Wilhelm Siegling (1880—1946) Von Emil Sieg, Göttingen
Am 22. Januar 1946 verstarb nach kurzer Krankheit in Berhn der
wissenschafthche Beamte der Berhner Akademie der Wissenschaften, Prof.
Dr. phil. Wilhelm Siegling, der Mitbegründer der tocharischen Sprach¬
wissenschaften und zugleich der beste Kermer der verschiedenen Ab¬
arten der Brähmi-Schrift zentralasiatischer Prägung.
Der am 14. 1. 1880 in Erfurt Geborene absolvierte zunächst das Real¬
gymnasium seiner Vaterstadt, erwarb sich aber in privater Vorbereitung
durch Ablegung der Ergänzungsprüfung auch das Reifezeugnis des Kgl.
Gymnasiums in Eisleben. Seine Studien führten ihn auf die Universitäten
Halle (zwei Semester), Heidelberg, Leipzig, Greifswald (je ein Semester)
und schheßhch nach Berhn, wo er von 1901—1906 hauptsächhch Sanskrit,
Avestisch und Tibetisch tri ^b und i. J. 1906 auf Grund der Dissertation
„Die Rezensionen des Caranavyüha" zum Dr. phil. promoviert wurde.
Auf Anregung von Prof. Pischel wurde er bald darauf zusammen mit
mir, dem damahgen Privatdozenten, zur Sichtung des Handschriften-
Materials herangezogen, welches die Turfan-Expeditionen nach Berhn ge¬
bracht hatten; und diese Zusammenarbeit mit mir ist für sein ganzes
späteres Leben entscheidend und bleibend geworden. Die Bearbeitung
der damals noch im Museum für Völkerkunde aufbewahrten Händ¬
schriften brachte es mit sieh, daß Siegling 1907, zuerst als Eleve,
später als Hilfsarbeiter, an der Indischen Abteilung des Völkerkunde-
Museums sich auch mit den Reahen der indischen und verwandter
Kulturen vertraut machen konnte. Die erste Frucht der wissenschaft-
hchen Zusammenarbeit mit mir war die der Berliner Akademie der
Wissenschaften vorgelegte Studie ,, Tocharisch, die Sprache der Indo-
skythen", SBAW 1908, p. 915—934, d. h. die Schrift, welche die erste
Kunde über zwei Dialekte einer neuen, bisher ganz unbekannten indo¬
germanischen Kentumsprache gab, deren in einer Abart der Brähmi-
Schrift geschriebenen Reste die Preußischen Turfan-Expeditionen aus
buddhistischen Klöstern im Wüstensand Zentralasiens geborgen und
nach Deutschland überführt hatten.
Als i. J. 1912 die Preußische Akademie der Wissenschaften die in
Brähmi geschriebenen Turfan-Handschriften in ihre Obhut nahm, wurde
auch Siegling als wissenschafthcher Hilfsarbeiter für die Bearbeitung
der tocharischen Spraehreste von der Akademie übernommen ; seine dort
fortgesetzten Arbeiten erlitten jedoch eine fast vierjährige Unter¬
brechung durch die Teilnahme am ersten Weltkrieg, Frühjahr 1915 bis
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Ende 1918. Erst 1920 konnte der von uns schon vor dem Kj-ieg be¬
gonnene Druck der Sammlung aller Reste des sog. A-Dialektes u. d. T.
„Tocharische Sprachreste I" veröffentlicht werden. Die folgenden Jahre
galten zunächst grammatischen und lexikahschen Arbeiten, deren Er¬
gebnisse in der ,, Tocharischen Grammatik" zum Ausdruck kamen, an
welcher außer Siegling und mir auch Prof. Wilhelm Schulze in her¬
vorragendem Maße beteiligt war. Inzwischen war i. J. 1929 Sieglings
feste Anstellung als wissenschaftlicher Beamter der Akademie mit dem
Titel ,, Professor" erfolgt. Die Jahre nach dem Abschluß der Grammatik
des A-Dialektes, die erst 1931 im Druck erscheinen konnte, waren der
Durcharbeitung der B-Texte gewidmet mit dem Ziel, auch sie in einer
Gesamtausgabe der Wissenschaft zugänglich zu machen. Aber die Auf¬
gabe war hier schwieriger als bei A, sofern sich unter den B-Texten eine
große Anzahl von Einzelblättern und Blattfragmenten befand, die die
einzigen Vertreter einer Handschrift waren und deren Inhalt durch
schlechte Erhaltung der Blätter oft schwer verständlich blieb, während
fortlaufende Texte nur spärlich nachweisbar waren. Wir beschlossen
daher, zunächst nur eine Sammlung inhaltlich zusammenhängender
Texte herauszugeben und diese nach dem Vorgang von S. Levi ,, Frag¬
ments de Textes Koutcheens", Paris 1933, zugleich mit Übersetzung und
Glossar zu versehen, um damit einen gemssen Ersatz für die vorläufig
noch fehlende B-Grammatik zu schaffen. Trotzdem standen wir bereits
in der Mitte des zweiten Weltkrieges, bis mir Siegling das Manuskript
der Udänälahkära-Fragmente in Sprache B übersenden konnte, und
sein allzu früher Tod hat die für das Kriegsende geplante gemeinsame
Schlußrevision des Manuskriptes unmöglich gemacht; ich mußte die
Ausgabe des Werkes, das erst im Sommer 1949, also 2^4 Jahre nach
Sieglings Tod, erscheinen konnte, allein übernehmen.
