachinger: Art. ,Mönch von Salzburg‘, Sp. 658–670; eine Liste der Übersetzungen bietet Bärnthaler, S. 309–312.

11 Vgl. Die geistlichen Lieder des Mönchs, S. 188–193 (Edition, Nr. G 13), S. 34–99 (Handschrif- ten): (1) München, BSB, cgm 715, fol. 61v–65r, mit Melodie (Sigel A, HC 4249); (2) Wien, ÖNB, Hs. 2856, fol. 232r–234r, mit Melodie (Sigel D, HC 6527); (3) München, BSB, cgm 1115, fol. 25r–26r, mit Melodie (Sigel B, HC 9991); (4) Wien, ÖNB, cod. 4696 (,Lambacher Liederhandschrift‘), fol.

135r–139r, mit Melodie (Sigel E, HC 11683); (5) Wien, ÖNB, cod. 2975, fol. 154r–v (Sigel F, HC 11492); (6) Breslau, Diözesanarchiv, Hs. 58, fol. 182r, mit Melodie (Sigel a, HC 12712); (7) Danzig, Bibl. der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Ms. 2015, fol. 217v–219r, mit Melodie (HC 18493); weitere Textzeugen hat: Wachinger: Der Mönch von Salzburg. Überlieferung, S. 21‒22:

(8) Udine, Kapitelarchiv, Ms. 58, fol. 138v (Sigel c, HC 4045); (9) München, BSB, Clm 7742, fol.

247 r–v (Sigel n, HC 18548); (10) München, BSB, Clm 18566, fol. 99 r–v (Sigel o, HC 18551); (11) Prag, Nationalbibl., Dep. Minorité (Frantiskáni) Cesky Krumlov 148, fol. 169 r–v (Sigel p, HC 7819).

12 Die geistlichen Lieder des Mönchs, S. 188–193; ich verzichte auf die Markierung der textkri- tischen Eingriffe. Die von Spechtler separat abgedruckte Fassung m lasse ich hier beiseite.

13 Wachinger: Der Mönch von Salzburg. Überlieferung, S. 21–25.

(7)

Mittit ad virginem

Ia Des menschen liebhaber sand zu der maide her von seiner engel schar nur ainen engel klar, der starkke potschaft furt.

Ib durch uns ein starker pot gesendet wart von got darumb, das er betwangk mit kraft naturen gank an der jungkfrawn gepurd.

IIa Natur er überwant;

der eren künig geporn;

im dienen alle land, er hat den alten zorn dem menschen abgelait.

IIb der hochfart in verdros, in twangk sein maisterschaft, die hohen und ir genos stört er mit aigner kraft;

des sei im lob gesait.

IIIa Von im verstossen wart der fürst so snöder acht, er hat sein mueter zart mit im tailhaft gemacht der kraft des vater sein.

IIIb zeuch hin, pot, gotes knecht, und entsleus dise gab, offenbar newe recht, tue die alt ee hinab mit kraft der potschaft dein!

IVa Trit nahent der jungkfrawn zu und sprich ‚ave‘ zu ir und sprich ‚vol genaden du‘

und sprich ‚got sei mit dir‘

und sprich ‚nicht fürchte dich‘!

IVb alldo die jungkfraw guet enphieng den goteshort, in dem ir kauscher muet belaib ganz an allem ort, der nie verrugkte sich.

Va Die maid gelawbig was und horte seine potschaft, sie enphieng und genas ains suns von gotes kraft, der wunderleich genannt,

Vb der, rat des menschen, tod mit recht verderbet hat.

der starken vater, got gelawbhaft die sein bestat, dem die kristen sein erkant.

Vc Der mues geruechen uns ablas der sünde geben, und durch die lieb seins suns gab er uns das ewig leben dort in der engel land.

Die Übertragung hält die Formvorgabe weitestgehend ein. Die Strophen umfas- sen, wie in der lateinischen Vorlage, regulär fünf sechssilbige Verse, die einem dreihebigen Jambus folgen. Auch die Reimtechnik ist, mit einer Ausnahme, identisch: Kreuzreime innerhalb des Versikels wechseln mit umfassenden Rei- men, die je zwei Versikel zu Strophen verknüpfen. Nur in der ersten Strophe erlaubt sich der Mönch die Ersetzung der Kreuzreime durch Paarreime. Den

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Schlussversikel knüpft er durch Weiterführung des umarmenden Reims an die fünfte Strophe an (genannt/erkant/land). Beide Maßnahmen resultieren in einer formalen Verdichtung des Lieds, die der Sangbarkeit auf die Melodie der latei- nischen Vorlage keinen Abbruch tut.

Inhaltlich betrachtet, handelt es sich durchaus nicht um eine „relativ freie Übertragung“.14 Vielmehr ist erstaunlich, wie eng sich die Übersetzung an die Vorlage hält, obwohl sie sich deren Reimzwängen unterwirft und sie noch stei- gert. Die Vorlagennähe lässt sich an der ersten Strophe beispielhaft demonstrie- ren. Der Mönch ändert die Motivfolge, wenn er den letzten Vers des ersten Ver- sikels (amator hominis) an den Anfang vorzieht (Des menschen liebhaber), was einerseits den Satzbau vereinfacht und andererseits den Reim mit sand zu der maide her (mittit ad virginem) ermöglicht. Nur eine geringe Modifikation stellt auch die Formulierung von seiner engel schar dar, die den Gedanken wiedergibt, dass Gott nicht irgendeinen Engel (non quemvis angelum) geschickt habe. Wäh- rend die lateinische Sequenz die Stärke des Boten zweifach anspricht (Ia: forti- tudinem, Ib: fortem nuntium), wandelt der Mönch im ersten Fall die Stärke des Boten in die Stärke der Botschaft um (starkke potschaft). Dem Reim sind außer- dem kleinere Zusätze geschuldet: das Attribut klar für den Engel, das Verb furt als Prädikat eines neu gebildeten Relativsatzes, das Nomen got als Teil der pas- sivisch gewendeten Formulierung gesendet wart (zu expediat). Ein überzeugen- der Reim gelingt dem Übersetzer, wenn er der Wendung naturen gank (naturae praeiudicium) das neue Prädikat betwangk (statt faciat) zuordnet, das er aus der zweiten Strophe vorzieht (naturam superet). So erzielt der Mönch mithilfe ge- ringfügiger, aber wirkungsvoller Eingriffe die getreue und vollständige Wieder- gabe von Form und Inhalt.

