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Heinz Becker. inklusive Arbeit! Das Recht auf Teilhabe an der Arbeitswelt auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf

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Academic year: 2022

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Heinz Becker

… inklusive Arbeit!

Das Recht auf Teilhabe an

der Arbeitswelt auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf

Beck er

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Heinz Becker ... inklusive Arbeit

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Heinz Becker

... inklusive Arbeit!

Das Recht auf Teilhabe an

der Arbeitswelt auch für Menschen

mit hohem Unterstützungsbedarf

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Der Autor

Heinz Becker, Jg. 1953, Diplom-Sozialpädagoge, seit 1989 Bereichsleiter ASB-Tagesförderstätte in Bremen, zuvor Mitarbeit bei der Auflösung Klinik Kloster Blankenburg, Referent für Unterstützte Kommunikation mit dem BLISS-Symbol-System, seit 1992 Lehrbeauftragter Hochschule Bremen, diverse Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen. Arbeitsschwerpunkt ist die Teilhabe von Menschen mit schwersten und mehrfachen Behinderungen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2016 Beltz Juventa · Weinheim und Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim www.beltz.de · www.juventa.de Herstellung und Satz: Ulrike Poppel ISBN 978-3-7799-4412-6

(6)

Inhalt

1 Einleitung 9

2 Zeitgefängnisse 11

3 Menschen mit schwersten Behinderungen 16

4 Arbeit – eine kurze Geschichte 22

5 Teilhabe an der Arbeitswelt 31

5.1 Arbeit in der Pädagogik 31

5.2 Arbeit und Behinderung 1900 bis 1945 37 5.3 Arbeit für Menschen mit Behinderungen seit 1945 42

6 Was ist Arbeit? 58

6.1 Die Sicht des äußeren Beobachters 60

6.2 Die Sicht des inneren Beobachters:

Arbeit anthropologisch 62

6.3 Der Rechtsanspruch 67

6.4 Arbeit im Kapitalismus: wirtschaftlich verwertbar 70

6.5 Gute Arbeit 72

6.6 Aspekte arbeitsweltbezogener Teilhabe von

Menschen mit schwersten Behinderungen 73

7 Inklusion oder Teilhabe 89

7.1 Inklusion: „Budenzauber“? 90

7.2 Die Behindertenrechtskonvention und Inklusion 92 7.3 Exklusion und Inklusion als politische Kategorien 96 7.4 Inklusion in der Sondereinrichtung? 101 7.5 Nicht inklusionsfähig? oder

„Die Inklusion der Harmlosen“ 103

7.6 Wer soll das bezahlen… 104

7.7 Integration – Inklusion – Teilhabe 106

7.8 Inklusion und Arbeitswelt 108

8 Sozialraumorientierung 111

8.1 Vom Fall zum Feld 113

8.2 Sozialraumorientierung und Menschen mit

schwersten Behinderungen 116

8.3 Selbstbestimmung, schwerste Behinderung und Arbeit 124

(7)

9 Personenzentriertes Denken: Persönliche Zukunftsplanung 132

9.1 Die Ursprünge 133

9.2 Methoden und Grundsätze der Persönlichen

Zukunftsplanung 134 9.3 Persönliche Zukunftsplanung und

Teilhabe am Arbeitsleben 138

9.4 Aspekte zur PZP mit Menschen mit

schwersten Behinderungen 139

10 Das Personzentrierte Konzept 143

10.1 Die Ursprünge 144

10.2 Grundlagen 147

10.3 Tools: Handlungsgrundlagen und Richtlinien

für den Alltag 150

10.4 Verwandtes und Entferntes 155

10.5 Erziehen und Fördern – Der Erwachsenenstatus 157 10.6 Empowerment und Personzentriertes Konzept 159 10.7 Das Personzentrierte Konzept als

professioneller Habitus 161

11 Zwischenfazit: Personzentrierte Sozialraumorientierung zur

arbeitsweltbezogenen Teilhabe 164 12 Teilhabe an der Arbeitswelt von Menschen mit schwersten

Behinderungen: personzentriert und sozialraumorientiert 170

12.1 Konzept: Arbeit 171

12.2 Bildungsangebote 176

12.3 Das Personzentrierte Konzept

in der ASB-Tagesförderstätte 177

12.4 Arbeitsweltbezogene Teilhabe in der Praxis:

Personzentiert im Sozialraum 180

12.5 Begleitende Themen 194

12.6 Probleme 198

12.7 Die Zukunftsplanung 199

12.8 Perspektiven 206

13 Andere Modelle und Projekte 210

13.1 Leben mit Behinderung Hamburg:

Feinwerk und Auf Achse 210

13.2 Tagesstätten in Berlin und anderswo 212

13.3 Modell: Virtuelle Tagesstätte 214

13.4 Modell: Spagat 216

13.5 Eine andere WfbM: Bamberg bewegt 218

13.6 Unterstützte Beschäftigung: Konzept und Maßnahme 221

(8)