Siegling war eine äußerst skeptische Natur, und die wissenschaftliche
Zusammenarbeit mit ihm war nicht leicht, zumal da es sich um die gra¬
phische, grammatische und lexikalische Erschheßung einer bis dahin
ganz unbekannten Sprache handelte. Aber er war auch von erstaunlicher
Akribie, und er hat in unermüdhcher Sorgfalt wie ein zweiter Ibscher
durch Zusammensetzung kleiner und kleinster Blattpartikeln wieder
viele lesbare Blätter geschaffen. Es ist auch ganz und gar Sieglings
Verdienst, daß die teilweise recht gebrechlichen Papierfragmente schön
montiert, unter Glas gesichert aufbewahrt und benutzt werden können.
Siegling hat freilich auch den Schmerz erleben müssen, daß er sich
wegen des Bombenkrieges von seinen geliebten Originalen trennen mußte,
aber es ist ihm glücklicherweise das Wiedersehen mit diesen auf dem
Hin- und Rücktransport schwer beschädigten Handschriften erspart
gebheben.
Wir hatten seiner Zeit von aUen tocharischen Handschriften der
Berhner Sammlung gleich nach ihrer Montierung gemeinsam Trans¬
kriptionen gemacht und diese im Laufe der Jahre wiederholt mit den
Originalen verglichen. Siegling hatte sich durch die immerwährende
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Beschäftigung mit den Handschriften allmähhch eine solche Sicherheit
im Lesen der verschiedenartigsten Brähmi-Typen erworben, daß er auch
schlecht erhaltene Silbenzeichen aus ihren Konturen zu erkennen ver¬
mochte. So kam es, daß er auch für das Ehepaar LtroERS bei der Be¬
arbeitung der Sanskrit-Handschriften aus Turfan ein gern gesehener
Amanuensis wurde. So kam es insbesondere, daß die Berhner Akademie
der Wissenschaften nun in den sauber und bildschön geschriebenen
Transkriptionen von Sieglings Hand, die während des Krieges zum
großen Teil nochmals von ihm abgeschrieben wurden, jetzt eine Ab¬
schrift des Archetypus besitzt, die im Verein mit der von mir selbst an¬
gefertigten als vollwertige Grundlage für die noch ausstehende Ausgabe
der B-Texte anzusehen ist.
Ich hatte damit gerechnet, daß mir Siegling dereinst den Nachruf
schreiben würde. Es ist anders gekommen, und ich muß nun versuchen,
die gemeinsame Arbeit allein zu Ende zu führen. Ob es mir noch ge¬
lingen wird, steht dahin, aber so viel steht fest, daß bei jeder Ausgabe
von Tocharischen Texten der Berliner Sammlung der Name Sieglings
als Mitherausgeber nicht fehlen darf.
Ernst Boerschmann (1873—1949)
Von Fbitz Jägeb, Hamburg
Der am 30. April 1949 in Bad Pyrmont erfolgte Tod von Professor
Ernst Boebschmann bedeutet für die deutsche China-Wissenschaft
einen schweren Verlust : mit seinem Namen wird für immer die von ihm
begründete und zu hohem Ansehen gebrachte Erforschung der chine¬
sischen Baukunst verbunden bleiben. Der Lebensgang des Dahin¬
geschiedenen verlief so abweichend von der akademischen Schablone,
daß er wohl eine etwas eingehendere Darstellung verdient.
Am 18. Februar 1873 als Sproß einer alten ostpreußischen Famihe in
Memel geboren, besuchte er das humanistische Gymnasium seiner Vater¬
stadt, das er 1891 mit dem Reifezeugnis verließ, um sich hierauf an der
Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg dem Studium des Hoch¬
baufaches zu widmen. Nach bestandener Schlußprüfung war er zunächst
von 1896—1901 in verschiedenen Ämtern der preußischen Hochbau- und
Mihtärverwaltung als Regierungsbauführer tätig; unterbrochen wurde
diese Tätigkeit durch die Ableistung des einjährigen Dienstjahres in
Karlsruhe. Entscheidend für die ganze Zukunft Boerschmanns sollte
dann der Umstand werden, daß er 1902 als Bauinspektor zu der ostasia¬
tischen Besatzungsbrigade nach China versetzt wurde. Die großartige, in
sich geschlossene Kultur und Formenwelt des Ostens, wie sie sich gerade in
seinen Baudenkmälern offenbart, schlug den empfänghchen Geist des
jungen Baumeisters derart in Bann, daß er beschloß, die planmäßige
Erforschung der chinesischen Baukunst zu seiner weiteren Lebens¬
aufgabe zu machen. Mit diesem Entschluß kehrte er 1904 in die Heimat
zurück und wußte es hier durch Vermittlung einiger weitblickender Für¬
sprecher zu erreichen, daß die zur Durchführung seiner architektonischen
Studien in China erforderhchen Geldmittel vom deutschen Reichstag in
öffentheher Sitzung bewilhgt wurden. So konnte er, offizieU der deutschen
Gesandtschaft in Peking als wissenschafthcher Beirat zugeteilt, im
August 1906 die Ausreise nach Ostasien antreten, wobei er diesmal den
Weg über Amerika und Japan wählte. In den folgenden drei Jahren
durchzog der von seiner Aufgabe begeisterte Forscher 14 von den 18 Pro¬
vinzen des alten China und brachte auf seinen ausgedehnten Reisen, die
sich vom Wu-t'ai-schan im Norden bis zum Heng-schan im Süden, vom
Omi-schan im Westen bis zur Insel P'u-t'o-schan im Osten erstreckten,
ein erstaunhch reichhaltiges Material an photographischen Aufnahmen,
Skizzen, Grundrissen von Tempeln, Pagoden, Grabanlagen und anderen
Kultbauten zusammen. Nach seiner Rückkehr machte sich Boersch-