Diese Eleganz beweist der Mönch auch in der Wiedergabe des englischen Grußes in Versikel IVa. Die Worte des Engels dürfen, weil sie biblisch bezeugt sind, nicht verändert werden; gleichwohl müssen sie dem Metrum und Reim- schema angepasst werden. Der Mönch löst diese Aufgabe nicht weniger ge- schickt als seine Vorlage. Wie diese tastet er den biblischen Wortlaut nicht an, wenn er einerseits den Gruß ave nicht übersetzt und den Segen tecum dominus zwanglos als got sei mit dir wiedergibt, wenn er andererseits zu Reimzwecken das gratia plena (vol genaden du) mit einem bekräftigenden du versieht (Reim du/zu) und bei der Wiedergabe von ne timeas eine Inversion der deutschen Wortfolge vornimmt: nicht fürchte dich (Reim dich/sich).

||

14 Spechtler, Sp. 629.

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Der Mönch operiert also mit vier Mitteln, um Form und Inhalt zu wahren.

Erstens gruppiert er, wenn erforderlich, die Motivfolge innerhalb eines Versikels oder auch über eine Versikelgrenze hinweg um. Zweitens arbeitet er mit Wort- zusätzen, bei denen es sich um ehrende Attribute für den Engel (Ia: klar) und die Gottesmutter (IIIa: zart, IVb: guet), eine Lobesformel für Gott (IIb: des sei im lob gesait) und eine Periphrase für den Engel handelt, die sich an die Vorstel- lung Marias als Magd des Herrn anlehnt (IIIb: gotes knecht). Drittens greift er zu Wiederholungen bereits etablierter Motive wie Gottes Kraft (Va: von gotes kraft, vgl. Ib: mit kraft) und Gottes Liebe (Vc: durch die lieb seins suns, vgl. Ia: liebha- ber). Viertens bedient er sich sinnwahrender Substitutionen: In Versikel IIa wendet er die Herrschaft Gottes (regnet et imperet) in den Dienst der Völker (im dienen alle land) um und ersetzt den Sündenpfuhl (zyma scoriae) durch den Zorn Gottes, der aus der Sündhaftigkeit des Menschen resultiert (alten zorn). In Versikel IIIa ersetzt er mundanum durch die wertende Wendung so snöder acht, in Versikel IVa den Titel dominus durch das spezifizierende Wort got. In Versikel Vc expliziert er die Heimat (patriam) als ewig leben und ersetzt die Burg der Sterne (arce siderum) durch das Land der Engel (der engel land). Letztere Meta- pher ist insofern nicht fehl am Platz, als sie den Motivkreis der Engel schließt, mit dem die Sequenz beginnt (Ia: engel schar, engel klar).

Gelegentlich erlaubt sich der Mönch inhaltliche Eingriffe, die sich im se- mantischen Horizont der lateinischen Sequenz bewegen und die Verständlich- keit für das volkssprachliche Publikum absichern. In Versikel IIIb formt er den Gedanken, dass der Engel den Schleier der alten Schriften (veteris literae) lüften solle, in den Gedanken um, dass er die Ablösung des alten Bundes (alt ee) durch den neuen Bund (newe recht) ansagen möge. In beiden Fällen geht es um die heilsgeschichtliche Zeitenwende, doch verschiebt der Mönch den Akzent von der anbrechenden Offenbarung auf die Erneuerung des Bundes. In Versikel IVb konkretisiert der Mönch die Aufforderung an Maria, sie solle ihrer Bestimmung folgen (perficias propositum) und ihr Gelübde halten (votum teneas) in der Wei- se, dass er, ausgehend von dem Wort ‚keusch‘ (castum), das Wunder der jung- fräulichen Mutterschaft entfaltet: in dem ir kauscher muet / belaib ganz an allem ort, / der nie verrugkte sich. Versikel Vb reichert er um den Aspekt an, dass der Erlöser nicht nur die Sünde fortgenommen, sondern auch den Tod bezwungen habe (der, rat des menschen, tod / mit recht verderbet hat, erweiternd zu consilia-

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rium humani generis), und dass dieses Heilswerk insbesondere den Christen zugutekomme (dem die kristen sein erkant).15

Den Wechsel von Bericht, Szene und Deutung hält der Mönch von Salzburg weitgehend ein. Den Präsenzeffekt, den die lateinische Sequenz bei der Insze- nierung des Engelsgrußes erzeugt, ahmt er genau nach.16 So wird man sagen können, dass der Mönch die Poetik und Theologie der lateinischen Sequenz nahezu vollständig einzufangen weiß. Er gibt das liturgische Lied im Medium der Volkssprache adäquat wieder und gewährleistet die Sangbarkeit auf die Melodie der Vorlage. Die vorgenommenen Modifikationen sind überschaubar;

sie dienen der Einhaltung der Form, tragen aber auch der volkssprachlichen Frömmigkeit Rechnung.

3 Oswald von Wolkenstein

Der Südtiroler Ritter und Liederdichter Oswald von Wolkenstein (um 1377–

1445), der „Bekanntschaft mit geistlichen Liedern des Mönchs von Salzburg erkennen“ lässt,17 übersetzte nur zwei lateinische Sequenzen ins Deutsche:

Mundi renovatio (Der werlde vernewung lawter klar) und Mittit ad virginem (Von Got so wart gesannt).18 Seine Bearbeitung des Mittit ad virginem ist nicht in den Haupthandschriften, sondern stets als Ergänzung zu den Liedern des Mönchs von Salzburg überliefert; drei von vier Textzeugen statten Oswalds Übertragung mit der Melodie aus.19 Der folgende Textabdruck folgt der von Burghart Wachin-

||

15 Wachinger korrigiert entsprechend Spechtlers Interpunktion des Versikels Vb; eine weitere Korrektur ist erforderlich: got gelawbhaft die sein bestat gehört zusammen (zu patrem posteris in fide stabilem).

16 Nicht aber im Fall der Gottesmutter, denn in Versikel IVb wird aus der Aufforderung susci- pias (2. Person Singular Konjunktiv Präsens) die Feststellung enphieng (3. Person Singular Indikativ Präteritum).

17 Wachinger: Art. ,Oswald von Wolkenstein‘, Sp. 160.

18 Die Lieder Oswalds, S. 317–319, Nr. 129 (Mundi renovatio), S. 319–321, Nr. 130 (Mittit ad virginem). Zu diesem Lied vgl. Spicker, S. 20, 97; Löser, S. 251‒261, hier S. 254‒255.