13.7 Modell NRW? 224

13.8 Q8 226

13.9 Citta educativa 226

14 Vorsicht Falle! 228

15 Tagesstätten müssen sich verändern –

das können sie auch 231

16 Die Verbände, Leistungsträger, Gesetzgeber 238 17 Aber warum nicht alle in die WfbM? 242 18 Auch die Mitarbeiter müssen sich verändern 248 18.1 Alte Fachlichkeit: Krankheit – Heilung – Förderung 249 18.2 Neue Fachlichkeit I: Teilhabe an Arbeitswelt 250 18.3 Neue Fachlichkeit II: Fallunspezifische Arbeit

im und am Sozialraum 251

18.4 Neue Fachlichkeit III: Personzentriertes Arbeiten 254 19 Auch der Sozialraum verändert sich 258

20 Über Utopien 260

Literatur 264

Vielen Dank! 294

(9)
(10)

1 Einleitung

Inklusion ist eine tolle Idee. „Niemand wird ausgeschlossen, alle gehören dazu.“ (Montag-Stiftung 2012, 18) So wird es ein: Es gibt keine Sonderkinder- gärten mehr, alle Kinder mit Behinderungen besuchen gemeinsam mit den an- deren die allgemeinen Kintertagesstätten. Auch die Sonder-, Förder- und Ko- operationsschulen sind aufgelöst, sogar die Gymnasien, alle Schüler und Schülerinnen lernen gemeinsam. Beim Straßenfest sitzen und feiern der BWL- Student, die Familie der syrischen Flüchtlinge, die leicht demente Dame von gegenüber, der Millionär aus der Villa am Ende der Straße, dem die Schokola- denfabrik gehört, die psychisch kranken Mitglieder der betreuten Wohnge- meinschaft und die schwerstbehinderten Bewohner der Wohngruppe zusam- men mit den anderen Bewohnern der Straße ein fröhliches Fest.

Eine tolle Gesellschaft, keiner wird mehr ausgegrenzt. Keiner? Oder gibt es doch noch Ausgrenzung in der inklusiven Gesellschaft, wie sie uns vor- schwebt?

Wie Asterix und Obelix, die in dem kleinen gallischen Dorf gegen die Rö- mer kämpfen, gibt es sie noch, die Sondereinrichtungen, die argumentativ um ihre Existenz ringen und auch in der inklusiven Gesellschaft der Zukunft dringend benötigt würden: „Werkstätten, Integrationsfirmen und Förder- stätten bleiben … auch in Zukunft unverzichtbare Angebote.“ schreibt die Bundesvereinigung Lebenshilfe (2012, 1). Dieter Basener (2012, 180) meint, dass Inklusion bedeute, „Sondersysteme nur noch dort zu unterhalten, wo sie unumgänglich sind“, nämlich in der Arbeitswelt. Auch Gudrun Cyprian be- tont, dass Werkstätten für behinderte Menschen zukünftig „in ihrer bisheri- gen Form Bedeutung behalten: Als zeitlich begrenzte Maßnahme oder für Personengruppen, die einen sehr hohen Assistenzbedarf haben.“ (in Base- ner/Häußler 2008, 72)

Schnell ist die Forderung aufgestellt, Menschen mit Behinderung sollen die Möglichkeit erhalten, am Arbeitsleben teilzuhaben. „Das Postulat wird von allen als ethisch und human gebilligt; die Verpflichtung zum Appell ist Alibi; mit der Einlösung des Anspruches wird, von Einzelfällen einer Be- schäftigung in der Werkstatt für Behinderte abgesehen, nicht gerechnet.“

stellte Ulrich Bleidick schon vor über 25 Jahren fest (1989, 154f).

