DIE FUNKTION DES ZITATES IN DER RABBINISCHEN TRADITIONSLITERATUR'
von Arnold Goldberg, Freiburg i. Br.
Die uns vorliegende rabbinische Traditionsliteratur (,,Talmud und Midrasch")
enthält kein einziges persönliches Werk. Vielmehr sind alle größeren Werke und
auch die kleineren Einheiten darin Sammlungen von einzelnen Traditionen, sei es
in Form von Aussagen zu bestunmten religionsgesetzlichen (halachischen) Fragen,
wie in der Mischna oder Tosefta, sei es in der Form von fiktiven oder echten Erörte¬
mngen, wie in der Gemara, sei es in der Form von Auslegungen, die in der Abfolge
der Schrift geordnet sind (sog. Auslegungsmidraschim), sei es in der Form von Ho¬
milien oder Predigten (Homilienmidrasch). Unabhängig von der Form der Anord¬
nung des Traditionsstöffes und von den Absichten, in denen die einzelnen Werke
und deren klemere Einheiten verfaßt wurden, haben fast alle gemeinsam, daß sie
fast ausschließlich aus einzelnen Zitaten bestehen.
Als Zitat im Kontext dieser Literatur kann man jede literarische Einheit bestim¬
men, die namentlich oder anonym eine in sich abgeschlossene oder auch nur frag¬
mentarische, verbale Äußemng wiedergibt. Diese Zitate sind weitgehend schriftlich
oder mündlich tradierten Werken entnommen, die für uns verloren sind. Sie haben
meist schon eine bestimmte literarische Form (Ma'ase, Midrasch, Gleichnis, Lehr¬
satz etc.). Diese Formen sind zugleich Gmndformen der Traditionsliteratur, wie sie uns vorliegt. Die vorliegenden Werke sind nur zu einem geringen Teil Kompendien
— oder kommentarhafte Sammlungen solcher Zitate (thematisch, nach Autoren
oder in der Abfolge der Schrift geordnet). Viehnehr stehen die Zitate oft in argu¬
mentativen, diskursiven größeren Zusammenhängen, die besonders in der diskursi¬
ven Sugya des Talmuds und in den kleinen Ausfühmngen der Homilien offensicht¬
lich sind. Die Zitate (= Gmndformen) sind hier zumeist größeren, komplexeren
Formen untergeordnet, deren sich der Redaktor bediente, um mittels der Zitate
auch, oder sogar vor allem, seiner eigenen Meinung Ausdmck zu verleihen. Der Re¬
daktor stellt oft implizierte oder ausdrückliche Fragen und antwortet dann mit
wenigstens einem oder mehreren Zitaten. Oder er stellt eine Behauptung auf, die
durch Zitat bewiesen wird, oder Zitate werden asyndetisch, tatsächlich aber in dis¬
kursiver Folge aneinandergereiht. Das Traditionsmotiv ist also nicht mehr die Wei¬
tergabe des Traditionsstoffes, die Tradition an sich. Vielmehr bedient sich der
Autor - Redaktor der komplexeren Einheiten des Zitates zum Zwecke der Mit¬
teilung seiner eigenen Meinung, wobei die Übereinstmimung dieser Meinung mit der
Tradition, d.h. der Meinung der Altvorderen oder „der Lehre" schlechthin, durch
1 Vgl. A. Goldberg, Entwurf einer formanalytischen Methode für die Exegese der rabbinisehen Traditionshteratur, Frankfurter judaistische Beiträge, Heft 5, 1977, S. 1 ff.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
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das Zitat offensichtlich zu sein scheint. Faktisch verzichtet der Redaktor der kom¬
plexeren Einheit auf die frei verfügbare Sprache, er wählt keine eigenen Worte, bil¬
det kaum Sätze. Er bedient sich statt dessen des Zitates. (Der verfügbaren Sprache hatten sich zuvor die Autoren der Zitate bedient.) Die Sprache des Zitierenden
(Redaktors) besteht also 1. aus den Zitaten; 2. aus formelhaften Elementen der
Einleitung, Fragestellung, Folgemng und 3. der vom Zitierenden gebildeten kom¬
plexeren Form.
Das Zitat erhält so in der Sprache des zitierenden Redaktors eine Funktion der Aussage, mittels des Zitates wird gesagt, was zu sagen ist, und auch eine unterge¬
ordnete Funktion der Form hn Zusammenhang der komplexeren Aussage. Das
Verständnis der rabbinisehen Literatur (nicht der einzelnen Zitate!) erfordert daher über die Kenntnis der Spraehe und der Bezugssysteme hinaus eine Kenntnis
der einfachen und komplexeren Formen, deim allein diese Formen erklären die
Zusammenhänge zwischen den oft paradoxen und für den Unkundigen absurd
gereihten Zitaten.
Als Beispiel sei hier Bereshit Rabba 62 § 2 angeführt;
„a. Und Abraham verschied und starb (in gutem Greisen tum, alt und satt; Gen 25,8).
b. R. Yehuda ben Hai sagte: Die frühen Hassidim (die Frommen) wurden durch
Krankheit der Gedärme gezüchtigt, 10 und 20 Tage lang. Um zu sagen (d.h. hier¬
aus kann man lernen): die Krankheit der Gedärme läutert (den Mensehen).
c. R. Yehuda sagte: Jeder, von dem (in der Schrift) gesagt wird: er verschied, der starb an einer Krankheit der Gedärme."