19 München, BSB, Cgm 715, fol. 150v–153v, mit Melodie (Sigel L, HC 4249); München, BSB, Cgm 1115, fol. 26r–27v, mit Melodie (Sigel w, HC 9991); Wien, ÖNB, cod. 4696 (,Lambacher Lieder- handschrift‘), fol. 139r–142v, mit Melodie (Sigel x, HC 11683); Wien, ÖNB, cod. 2975, fol. 154v 155r (Sigel y, HC 11492). Autorzuschreibung in L: Ein ander Mittit ad virginem hat der Oswald Wolkchenstainer gemacht (Registerüberschrift, fol. 2r), vgl. Die Lieder Oswalds, S. 319, Nr. 130 und in y: Sequitur sequencia mittit ad virginem secundum textum wolkchensteiner, vgl. Die Lieder Oswalds, S. 319, Nr. 130.

(11)

ger neu bearbeiteten Ausgabe von Karl Kurt Klein und weicht nur in der Inter- punktion des Versikels IVb ab:20

Ain ander Mittit ad virgine(m)

Ia Von got so wart gesannt der jungkfraun her zu lant ein engel wol erkannt, Gabriel was er genannt, dem starke potschaft zam.

Ib Der pot der was so stark:

nature iren sark zerbrach er vnd verpargk der junkfraun allen ark.

magt, mueter was ir nam.

IIa Über all creatur trat der künig jungk geporn.

sein reich, sein zepter hat all sünd gar ab geschorn.

das sei im lob und eer.

IIb Den trak, den feint er stach, di hat er gar gemacht.

ir hochfart er zebrach und hat in nicht gestat, das si im herschten mer.

IIIa Weicht höher, tret hindan, ir fürsten helle kind, seit wir Mariam han, domit wir worden sint tailhaft des vater reich.

IIIb Tret herfüer, enngel klar, werbet schon eure wort!

macht di geschrift offenbar, di vor nie wart gehort von kainem poten geleich.

IVa Her enngel, werbet schon:

„Ave, das sag ich dir, jungkfrau genaden vol.“

werbet „Got sei mit dir und went dir alle vorcht.“

IVb Jungkfraw, enphahet got, der wil vermenschen sich.

ir laistet sein gepot, das gelaubt sicherlich.

sein geist die sach e worcht.

Va Gelaubig was die maid und west an allen wankch:

was ir der engel sagt, das was ir alles dankch.

domit si got enpfie.

Vb Der uns beschaffen hat und als menschleich geslecht von seiner hanntgetat, er was ie und iee gerecht, der uns auch nie verlie.

||

20 Die Lieder Oswalds, S. 321, Nr. 130; zur Begründung der von mir veränderten Interpunktion vgl. weiter unten.

(12)

Vc Der uns geholfen ist vnd went uns sünden slamm, der süess herr Jhesus krist füer uns ad patriam, do er wont iee und iee.

Wie der Mönch hebt Oswald Anfang und Schluss der Sequenz hervor. Während der Mönch die erste Strophe durch die Wahl von Paar- statt Kreuzreimen mar- kiert, steigert Oswald den Effekt, indem er die Versikel Ia und Ib jeweils mit vier gleichen Reimen ausstattet: aaaab ccccb. In der formalen Gestaltung der Schlussstrophe stimmt Oswald mit dem Mönch überein, auch er verbindet die letzten drei Versikel mit übereinstimmenden Schlussreimen zur Einheit (Va:

enpfie, Vb: verlie, Vc: iee).

Oswald erlaubt sich größere inhaltliche Freiheiten als der Mönch von Salz- burg. In der Gestaltung der ersten Strophe zeichnen sich zwei Eingriffe ab, die man als Explizierung und Metaphorisierung bezeichnen könnte. Zum einen erläutert Oswald die Verkündigungsszene, indem er die beteiligten Personen – Gott, Engel und Jungfrau – näher bestimmt. Er ersetzt die Periphrase amator hominis durch got (Ia,1), nennt den Engel beim Namen: Gabriel was er genannt (Ia,4; für archangelum) und weist der Jungfrau einen marianischen Titel zu:

magt, mueter was ir nam (Ib,5; zu in partu virginis). Zum anderen ersetzt er das Motiv, dass das Heilsereignis der jungfräulichen Geburt in der Natur vorbe- stimmt gewesen sei (Ib,3–4: naturae faciat / ut praeiudicium), durch eine meta- phorische Vorwegnahme des (in der lateinischen Sequenz erst im nächsten Versikel folgenden) Motivs, dass Gott die Natur überwunden habe (IIa,1: natu- ram superet). Oswald wählt hierfür eine Metapher, die an die Auferstehung Christi aus dem Grab erinnert: nature iren sark / zerbrach er (Ib,2–3). Das Bild, dass der Bote den Sarg der Natur zerbrochen habe, verweist auf den Erlöser, der geboren wird, um den Tod zu besiegen. Oswald verknüpft das Bild mit einem zweiten, das die jungfräuliche Mutterschaft (in partu virginis) betrifft. Es besagt, dass der Bote alles Arge vor der Jungfrau verborgen habe: vnd verpargk / der junkfraun allen ark (Ib,3–4). Wachinger bezieht diese Aussage „auf die späteren Schmerzen Marias“, die der Engel verschwiegen habe.21 In seiner Lesart fällt also bereits der Schatten der Passionsgeschichte auf die Verkündigungsszene.

Vielleicht verbleibt das Bild aber doch im Verkündigungsgeschehen und meint nur, dass der Himmelsbote der Gottesmutter die Verletzung ihrer Jungfräulich- keit erspart habe.

||

21 Die Lieder Oswalds, S. 319, Nr. 130.

(13)

Die Tendenz zu gesteigerter Bildlichkeit setzt sich in der zweiten Strophe fort. Aus den Verben regnet et imperet werden die Substantive sein reich, sein zepter, die das Bild eines thronenden Herrschers evozieren. Die etwas sperrige Metapher, dass der Erlöser den ‚Schlackenkessel aus unserer Mitte fortgetragen‘

habe (zyma scoriae tollat de medio), wandelt Oswald in das einfachere Bild der Sünde um, die wie Wolle abgeschoren wird (all sünd gar ab geschorn). Aus den Hochmütigen und Stolzen macht Oswald den Drachen, der erstochen, und den Feind, dem der Garaus gemacht wird: Den trak, den feint er stach, / di hat er gar gemacht. Drachen und Feind verweisen auf den Teufel, der als Gegenspieler Gottes ins Spiel gebracht wird. Zugleich behält Oswald das Bild des zerriebenen Hochmuts bei: ir hochfart er zebrach (superbientium terat fastigia) und löst das Bild der zertretenen Nacken der Stolzen (colla sublimium calcans) im Sinne eines richtenden Herrscherspruchs auf: und hat in nicht gestat, / das si im herschten mer.