Die gern skizzierte konkrete Utopie Inklusion bezieht sich, mehr oder we- niger klar benannt, auf die nicht-wirtschaftlichen Bereiche unserer Gesell- schaft: die Freizeit, die Bildung, Kultur, Breitensport. Die gesamte Arbeits- welt und damit ein, wenn nicht der zentrale Bereich der Gesellschaft, bleibt wie selbstverständlich ausgespart. Inklusion sollen wir uns „marktkonform“

(11)

nur dort denken, wo es „den Märkten“ nicht schadet (BDA 2011, 3). Men- schen mit schwersten und mehrfachen Behinderungen, mit problematischen Verhaltensweisen, mit Unterstützungsbedarfen, die von Fachleuten als hoch eingestuft werden, bleiben bei der Idee der Inklusion im Arbeitsleben außen vor.

Darum geht es in diesem Buch. Es geht um die „ökonomische und sozi- alpolitische Realität, die immer wieder in der TINA-Formel des Thatcheris- mus beschworen wird ‚There is no alternative‘. Eingeschrieben in die Köpfe großer Bevölkerungsteile sind im Rahmen dieses Denkens die Ausgrenzung von behinderten oder psychisch kranken Menschen, von Migranten, Men- schen in Altersheimen, Menschen in prekären Lebenslagen, so sehr wir dies auch bedauern, mehr oder weniger unvermeidbare Nebenfolgen der Natur- gesetze des Marktes.“ (Jantzen 2013, 4)

Aber es gibt immer eine Alternative. Diese Alternativen sollen begründet und aufgezeichnet werden. Wir brauchen einen wirklichen Paradigmen- wechsel, bei dem Inklusion nicht nur „eine romantisierende idealistische Hülse“ (Stein 2013, 8) bleibt, bei dem Menschenrechte nicht nur als Mittel zur Verbesserung der eigenen Lebenslage sondern als gesellschaftliche Vision verstanden werden. Ein Paradigma als „Gesamtheit dessen … was eine wis- senschaftliche Gemeinschaft verbindet“ (Bayertz 1981, 21) lässt, wenn es wechselt, viel „Aufräumarbeit“ übrig (Kuhn 1976, 38).

Vielleicht kann dieses Buch ein bisschen beim Aufräumen helfen.

(12)

2 Zeitgefängnisse

„Jeder ist in seiner Zeit in einem gewissen Gefängnis von Vorstellungen und angeblichen Selbstverständlichkeiten gefangen, aus dem er sehr schwer aus- brechen kann. Es ist ihm nicht möglich, gewisse Dinge zu denken, die völlig anders sind.“ Robert Jungk (1991, 303)

„Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind keine Einrichtungen in Einklang mit der BRK, weil sie Sonderwelten generieren und Teilhabe ver- unmöglichen.“ schreibt Theresia Degener (2013, 2) vom Ausschuss der Ver- einten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu ergän- zen wäre „Tagesstätten auch nicht“.

Tagesstrukturierende Einrichtungen für Menschen mit schwersten und mehrfachen Behinderungen müssen sich verändern und konzeptionell um- denken, um ihre Existenz zu legitimieren und den Anspruch aller behinder- ten Menschen auf Teilhabe an der Arbeitswelt einzulösen. Es geht um „Teil- habe am Arbeitsleben, die sich im Sinne von Inklusion nicht durch eine große Werkstatt für behinderte Menschen bestimmen lässt. Stattdessen geht es um soziale Systeme, in denen behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen arbeiten, gemeinsam Arbeiten verrichten oder arbeitsteilig tätig sind und miteinander kooperieren.“ (Theunissen/Schwalb 2009, 21) Dies uns bei Menschen mit schwersten Behinderungen oder Verhaltensproblemati- ken vorzustellen, fällt schwer.

In einem Bericht des Medizinal-Direktors Dr. K. über eine Frau, die seit ihrem dritten Lebensjahr 1931 in Anstalten lebte, ist zu lesen: „Dementspre- chend kann die nervenärztliche Beurteilung unverändert nur dahingehend lauten, dass Frau P. auch weiterhin auf einer psychiatrischen Klinik-Wach- station untergebracht bleiben muss. Nur dies dient dem Wohle des Mündels.

Eine Verlegung in ein offenes Pflegeheim kommt ebenso wenig in Frage wie etwa eine Entlassung in freie Verhältnisse. Frau P. würde sich selbst durch ihr Verhalten gefährden; sie würde alsbald gesundheitlich und sozial ver- wahrlosen. Mit der Umwelt würde es Konflikte geben. So bleibt nur die Be- treuung in dem beschützenden Milieu einer Klinik. Aller Wahrscheinlichkeit muss sie dort auch dauerhaft untergebracht bleiben.“

Dieser Medizinal-Direktor dachte 1978 im Rahmen des seinerzeit Mögli- chen und Denkbaren. Der Gedanke, Frau P. würde zehn Jahre später im Alter von über 60 Jahren mit zwei weiteren älteren Damen in eine ambulant be- gleitete Wohngemeinschaft umziehen, wo sie noch über 20 Jahre bis zu ihrem Tod 2014 gut lebte, wäre ihm 1978 völlig utopisch erschienen.