Die kurze Ausfühmng besteht aus dem Text der Schrift und zwei scheinbar
kommentierenden Zitaten — tatsächlich besteht aber kein Zusammenhang zwischen
dem 1. Zitat (b.) und Gen 25,8. Auch zwischen dem 1. und 2. Zitat besteht kein
anderer Zusammenhang als der Ausdmck „Krankheit der Gedärme". Das 2. Zitat
kann zur Interpretation von Gen 25,8 dienen, es bietet eine Worterklämng an, die
den Ausdmck „verscheiden" näher bestimmt. Der Redaktor kommt lediglich mit¬
tels dieser Zitate zu Wort. Die Reihung der Zitate ist paradox und muß umgestellt
werden: Verscheiden bedeutet Krankheit der Gedärme (R. Yehuda); Krankheit der
Gedärme ist der Tod der Frommen (R. Yehuda ben Hai); „Abraham verschied" be¬
deutet also, daß er an einer Krankheit der Gedärme, und dies heißt, den Tod der
Frommen starb (und nicht etwa den sanften Tod, den Gen 25,8 auszusagen
scheint). Der paradoxen Reihung entspricht hier die unerwartete Deutung des
Schriftverses. Das erste Zitat hat überhaupt nichts mit dem Schriftvers zu tun und
bietet aueh nichts zu dessen Verständnis. Es ist sinnvoll erst in Verbindung mit
dem zweiten Zitat. Keines der beiden Zitate könnte für sich aussagen oder bedeu¬
ten, was schließlich beide Zitate zusammen im Zusammenhang mit Gen 25,8 aus¬
sagen. Die Fortsetzung des Textes in Bereshit Rabba gibt dieser paradoxen Deutung von Gen 25,8 ihren Sinn; sie,handelt vom Tod des Frommen im allgemeinen.
SINGEN UND EKSTATISCHE SPRACHE IN DER FRÜHEN
JÜDISCHEN MYSTIK'
von Karl-Erich Grözinger, Frankfurt aM.
Die frühen jüdischen Merkava- und Hekhalotmystiker haben eine Literatur hin¬
terlassen, die in besonderem Maße reich an Hymnen und hymnologischen Aussagen
ist, wofür bislang nur allgemeine religionsphänomenologische Erklämngen wie die
Steigemng des Numinosen, das in entsprechenden Hymnen zum Ausdmck komme
oder die Herbeifühmng der Ekstase durch rhythmische Litaneien u.ä. gegeben wur¬
den. Das Vorhandensein einer „theoretisch unterbauten Mystik des Gebetes" wird von Scholem für diese Texte geradezu bestritten.
Demgegenüber lassen m.E. aber die eigenen Aussagen der Texte ein einigermaßen
klar umrissenes sangesmystisches Konzept erkennen, das eine Art Sangespleroma
(1), einen vom Gesang durchwalteten Kosmos (2) eine hymnische unio mystica (3)
und Tendenzen einer mystischen Transfiguration des Mystikers mit starken Sanges¬
motiven (4) kennt. Damit soll nicht gesagt werden, die Merkavamystik sei Sanges¬
mystik, aber doch, daß sie eme ausgeprägte sangesmystische Komponente besitzt,
die allenthalben zum Vorschein kommt.
1. DAS HIMMLISCHE SANGESPLEROMA
Die himmlische Thronwelt, das Pleroma der Merkavamystik, ist eine Welt voller
Gesang, eine Welt, deren Zeit in gesungenen Liturgien einherschreitet und deren
Raum gleichsam aus Bausteinen des Gesanges errichtet ist. Sänger, Jubler, Lied-
schmetterer und andere mehr, die geradezu zu Hypostasen aller Arten von Gesang
geworden, sind neben Feuer und Wind unverzichtbare Requisiten des Aufbaues der
Thronwelt*, insbesondere in emem Text, in dem die hmiinlischen Hallen als inein¬
ander verschlungene Bauwerke aus singenden Thronen und aufstiebenden Sanges¬
funken erscheinen'. Damm heißt Gott schlechthin „Herrlicher in den Kammern des
Gesanges"*. Aber auch der Thron Gottes ist in Gesang gegründet, ja singt selbst zum
Ruhme Gottes', und Gott selbst ist in einen Ornat aus Gesängen gekleidet* und mit
1 Erscheint in leicht erweiterter Fassung im Joumal for the Study of Judaism, Leiden.
2 Z.B. MasHekh c.5-6 (BHM II, S. 43.45); MM Scholem § 23 (S. 112); HekhR 7,3 (BHM IH, S.89);8,4(BHM IH.S. 90).
3 MM Scholem § 6 (S. 106).
4 ebda. § 5 (S. 106).
5 MM Scholem § 32 (S. 115.116); § 4 (S. 104); HekhR 24,1 (BHM III, S. 100); 24,7 (S.102).
6 HekhR 24,1 (BHM IH, S. 101); u. vgl. G. Scholem, Jewish Gnosticism, S. 128, A 26; S. 132, A 64.
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