Auch die dritte Strophe ist plastischer gestaltet. Oswald verdichtet die vor- gegebenen Motive, dass die weltlichen Fürsten gestürzt werden und die Got- tesmutter Teilhabe an der göttlichen Herrschaft gewinnt. Er bezieht sie kausal aufeinander und formuliert sie als drohende Apostrophe: Weicht höher, tret hin- dan, / ir fürsten helle kind, / seit wir Mariam han, / domit wir worden sint / tailhaft des vater reich (IIIa). Aus den weltlichen Fürsten (mundanum principem) werden die Kinder des Höllenfürsten, der zuvor schon als Feind und Drache bezeichnet wurde. Maria erscheint nun als Schutzpatronin gegen die teuflische Macht. Sie ist bei Oswald nicht nur selbst der göttlichen Kraft teilhaftig, sondern gibt auch den Gläubigen Anteil am Reich Gottes. Der Affekt, den die Apostrophe erzeugt, wird durch die Wahl der ersten Person Plural (wir) gesteigert: Das dramatische Heilsgeschehen, der von Maria vermittelte Sieg Gottes über den Teufel, betrifft die Gemeinschaft der Gläubigen gewissermaßen höchstpersönlich. Mit der An- sprache an die Teufelskinder erweitert Oswald die Reihe der Apostrophen, die sich in der lateinischen Sequenz auf den Engel (IIIb–IVa) und die Jungfrau (IVb) beschränken. So verschiebt sich die Komposition. In der lateinischen Vorlage markiert die erste Apostrophe (die Aufforderung an den Engel, die Botschaft zu überbringen) die genaue Mitte des Liedes (IIIb); hingegen gelangt Oswald zu einer Dreiteilung, die auf den Bericht (I–II) die Apostrophen (III–IV) folgen lässt und in eine Bitte (V) mündet.

Oswald akzentuiert die eigentliche Verkündigungsszene (IIIb) stärker als das lateinische Lied und fügt ihr, wie es scheint, eine poetologische Dimension hinzu. Als Liederdichter spiegelt er sich im Verkündigungsengel, den er zwei- mal namentlich anspricht (IIIb: enngel klar, IVa: Her enngel), und insinuiert, dass er, Oswald, seinerseits ein starker Bote sei. Während die lateinische Se-

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quenz die Anrufung des Engels erst in Versikel IVa platziert, zieht Oswald sie vor und verteilt sie somit auf zwei Versikel. Er löst das Staccato des vierfachen dic auf, indem er den Imperativ wortreicher formuliert und zweimal nachhallen lässt: werbet schon eure wort! (IIIb,2), werbet schon! (IVa,1), werbet! (IVa,4). Die Periphrase werbet schon eure wort ist bemerkenswert, weil sie das Motiv des schönen Sprechens betont. Schöne, geziemende Wörter sind Sache nicht nur des Engels, sondern auch des um Ästhetik und Rhetorik bemühten Liederdich- ters. Das Motiv der alten Schriften (veteris literae) passt Oswald ebenfalls in die poetologische Sinnebene ein. Er löst das Bild des gelüfteten Schleiers auf (IIIb,3: macht die geschrift offenbar zu revela velamen) und betont die Einzigar- tigkeit des Boten und die Neuigkeit der Botschaft: di vor nie wart gehort / von kainem poten geleich (IIIb,4‒5). Dies ist, wie Wachinger richtig anmerkt, „theo- logisch nicht ganz korrekt“, da die Botschaft bereits im Alten Testament pro- phezeit wurde (vgl. IIIb: revela veteris velamen literae).22 Die Pointe liegt darin, dass Oswald erneut jene exzeptionelle Dichterrolle durchscheinen lässt, die er für sich selbst beansprucht. Ein letztes Mal akzentuiert Oswald die poetologi- sche Dimension, wenn er den Engel – gewissermaßen in Form eines performati- ven Sprechakts – zu Maria sagen lässt: das sag ich dir (IVa,2).

In der Apostrophe an die Jungfrau (IVb) nimmt sich Oswald wieder zurück und lässt, wie die lateinische Vorlage, die Gläubigen sprechen. Wachinger hin- gegen rechnet, wie die von ihm eingefügte Interpunktion zeigt, die Verse noch der Rede des Engels zu. Dies ist fraglich, wie der Vergleich mit der lateinischen Sequenz zeigt, denn die Worte des Engels beschränken sich auf den Wortlaut der Bibel, und die Apostrophe an die Jungfrau stellt eine Entsprechung zur vo- rausgehenden Apostrophe an den Engel dar. Die biblisch bezeugten Worte des Engels sind – in der lateinischen Vorlage und in der deutschen Bearbeitung – eine Anrede in der Anrede; sie sind eingebettet in die Aufforderung der Gläubi- gen an den Engel, die frohe Botschaft zu übermitteln. Oswald setzt hier neue Akzente, die den theologischen Zusammenhang erläutern. Er betont die Menschwerdung Gottes (IVb,2: der wil vermenschen sich), das Wirken des Heili- gen Geistes (IVb,5: sein geist die sach e worcht) und, wieder ein vorgezogenes Motiv, den Glauben der Gottesmutter (IVb,4: das gelaubt sicherlich, vgl. Va,3:

credit).

Die Aufforderung erfüllt sich im nachfolgenden Versikel Va, der die dreitei- lige Schlussstrophe einleitet. Der Glaube Marias (Va,1: Gelaubig was die maid) wird durch den Zusatz betont, dass sie sich nicht beirren lasse: und west an

||

22 Die Lieder Oswalds, S. 320, Nr. 130.

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allen wankch (Va,2). Die Umschreibung der Botschaft (nuntium) in der Formulie- rung was ir der engel sagt (Va,3) markiert noch einmal die Kommunikationssi- tuation: Es gibt einen Boten, der spricht, und eine Adressatin, die lauscht. Viel- leicht wird hier implizit die poetologische Dimension weitergeführt: Wie Maria auf den Engel hört, so bedarf der Sänger eines aufmerksamen Publikums, das seine Leistung zu schätzen weiß (vgl. Va,4: das was ir alles dankch). In Versikel Vb, der in der lateinischen Sequenz allein auf Gottvater gemünzt ist, hebt Oswald die Rolle des Menschen hervor, indem er einen umfangreichen Hinweis auf die Geschöpflichkeit der Menschen hinzufügt: Der uns beschaffen hat / und als menschleich geslecht / von seiner hanntgetat (Vb,1–3). Damit knüpft er an die zuvor erwähnte Menschwerdung Gottes an und betont so das menschliche Band, das Gott mit den Gläubigen verbindet. Der letzte Versikel schließt an den vorletzten an. Gott ist nicht nur Schöpfer (Vb,1: Der uns beschaffen hat), sondern auch Helfer der Menschen (Vc,1: Der uns geholfen ist). Während die lateinische Vorlage das wir der Gläubigen erst im letzten Versikel einführt (nobis), zieht Oswald es in den vorletzten Versikel vor und erzeugt so die Anapher Der uns.