(13)

Jetzt erscheint es vielen unvorstellbar, dass Menschen mit Behinderun- gen, gar mit schweren und mehrfachen Behinderungen, außerhalb unseres beschützenden Milieus von Heimen wohnen oder gar am Arbeitsleben teil- haben, dass sie selbst entscheiden, was sie möchten, dass wir „nur“ Dienst- leister sind und nicht mehr die Experten, die wissen, wo es langgeht. Aber das Unvorstellbare entsteht nicht in der Wirklichkeit, sondern in unserem Kopf. Es fällt uns sehr schwer, gewisse Ideen unserer Zeit zu überwinden.

Robert Jungk nannte das „Zeitgefängnisse“: Wenn wir uns Teilhabe am Ar- beitsleben von Menschen mit schweren Behinderungen vorstellen wollen, kommen wir manchmal an die Mauern unserer Zeitgefängnisse. Diese Mau- ern können wir nicht gleich einreißen, aber wir müssen hier und da ein Loch hineinbekommen oder sie verschieben, um das Andere zu sehen. Diese Mau- ern sind beweglich.

Auch die Landschaft der Behindertenhilfe ist in Bewegung. Noch vor 40 Jah- ren herrschte das medizinische Denkmodell vor. Menschen mit Behinderung sind krank, meinte man, und der Arzt (und etwas später auch der Heilpäda- goge im weißen Kittel) wisse, was für diese Menschen gut sei. Am besten für diese Menschen sei es, wenn sie mit Ihresgleichen, von der Gesellschaft ge- trennt, untergebracht würden.

Dieses defizitorientierte Modell wurde seit den 1970er Jahren abgelöst durch das soziale Modell von Behinderung. Behinderung entsteht erst, wenn Menschen auf gesellschaftliche Barrieren stoßen, wenn sie ausgesondert und diskriminiert werden. Franz Christoph hat es so beschrieben: „Mein Defekt ist eine unpraktische Sache, aber Behinderung ist die Unterdrückung von Be- hinderten durch Nichtbehinderte.“ (in Jantzen 2005, 10)

Das alte psychiatrisch-medizinische Dogma ist aber noch nicht überwun- den. Im Jahre 2005, also in Zeiten der Diskussion um Integration und auch schon Inklusion (auch das Normalisierungsprinzip ist in der BRD schon seit etwa 20 Jahren bekannt) weiß ein Standardwerk der Psychiatrie zu berichten:

„Bei den schweren Oligophrenien ist die Sprachentwicklung weitgehend aus- geblieben. Es besteht völlige Bildungsunfähigkeit sowie Pflege- und/oder An- staltsbedürftigkeit.“ (Huber 2005, 580) Bei schwerer Behinderten sei „eine Dauerhospitalisierung notwendig“ (ebd., 585).

Der Wechsel vom medizinischen zum sozialen Modell ist noch immer nicht durch alle Köpfe hindurch, in der Pädagogik nicht und schon gar nicht in der Psychiatrie, da gibt es nun ein neues Modell, das Menschenrechts-Mo- dell. Menschen mit Behinderung sind keine Patienten mehr, auch keine Problemfälle, Hilfe ist kein Akt barmherziger Fürsorge, sondern sie sind in erster Linie gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger, die ein Recht haben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. (vgl. Degener 2015, 64ff)

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Der Patient1 wurde zum Klienten, manchmal auch zum Kunden, jetzt soll dieser zum Bürger werden.

Die ersten gesetzlichen Grundlagen dieses Paradigmenwechsels von der Fürsorge über die Eingliederung zur Teilhabe sind im SGB IX angelegt, bei den Institutionen und ihren Fachkräften angekommen ist er vielfach noch nicht.