Auf diese Weise wird die Gemeinschaft der Gläubigen stärker hervorgehoben als in der lateinischen Sequenz. Den abschließenden Versikel, der die Bitte um die Vergebung der Sünden und die Aufnahme ins Himmelreich artikuliert, gestaltet Oswald wiederum plastischer als die Vorlage. Die Vergebung der Sünden (peccati veniam) umschreibt er mit einer nachgeholten Metapher: Aus zyma scoriae tollat (IIa,4‒5) wird went uns sünden slamm (Vc,2). Gott wird nicht, wie in der lateinischen Vorlage, preisend als Ratgeber der Menschen, Gott der Star- ken, Vater der Zukunft, Wahrer der Treue angesprochen, sondern intimer als der süess herr Jhesus krist (Vc,3), der den Menschen dorthin führen soll, wo er selbst wont iee und iee (Vc,5).

Wie der Mönch von Salzburg weiß auch Oswald von Wolkenstein das litur- gische Lied Mittit ad virginem formal und inhaltlich mit den Mitteln der Volks- sprache einzufangen. Zugleich verleiht er seiner Übertragung eine auktoriale Signatur, die sich in der poetischen Gestaltung (Tendenz zur Metaphorisierung), thematischen Verdichtung (Betonung der Nähe des Menschen zum menschge- wordenen Gott) und poetologischen Zuspitzung (Thematisierung der schönen Wörter) erweist. Oswald gewinnt der lateinischen Sequenz eine neue Pointe ab, indem er eine implizite Parallele zwischen Verkündigungsengel und Liederdich- ter zieht. Dieses Rollenspiel, das der eigenen Autorisierung dient, kennt man auch aus anderen seiner geistlichen Lieder, zum Beispiel aus dem Beichtlied Mein sünd und schuld, in dem er unter der Hand eine quasi-priesterliche Positi-

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on für sich beansprucht.23 Auf diese Weise kompensiert Oswald die liturgische Kompetenz, die ihm als Dichter, der dem laikalen Stand der Ritter angehört, fehlt.

4 Heinrich Laufenberg

Eine dritte Versübertragung der Mariensequenz stammt von Heinrich Laufen- berg, der in Zofingen (Kanton Aarau) und Freiburg als Dekan tätig war und 1460 im Straßburger Johanniterkloster starb. Laufenberg trat als geistlicher Lieder- dichter hervor, der zahlreiche lateinische Hymnen und Sequenzen ins Deutsche übertrug, darunter auch die Mariensequenz Mittit ad virginem.24 Seine literari- schen Werke wurden „vom Autor selbst oder von seiner nächsten Umgebung in einigen [Handschriften] gesammelt, die in der Bibliothek des Johanniterklosters verblieben und mit dieser 1870 in der Straßburger Stadtbibliothek verbrannt sind“.25 In der Liederhandschrift, die Philipp Wackernagel wenige Jahre zuvor ediert hatte, sind vier Lieder des Mönchs von Salzburg überliefert – ein Hinweis darauf, dass sich Laufenberg von ihm zur formtreuen Übersetzung lateinischer Hymnen und Sequenzen anregen ließ.26 Wenn Wachingers chronologische Überlegungen zutreffen, dürfte die Übersetzung zur Gruppe der zwischen 1421 und 1434 verfassten Lieder zählen.27 Eine größere Wirkung wurde ihnen nicht zuteil.

Der folgende Textabdruck basiert auf Wackernagels Edition. Die Schreib- weisen habe ich normalisiert (Auflösung der Superskripte, u/v-Ausgleich, Nor- malisierung des Schaft-s). Drei Konjekturen scheinen mir erforderlich: hern statt

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23 Vgl. Kraß: Sünder, Prediger, Dichter.

24 Vgl. Wackernagel 2, S. 580, Nr. 754: Agnoscat omne seculum; S. 580, Nr. 755: Veni redemp- tor gentium; S. 580–581, Nr. 756: A solis ortus cardine; S. 581, Nr. 757: Ave maris stella; S. 581–

582, Nr. 758: Salve mater salvatoris; S. 583, Nr. 760: Mittit ad virginem; S. 584, Nr. 761: Corde natus et parentis; S. 584–585, Nr. 762: Congaudent angelorum chori; S. 585, Nr. 763: Ave prae- clara maris stella; S. 586–587, Nr. 765: Letabundus exultet; auch S. 586, Nr. 764: Salve Regina.

25 Straßburg, Stadtbibliothek, cod. B 121, fol. 76a (HC 5821); vgl. Wachinger: Art. ,Heinrich Laufenberg‘, Sp. 614–625, hier Sp. 615‒616 (Zitat); ders.: Notizen, S. 349–385 (wieder in ders.:

Lieder und Liederbücher, S. 329–362); Nemes: Das lyrische Œuvre (Laufenbergs Übertragung des Mittit ad virginem ist nicht Teil der ausgewählten Editionen dieses Bandes).

26 Vgl. Wachinger: Notizen, S. 354–357; ders.: Art. ,Heinrich Laufenberg‘, Sp. 620‒621.

27 Vgl. Wachinger: Notizen, S. 357: „Als Nahtstelle käme wohl am ehesten Blatt 78/79 in Frage; was vorausging, waren die Lieder von 1421 bis 1434.“ Das deutsche Mittit ad virginem stand auf fol. 76a.

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her (Ia,4: Akkusativ statt Nominativ), uberwinden statt uberwinde (IIa,3: Infinitiv statt Imperativ) und von sorge fry statt on sorge fry (IVa,5: ,von‘ statt ,ohne‘). In der vierten Strophe habe ich Anführungszeichen hinzugefügt, um die Rede des Engels zu markieren.

Sequitur sequentia Mittit ad virginem.

Ia Hin zuo dir, megde vin, sent got den engel sin, doch gar mit underscheit, hern gabriel gemeit von minn der menscheit ein:

Ib Diz starke botschaft guot richt us mit wisem muot, natiurlich art vertrib, so daz mit kiuschem lib gebär die maget rein.

IIa Naturen kraft sol dis kinde ein küng der er

richsen, zwingen, uberwinden und iemer mer

die sünd gar abe lan,

IIb Der hoffart haels sol es tretten und all herschaft

sol es gar under sich wetten von eigner kraft,

die es im strit sol han.

IIIb Gang us und bis behend, du edler bot, diz vollend, verkünd der buecher sinn da stat dis alles inn, von kraft der botschaft din.

IIIa Verstos den fürsten gran der im mit valsch gewalt wil han, wen er die muoter guot

mit im teilhaftig tuot des richs des vatters sin.

IVa Gang zuo hin und verkünd, sprich: ‚gruest bistu on sünd‘, sprich: ‚du bist gnaden vol, mit dir der herr sin sol, und bis von sorge fry.

IVb Maget, du solt enphan gotz sun gar wol getan, dz würkt der helig geist, din kiuschi die du treist, die soltu bhan da by.‘

Va Dz hoert die maget zart, den botten sy vernint, si gloubt, als es ouch wart, und gbirt da mit ein kint, doch also wunderlich,

Vb Der gar mit wysem rat die welt erloeset hat, ein got der starken genannt, ein vatter aller sant im glouben vesteclich.

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Vc Der uns ouch gebe bas der sünden abelas, die schuld er dannan tuo und geb uns fröud darzuo in himels hohem rich.28

Die Übertragung greift in Metrum, Reimschema und Strophenfolge der lateini- schen Sequenz ein. Die Versikel der dritten Strophe sind vertauscht, was auf eine entsprechende Vorlage zurückgeführt werden kann.29 Die erste Strophe ist – wie auch beim Mönch von Salzburg und Oswald von Wolkenstein – paarge- reimt, die Versikel sind durch umarmenden Reim verklammert (aabbc ddeec).

In der zweiten Strophe setzen, der lateinischen Vorlage entsprechend, die Kreuzreime ein, doch weicht die metrische Gestaltung ab. Es wechseln vier- mit zweihebigen Versen, nur die Schlussverse sind dreihebig. Die dritte und vierte Strophe sind wieder paargereimt. In der dritten Strophe weicht jeweils der zwei- te Vers ab, er ist vierhebig. Die vierte und fünfte Strophe folgen in dieser Hin- sicht wieder der lateinischen Sequenz. Die fünfte Strophe kehrt zu den Kreuz- reimen zurück; die drei zugehörigen Versikel sind, wie beim Mönch und Oswald, durch gleiche Reimung der Schlussverse verbunden. Es lässt sich somit festhalten, dass Laufenberg das Variationsprinzip, das für die vor dem Zweiten Stil entstandenen Sequenzen typisch ist, anwendet. Es folgen keine identischen Strophen aufeinander, nur die Strophen I und IV sind gleich gebaut:

I Paarreime dreihebige Verse

II Kreuzreime Wechsel von zwei-, drei- und vierhebigen Versen III Paarreime Wechsel von drei- und vierhebigen Versen IV Paarreime dreihebige Verse

V Kreuzreime dreihebige Verse

Typisch für die Gattung der Sequenz sind Responsionen, die Laufenberg eben- falls ohne Vorbild in der lateinischen Vorlage hinzufügt. Zu nennen sind zwei Anaphern, die die Strophen III (Gang us) und IV (Gang zuo) sowie die Versikel Vb (Der gar) und Vc (Der uns) miteinander verbinden, sowie in IIa und IIb die Wiederholung des Wortes sol an entsprechender Stelle.

||

28 Wackernagel 2, S. 583, Nr. 760.

29 Eine solche Vertauschung haben auch die lateinischen Textzeugen A, k, q, s, x, ϑ; vgl. AH 54, S. 298, Nr. 191.

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Laufenberg wählt für seine Übersetzung schlichte Reime und scheut auch vor Wiederholungen nicht zurück (Ib: guot/muot, IIIb: guot/tuot). Mehrfach gewinnt er Reime durch den Zusatz nachgestellter ehrender Attribute für die Gottesmutter: megde vin (Ia), maget rein (Ib), muoter guot (IIIa), maget zart (Va).

Auch zeigt Laufenberg eine gewisse Vorliebe für Alliterationen (Ia: got, gar, gabriel; IIa: kraft, kinde, küng; IIb: hoffart, haels, herschaft; Vc: himels hohem).

Im Satzbau tendiert er zu reihender Parataxe. Im Unterschied zu Oswald steigert er die Bildlichkeit des Textes nicht, sondern baut sie im Gegenteil ab. Während Oswald beispielsweise die Metapher zyma scoriae (IIa) zweifach abwandelt (IIa:

all sünd gar ab geschorn, Vc: sünden slamm), löst Laufenberg sie auf: die sünd gar abe lan (IIa). Insgesamt kann man von einem schlichten, fast naiven Stil der Übersetzung sprechen. Die metrischen Eingriffe in der zweiten und dritten Stro- phe beeinträchtigen die Sangbarkeit auf die Melodie der Vorlage – wenn sie überhaupt beabsichtigt war. Die Handschrift scheint die Übersetzung jedenfalls ohne Melodie überliefert zu haben.

Ein wesentliches inhaltliches Merkmal der Bearbeitung ist die Betonung des Verhältnisses zwischen Gottesmutter und göttlichem Kind. Schon die erste Strophe eröffnet die Reihe der Apostrophen, die in der lateinischen Vorlage erst in der dritten Strophe einsetzt. Die erste Anrede gilt Maria, die – in Überein- stimmung mit der lateinischen Vorlage und in Abweichung von den Fassungen des Mönchs und Oswalds – schon im ersten Vers genannt wird: Hin zuo dir, megde vin. Der Text beginnt somit nicht als Bericht, sondern als Hinwendung zu Maria. Ihr wird gesagt, was sie ohnehin schon weiß. Es geht somit weniger um die Übermittlung von Informationen als um die Herstellung eines Nahverhält- nisses zwischen Gläubigen und Gottesmutter. Der Engel wird (wie bei Oswald) beim Namen genannt; es ist der her gabriel, den sein Auftrag fröhlich stimmt (gemeit). Zweimal wird die Vorbedachtheit des Ereignisses betont. Gott hat den Engel mit Urteilsvermögen (Ia,3: mit underscheit) ausgewählt, der sich nun auf den Weg zur Jungfrau macht, um die Botschaft in kluger Weise (Ib,2: mit wisem muot) zu überbringen. Alle Motive der Vorlage werden wiedergegeben, doch fügen sie sich in eine Szene ein, die anmutiger, frommer, heiterer wirkt als in der lateinischen Sequenz. Deren theologischer Anspruch (im Erzengel verkör- pert sich die Stärke Gottes, die Verkündigung ist vorherbestimmt) weicht einer schlichteren Frömmigkeit, die sich an der Botschaft des Engels, der Keuschheit der Jungfrau und der Menschenliebe Gottes erfreut.