Anhand großer wissenschaftlicher Paradigmenwechsel wie der Koperni- kanischen Astronomie gegen das Ptolemäische System oder der Relativitäts- theorie stellt Thomas S. Kuhn fest, dass ein neues Paradigma dann zutage treten kann, „nachdem eine normale Problemlösungstätigkeit offensichtlich versagt hatte.“ (Kuhn 1976, 87) Er beschreibt ein Paradigma als eine neue wissenschaftliche Leistung mit einer stabilen Gruppe von Anhängern, „die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten, und gleichzeitig“

offen genug sind, um Fachleute vor „alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen.“ (Kuhn 1976, 25)

Wenn also in unserem Fachgebiet das herrschende Paradigma besagt, dass Menschen aufgrund dessen, was wir Behinderung nennen, idealerweise in besonderen Institutionen leben und betreut werden, dann wird die Son- derpädagogik daran arbeiten, diese Institutionen zu verbessern, aber nicht ihre Existenz grundsätzlich hinterfragen. Wenn allerdings Probleme, The- men oder Anforderungen auftauchen, die in Sondereinrichtungen nicht ge- löst werden können, entsteht irgendwann der Gedanke, dass solche Institu- tionen nicht geeignete Plätze für behinderte Personen sind. Damit ist der Wechsel der Grundvoraussetzungen, also des Paradigmas, eingeleitet.

In der Tat stellt das Paradigma des Menschen mit Behinderung als gleich- berechtigtem Bürger die oft noch unterschwellig in alten Modellen verhaftete Fachwelt vor viele Probleme. So kann sich zwar kaum jemand dem mit dem Schlagwort „Inklusion“ nur ungenügend beschriebenen neuen Paradigma verweigern. Man beschränkt sich aber meist darauf, einen leichten zivilge- sellschaftlichen „Duft von Inklusion auf alle politischen Handlungsfelder“ zu wedeln (Becker, U. 2013, 16) und dahinter alles beim Alten zu belassen.

Alle reden vom Paradigmenwechsel – aber keiner wechselt.

Von einem neuen Paradigma, das als „theoretische und methodische Grundlage für die weitere Arbeit in der betreffenden Disziplin allgemein an- erkannt wird“ (Bayertz 1981, 20), ist unser Fachgebiet noch weit entfernt, aber hier und da ist man auf dem Weg.

1 Im Folgenden wird im Interesse besserer Lesbarkeit entweder nur die männliche oder nur die weibliche Form verwendet. Mir ist bekannt, dass es jeweils auch die andere gibt, die zwar un- genannt, aber ausdrücklich eingeschlossen ist.

(15)

Es gibt einerseits neue fachliche und persönliche Entwicklungen. Klien- ten2 stellen andere Ansprüche an Wohnen, Arbeiten, Freizeit. Spätestens mit der Behindertenrechtskonvention bestehen veränderte rechtliche Grundla- gen und Ansprüche.

Aber andererseits führen gesellschaftliche Veränderungen zu immer mehr Exklusion von immer mehr Menschen, zu neuen Formen von Behin- derung, Diskriminierung und Beeinträchtigung, zur neoliberalen Ökonomi- sierung, die das gesamte Leben der Menschen bis in die intimsten und per- sönlichsten Bereiche durchdringt.

Hier vollzieht sich ein anderer Paradigmenwechsel, der von mächtigen Institutionen betrieben wird und das Primat des kurzfristigen Profits ohne Rücksicht auf irgendwelche Folgen in vor ein paar Jahrzehnten noch un- denkbare Höhen treibt. Dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich erheblich schneller und folgenreicher für uns alle als der der „Inklusion“ und er läuft diesem konträr entgegen.

Aber auch innerhalb der Behindertenhilfe läuft die fachliche und sozial- politische Entwicklung (mal wieder) an einer Personengruppe vorbei. Es droht die Gefahr, dass Menschen mit schwersten Behinderungen in den Hei- men verbleiben, während die anderen Bewohner mit geringerem Hilfebedarf

„ambulantisiert“ werden, dass sie in den Tagesstätten3 bleiben, wenn die an- deren unterstützt beschäftigt werden. Nach wie vor wird dieser Personen- kreis oft mit einer „Beruhigungs- oder Beglückungspädagogik“ durch Bäll- chenbad, Wasserklangbetten oder „Klangschalentherapie“ (Rödler 1993, 61) abgespeist, die mit gesellschaftlicher Teilhabe und Verwirklichung sozialer Menschenrechte nichts am Hut hat. Auch nicht mit Inklusion, obwohl diese Vokabel auch in diesem Feld der Behindertenhilfe allgegenwärtig ist.