In der zweiten Strophe tritt der heilsgeschichtliche Auftrag, den der von der Jungfrau Geborene erfüllen soll, in den Vordergrund. Er soll König sein, der regiert und herrscht, die Sünden fortnimmt, die Stolzen zu Fall bringt. Zugleich hebt Laufenberg die Rolle des Kindes hervor. Subjekt der Heilstaten ist dis kin-

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de, seine Rolle als küng der er (rex gloriae) wird als Apposition nachgereicht.

Viermal wird gesagt, was es, das Kind, tun soll (IIa,1; IIb,1; IIb,3; IIb,5). So wird durchgehend präsent gehalten, dass der König der Herrlichkeit doch immer auch das Kind der Jungfrau, der Sohn der Gottesmutter ist. Christus bleibt, auch wenn er aus eigner kraft (zu propria potens) handelt, stets an seine Mutter zu- rückgebunden.

Infolge der Vertauschung der Versikel IIIa und IIIb ändert sich der Gedan- kengang. Die Strophe setzt ein mit der Aufforderung an den Engel, die Botschaft auszurichten (IIIb). Laufenberg schmückt die Aufforderung aus, indem er den Engel als edel (du edler bot) bezeichnet und bittet, seine Aufgabe schnell (behend) zu erfüllen. Die hermeneutische Metapher des Schleiers, der von den alten Schriften genommen werden soll, löst Laufenberg auf. Der Engel soll den Sinn der Bücher verkünden, in denen ,dies alles‘ längst geschrieben steht: ver- künd der buecher sinn / da stat dis alles inn (IIIb,3‒4). Nicht ein Schleier soll gelüftet, sondern ein Buch aufgeschlagen und deutend gelesen werden. Ge- meint ist das Buch der Bibel, insbesondere die aus der Adventsliturgie wohlbe- kannten Verse aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben“ (Jes 7,14). Man kann vermuten, dass der Verweis auf das Lesen und Deuten von Büchern auf ein Publikum hinweist, das mit der Buchkultur vertraut ist. Aufgrund der vertauschten Reihenfolge richtet sich Versikel IIIa nicht mehr an das göttliche Kind, sondern an Gabriel. Der starke Bote soll den Fürsten stür- zen (eiciat mundanum principem). Laufenberg baut die Apostrophe aus, indem er den Fürsten als zornigen, trügerischen und gewalttätigen Gegenspieler Gottes charakterisiert: Verstos den fürsten gran / der im mit valsch gewalt wil han (III- a,1‒2). Als Grund hierfür wird die Absicht des Kindes genannt, seine Mutter an der väterlichen Herrschaft Gottes zu beteiligen: wen er die muoter guot / mit im teilhaftig tuot / des richs des vatters sin (IIIa,3–5). So baut sich eine Opposition zwischen göttlicher Familie (Vater, Mutter, Kind) einerseits und teuflischem Widersacher andererseits auf.

Laufenberg schließt die vierte Strophe stilistisch eng an die dritte an. Die- sem Zweck dient einerseits die Anapher Gang us/Gang zuo, die die lateinischen Imperative Exi (IIIb) und Accede (IVa) aufnimmt, andererseits die Ähnlichkeit der gewählten Reime (IIIb,1‒2: behend/vollend zu IVa,1‒2: verkünd/sünd; IIIa,1‒

2: gran/han zu IVb, 1‒2: enphan/getan). Die Botschaft des Engels gestaltet Lau- fenberg wie seine lateinische Vorlage als Wechsel zwischen dem Imperativ sprich (dic) und den betreffenden Zitaten aus dem Lukasevangelium. Die Auf- forderung ne timeas formuliert er in der Weise um, dass er nicht die Furcht-,

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sondern die Sorglosigkeit der Jungfrau betont: und bis von sorge fry (IVa,5). Die folgende Apostrophe an die Gottesmutter (IVb) ist, im Unterschied zur lateini- schen Vorlage, als fortgesetzte Rede des Engels zu verstehen. Zunächst erläutert Laufenberg, dass das, was der Jungfrau anvertraut werde (depositum), das schöne Gotteskind sei: gotz sun gar wol getan. Wieder also wird die Beziehung zwischen Mutter und Kind hervorgehoben. In den nachfolgenden Versen streicht Laufenberg die Motive des Heilsplans Gottes (propositum) und des Ge- lübdes Marias (votum) zugunsten einer Erläuterung, die sich wieder unmittelbar auf das Lukasevangelium bezieht, dass nämlich der Heilige Geist in Maria wirke und ihre Keuschheit unangetastet bleibe: dz würkt der helig geist, / din kiuschi die du treist, / die soltu bhan da by (zu Lk 1,35). Eben die Tatsache, dass hier, wie schon in IVa, aus der Bibel zitiert wird, spricht dafür, die Apostrophe in diesem Fall dem Engel und nicht dem Sprecher zuzurechnen.

In der fünften Strophe hält sich Laufenberg wieder weitgehend an die Vor- lage. Akzente setzt er auf die Motive der Erlösung (Vb,2: die welt erloeset) und der Freude (statt patriam) des Himmelreichs.

Insgesamt zeichnet sich Laufenbergs Bearbeitung durch die Tendenz aus, die metaphorische und theologische Dimension der lateinischen Mariensequenz zugunsten einer schlichteren Szene zu reduzieren, die das Verhältnis von Mut- ter und Kind in den Vordergrund rückt. Zudem greift er in die formale Struktur ein, die nicht mehr auf der Identität, sondern der Variation der Strophen ba- siert. Wachinger hält fest, dass Laufenberg einerseits „Hymnen und Sequenzen formtreu – und damit sangbar – übertragen“ habe, andererseits aber auch vielstrophige Gedichte verfasst habe, die „nicht zum Singen bestimmt [seien], sondern zum Lesen in privaten Andachtsübungen“.30 Manches spricht dafür, dass sich auch Laufenbergs Bearbeitung der Sequenz Mittit ad virginem eher als Lesegedicht denn als sangbares Lied versteht.

5 Liturgie und Volkssprache

Die Mariensequenz Mittit ad virginem war bis zum Konzil von Trient, das die Fülle der mittelalterlichen Sequenzen erheblich reduzierte, in liturgischem Gebrauch. Sie hatte ihren Ort am Fest Mariä Verkündigung, das am 25. März gefeiert wird, wurde aber auch als Adventslied verwendet, das insbesondere am Quatembermittwoch, dem Fastenmittwoch nach dem Festtag der hl. Luzia (13.

||

30 Wachinger: Art. ,Heinrich Laufenberg‘, Sp. 621.

(22)

Dezember), gesungen wurde.31 Wie aber verhält es sich mit dem liturgischen Status der mittelalterlichen deutschen Übersetzungen?