Heutige Tagesstätten tragen (ebenso wie Werkstätten und Heime) noch Merkmale Totaler Institutionen (Goffman 1973)4 in sich. Sie müssen weiter

2 Die Menschen, die unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, nenne ich hier allgemein Klienten. Der zurzeit übliche Begriff „Kunden“ suggeriert eine Kundensouveränität, die (noch) nicht gegeben ist. Otto Speck warnte schon 1999 vor dem „neuen Jargon der Käuflich- keit und Beziehungslosigkeit.“ (Speck 1999, 102)

3 Die Einrichtungen, um die es hier geht, werden unterschiedlich bezeichnet: Tagesstätten, Ta- gesförderstätten, Förder- und Betreuungsbereiche (FBB, auch FuB), Fördergruppen, heimin- terne Tagesstruktur, tagesstrukturierende Angebote… Im Folgenden wird in der Regel der Begriff „Tagesstätten“ genutzt, wenn diese Art von Einrichtung gemeint ist, unabhängig von der Trägerschaft. Es sind Einrichtungen der Tagesstruktur für Menschen, die nicht die Werk- statt für behinderte Menschen nutzen.

4 „Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.“ (Goffman 1973,11).

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überwunden werden. Ein Paradigmenwechsel ist kein Zustand, sondern ein Prozess, und wir müssen uns entscheiden, in welcher Rolle wir an diesem Prozess beteiligt sein wollen.

Klaus Dörner hat „so eine Art kategorischen Imperativ“ formuliert:

„Handle in deinem Sorgebereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Res- sourcen an Zeit, Kraft, Manpower, Liebe und Aufmerksamkeit immer beim letzten Glied in der Kette beginnst.“ (Dörner o.D., o.S.)

Es gäbe dieses Buch nicht, würde dieser Kategorische Imperativ von Klaus Dörner ebenso häufig beachtet wie zitiert: „Der Appell Dörners, bei der De- Institutionalisierung mit den ‚schwierigsten Menschen‘ anzufangen, hat zwar eine hohe Popularität, wird aber … in der Praxis kaum praktiziert.“ (Schab- lon 2010, 323)

Karin Terfloth fordert, „politisch den Weg zu bereiten, und ein deutliches arbeitsweltbezogenes Profil des FuB (Förder- und Betreuungsbereich, siehe Anm. 3, H.B.) –auch rechtlich untermauert- zu etablieren. […] Die Profilie- rung der FuB scheint unumgänglich, um inhaltlich begründet das zweite Mi- lieu für diesen Personenkreis sichern zu können.“ (Terfloth 2014, 6)

Tagesstätten müssen sich verändern. Sie müssen sich auf den Weg in den Sozialraum der Arbeitswelt machen um ihrem Auftrag unter den sich wan- delnden fachlichen und (menschen)-rechtlichen Voraussetzungen gerecht zu werden und das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit schwersten Behinderungen umsetzen (vgl. Becker, H. 2012 und 2015). So können diese Einrichtungen und die dort tätigen Fachkräfte ihren Beitrag zu einem Paradigmenwechsel leisten und gleichzeitig ihre Position in einem neu gedachten Unterstützungssystem definieren.

Dazu werfen wir zunächst einen Blick auf den Personenkreis, der auf Ta- gesstätten verwiesen wird.

(17)

3 Menschen mit schwersten Behinderungen

„Die Schwerstbehindertenfrage ist quasi die ‚Gretchenfrage‘ jeglicher Integra- tionsdiskussion.“ Otto Speck (1988, 405)

Die Nutzer von Tagesstätten haben ein großes gemeinsames Merkmal: Ihnen wird bescheinigt, nicht „werkstattfähig“ und nicht in der Lage zu sein, ein

„Mindestmaß“ an „wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ zu erbrin- gen. Dies ist eine Negativ-Auslese, aber nichts ist so unsicher wie die Auslese nach negativen Merkmalen. „Wenn wir Farben nur danach zusammenfas- sen, dass sie nicht schwarz sind, erhalten wir eine bunte Mischung. Dort fin- den wir dann rot, gelb, blau nur deswegen, weil sie eben nicht schwarz sind.“

Eine so definierte Gruppe von Menschen ist „außerordentlich heterogen, was ihre Zusammensetzung, Struktur, Dynamik, Möglichkeiten, die Gründe für ihren Zustand betrifft.“ (Wygotski 2001, 110)

Eine solche vermeintliche Gemeinsamkeit ist eine Zuschreibung, die sich aus dem Vergleich mit einer Norm ergibt und keine, die diese Personen tat- sächlich haben (vgl. Siebert 2011, 34).

Eine Vielzahl von mehr oder weniger zutreffenden Bezeichnungen für diese Personengruppe geistert durch die Fachliteratur: „Personen mit kom- plexer Behinderung“ (Barbara Fornefeld 2008) oder „komplexen Bedarfsla- gen“, mit „complex needs“, „Schwerstmehrfachbehinderungen“, „Intensiv- formen geistiger Behinderung“ oder „Minderproduktionsfähige“ (Speck 1986, 6), britisch „Profound Multiple Learning Disabilities (PMLD)“ (PMLD- Network o.D.). Saskia Schuppener (2007) bezieht mit „Menschen mit intensi- ven Behinderungserfahrungen“ das „behindert-werden“ ein, auch Theo Klauß sieht „eine qualitative Steigerung, ein deutliches Mehr an Behindert- Werden an dem Recht auf Teilhabe“ (Klauß 2011a, 17). Heinz Bach (1991, 10f) sieht auch den Pädagogen „gleichsam schwerstbehindert, weil seine re- guläre erzieherische Kompetenz in so beträchtlicher Diskrepanz zu der au- ßergewöhnlichen Erwartung steht, die er angesichts schwerster Behinderung an sich gestellt sieht.“ Auch Josef Fragner verweist auf höchste pädagogische Herausforderungen und Ansprüche. In diesem extreme Bereich könne „Pä- dagogik sich wirklich bewähren“ (Fragner 1991,42).

Trotz dieser immer wieder neuen Wortschöpfungen hat sich der alte Ter- minus „schwerst- und mehrfachbehinderte Menschen“ von Andreas Fröh-

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lich erhalten und wird im Folgenden verwendet5. Dabei ist dieser Begriff mit Tobias Bernasconi (2015, 15) „nicht als ein fest Definierter zu sehen, sondern soll auf die immer neu zu stellende Frage nach dem tatsächlichen Gegenüber verweisen.“

„Der Superlativ Schwerst- besagt lediglich, dass eine Behinderung vor- liegt, die vom Benutzer der Bezeichnung als besonders gravierend angesehen wird.“ (Fornefeld 2001, 132) Die Abgrenzung bleibt weiter unklar, das große Gemeinsame ist, dass ihre Lebenssituation „in besonderem Maße von Aus- grenzung, Ausschluss, Sonderbehandlung und Nichtwahrgenommen wer- den“ charakterisiert ist (Klauß 2010, 343). Auch wenn Definitionen nach dem Muster „Schwer geistig behindert ist ein Mensch, der entweder durch das Ausmaß seiner geistigen Behinderung oder durch zusätzliche andere Be- hinderungen nicht mehr mit den Mitteln der bestehenden Behindertenein- richtungen gefördert werden kann.“ (Bosch, G. 1978, 7) höchstens noch ver- deckt vorgenommen werden, bleibt der Begriff „eine formal-quantitative Qualifikation, die weder eindeutig ist, noch einen inhaltlich qualitativen Aus- sagewert besitzt.“ (Fornefeld 2001,132) Die Schwere einer Behinderung re- sultiert nicht direkt aus körperlichen Schäden oder Mängeln, sondern aus dem Zusammenwirken mit Bedingungen der jeweiligen Umwelt.

In Anlehnung an Georg Feuser kann festgehalten werden: Schwerstbe- hinderte Menschen gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die wir im Spiegel unserer Wahrnehmung und Wertvorstellungen als schwerstbehindert be- zeichnen (vgl. Feuser 1996). Oder Menschen mit hohem Unterstützungsbe- darf. Aber auch diese seit einigen Jahren „politisch korrekte“ und demgemäß häufig genutzte Formulierung ist eine Kategorisierung aus Expertenperspek- tive. Der Experte unterstellt einen Unterstützungsbedarf und sieht ihn als hoch an, den der Betroffene nicht bestätigen muss. Erhard Fischer (2007, 3) fragt: „Haben nicht alle Menschen mit Behinderungen einen hohen Unter- stützungsbedarf?“ und nennt es eine „euphemistische Umschreibung, die zwar mit guten Absichten eine Defizitorientierung oder gar defizitäre Grund- haltung zu vermeiden versucht, aber damit wenig aussagekräftig“ wird. Was sind Menschen, denen Experten einen hohen Unterstützungsbedarf unter- stellen, die aber keine hohe Unterstützung wünschen, die sehr zufrieden mit ihrem Zustand und Erleben sind? Sind es trotzdem „Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“, weil wir als Experten es von außen so feststellen? Un- terstützungsbedarf definiert sich vom Subjekt her, nicht von außen.

5 Der hier verwendete behindertenpädagogische und zugegebenermaßen sprachlich etwas holprige Begriff „Schwerstbehindert“ ist deutlich zu unterscheiden vom sozialhilferechtlichen Terminus „Schwerbehindert“.