Blicken wir zunächst auf die Prosaübertragungen, die allesamt in Hand- schriften des fünfzehnten Jahrhunderts überliefert sind. Bislang war nur eine niederdeutsche Prosafassung bekannt, die in der Greifswalder Universitätsbib- liothek aufbewahrt wird.32 Zwei weitere kommen hinzu: eine niederdeutsche, die in drei Textzeugen der Lübecker Stadtbibliothek erhalten ist,33 sowie eine moselfränkische, die heute in der Trierer Stadtbibliothek liegt.34 Es handelt sich teils um Gebet- und Andachtsbücher, teils um Stunden- und Messbücher, die in Nonnenklöstern und Schwesternschaften im Gebrauch waren. Der Trierer Text- zeuge ist in einem Gebetbuch überliefert, das aus einem Nonnenkloster, „mög- licherweise aus dem Dominikanerinnenkloster St. Barbara, Trier“, stammt.35 Die Überlieferungsgemeinschaft innerhalb der Handschrift bilden Marienandachten und Marienpreisungen mit Gebeten. Der Greifswalder Textzeuge ist Teil eines Gebetbuchs, das „vermutlich aus einem Benediktinerinnenkloster oder aus einem andern weiblichen Orden nach der Regel Benedikts“ kommt.36 Es bietet mehrere Nester mit deutschen Übertragungen lateinischer Hymnen und Se- quenzen, darunter eine Gruppe von 35 Sequenzen, eine Gruppe von 41 Hymnen sowie ein Paar von Sequenzen, das die Übersetzung des Mittit ad virginem ent- hält. Die Lübecker Textzeugen sind in niederdeutschen Stunden- und Messbü- chern des fünfzehnten Jahrhunderts überliefert; eines davon stammt aus dem Besitz Grete Kerkrings, einer Lübecker Schwester vom gemeinsamen Leben, die auch als Schreiberin hervortrat.37 Der letztgenannte Textzeuge (Ms. theol. germ.

21) ist in eine niederdeutsche Übersetzung der adventlichen Rorate-Messe ein- gebettet (fol. 175v–178r: De misse Rorate celi de super); er trägt die Überschrift

||

31 Vgl. Janota: Studien, S. 88.

32 Greifswald, UB, 8° nd. Hs. 17, fol. 160v–162r (HC 13414), Incipit: De beleuer der mynschen hefft ghesent to der juncfruwen; vgl. Spechtler: Art. ‚Mittit ad virginem (deutsch)‘, Sp. 629, Nr. 4.

33 Lübeck, StB, Ms. theol. germ. 21, fol. 176v–177r, Incipit: De seliger des mynschen vth sendet nicht enen mynsten enghel; ebd., Ms. theol. germ. 65, fol. 71v–72v, Incipit: De saligher des mynschen vt sande nicht enen mysten engel; ebd., Ms. theol. germ. 68, fol. 261v–262r, Incipit: De salychmaker der mynschen sande nycht vt enen van den mynsten enghelen. Vgl. das Handschrif- tenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

34 Trier, StB, Hs. 823/1696 8°, fol. 198v (HC 8687), Incipit: Des menschen lieffhauer en sante nyt zu der juncfrauwen icklichen engel.

35 Bushey, S. 94–104, hier S. 95.

36 Deutsch, S. 58–63, hier S. 58.

37 Ms. theol. germ. 21; vgl. Hagen, S. 16. Zu Grete Kerkring vgl. Schnabel, S. 165–216, hier S. 192.

(23)

Sequencia Mittit ad virginem und ist somit als Sequenz ausgewiesen. Man hat es hier mit einem Zeugnis für den volkssprachlichen Mitvollzug der lateinischen Liturgie seitens einer Schwesternschaft zu tun. Da es sich um eine Prosafassung handelt, ist die Übersetzung der lateinischen Sequenz nicht sangbar und somit auch nicht als liturgiebegleitendes Lied verwendbar.

Wie aber verhält es sich mit den Versübertragungen des Mönchs von Salz- burg, Oswalds von Wolkenstein und Heinrich Laufenbergs, die vielfach mit Noten überliefert sind? Sie werden in der Überlieferung der Gattung der Se- quenz38 und in einem Fall dem liturgischen Gebrauch im Advent zugewiesen.39 Burghart Wachinger betont, dass sich diese Hinweise nicht auf die volkssprach- lichen Übertragungen, sondern „in der Regel auf die lat[einischen] Originale beziehen“.40 Auch Johannes Janota, der sich in seinen ,Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter‘ mit den volkssprachli- chen Versübertragungen der Sequenz Mittit ad virginem befasst, stellt fest, dass die Überlieferung keinerlei Hinweise auf eine liturgische Verwendung der Über- setzungen gebe:

Trotz dieser mehrfachen Übertragungen und der breiten Überlieferung, die wir von der Fassung des Mönchs von Salzburg haben, finden sich keine Anhaltspunkte für die liturgi- sche Funktion der deutschen Texte, etwa in Form einer rubrizistischen Anmerkung. Auch die Überlieferung der Lieder spricht gegen einen solchen Brauch […]. Gerade diese relativ zahlreiche Überlieferung einer Sequenzübertragung zeigt durch ihre Tradierung in aus- schließlich nichtliturgischen Handschriften anschaulich, daß die deutsche Fassung eines liturgischen Textes keineswegs auch die liturgische Funktion des lateinischen Originals übertragen bekommt.41

Andererseits räumt Janota die Möglichkeit ein, dass die Übertragungen zwar nicht als liturgische, aber doch in bestimmten Gebrauchszusammenhängen als liturgiebegleitende Lieder verwendet wurden. Zum einen denkt er an die Ver- wendung als Prozessionslied:

||

38 Mönch von Salzburg: Sequitur sequencia mittit ad uirginem secundum textum monachus (Wien, ÖNB, Hs. 2975, fol. 134r); Prosa Mittit ad virginem in wlgari (Breslau, Diözesanarchiv, Hs.

58, Bl. 182r) (Prosa hier im Sinne von Sequenz); Oswald von Wolkenstein: Sequitur sequencia mittit ad virginem secundum textum wolkchensteiner (ÖNB, Hs. 2975, fol. 154v); Heinrich Lau- fenberg: Sequitur sequentia Mittit ad virginem (vgl. Wackernagel 2, S. 583, Nr. 760).

39 Mönch von Salzburg: Mittit ad virginem singt man in dem advent (München, BSB, cgm 715, fol. 2r [Register]).

40 Wachinger: Art. ,Mönch von Salzburg‘, Sp. 665.

41 Janota: Studien, S. 90; vgl. zu diesem Zusammenhang auch ders.: Art. ,Kirchenlied‘, Sp. 62–67.

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