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An dieser Stelle möchte ich mir eine kleine defizitorientierte Skizzierung einiger Menschen aus einer Tagesförderstätte erlauben:

Nico Meier6 (28 Jahre alt) hatte als Kind einen schweren Verkehrsunfall, seitdem ist er im Wachkoma.

Christiane Metz (32): Die Narben der Gewalt aus früher Kindheit nicht sind nur in der Psyche, sondern am ganzen Körper zu sehen. Sie zeigt viele autistische Symptome und ist die einzige aus der kleinen Aufzählung, die sprechen kann.

Sabine Schröder (21) sitzt gern in einem Sessel und beschäftigt sich mit ihren Fingern, manchmal springt sie scheinbar unvermittelt auf, schreit und lacht, läuft ein paar Schritte umher und setzt sich wieder.

Susanne Wagner (47), Trisomie 21, war vor vielen Jahren in der WfbM, hat sich dann geweigert, dorthin zu gehen. Seitdem spricht sie nicht mehr und mag nicht mehr in geschlossenen Räumen sein, besonders auf der Toi- lette muss die Tür immer offen sein.

Mesut Yildirim (25), frühkindlicher Autismus, erträgt keine Veränderung bestimmter Vorgänge im Tagesablauf, wird dann sehr massiv und aggressiv, und er ist inzwischen ein kräftiger junger Mann.

Rolf Beck (61) lebte viele Jahre in der Großanstalt Klinik Kloster Blanken- burg, hat dort immer seine Bekleidung zerrissen. Deswegen hat er nur Flü- gelhemden getragen, jahrzehntelang. Er hat sich gebissen, deswegen hat man ihm die Schneidezähne gezogen. Seit er nicht mehr in der Anstalt lebt, zer- reißt er kaum noch etwas, trägt „normale“ Kleidung, braucht aber immer ein Tuch.

Lisa Finke (32), Cerebralparese, spricht nicht, kann sich nicht selbst fort- bewegen und ihre Hände nicht einsetzen, versteht aber einiges.

Giuvanni Rodriguez (28) hat in einer WfbM-Gärtnerei gearbeitet. Als sein Betreuer Urlaub hatte, ist er den Kollegen völlig entglitten, hat randaliert, hat Autos beschädigt, andere Beschäftigte massiv sexuell belästigt. Das versucht er auch weiterhin in der Tagesstätte, sobald er sich unbeobachtet wähnt.

Fatma Özil (27) gerät mehrmals täglich in verzweifelte Erregungszu- stände, wirft sich auf den Boden, weint und schreit, wirft Stühle um und reißt sich die Kleidung vom Leibe.

Maik Janßen (26) sitzt im Rollstuhl, hat schwere Spastiken, ist blind, wahrscheinlich auch hörgeschädigt. Er äußert sich durch lautes Schreien und motorische Stereotypien.

Gerda Gabriel (52) muss viele Male täglich etwas zurechtrücken, Türen schließen, Gegenstände und Personen antippen, immer wieder alle Handtü-

6 Die Namen sind frei erfunden, die Personen nicht.

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cher säuberlich auf die Erde legen und sie wird sehr ungehalten, wenn man versucht, in diese Handlungen einzugreifen.

Aysin Özalan (21) hat eine Hemiplegie und Lennox-Syndrom, geht den ganzen Tag durch die Einrichtung, verweilt nur kurz an interessanten Orten (Glasscheiben, Mobilés, Sicherungskasten), klopft oder riecht daran, dann geht sie weiter. Oft hat sie kleine Anfälle, manchmal schreit sie tagelang im- mer wieder sehr laut.

Sandra Mertens (32) zeigt diverse Symptome aus dem autistischen Spekt- rum. Scheren, Messer oder andere spitze Werkzeuge müssen sorgsam vor ihr verborgen sein. Wenn sie sie bekommt, versucht sie sofort, sich damit schwer am Kopf zu verletzen. Manchmal schreit sie stundenlang und ausdauernd in einer kaum aushaltbaren Lautstärke und Tonhöhe, zerkratzt sich das Gesicht und bohrt die Finger tief in die Augenhöhlen.

Dennis Kornau (19) ist schwer körper- und geistig behindert. Er hat mehrmals täglich große Anfälle und lange Arme, mit denen er versucht, alles in seiner Nähe befindliche zu greifen und in den Mund zu stecken.7

Hansjörg Meyer (2009, 32) beschreibt die Erlebenswelt von Menschen mit schwersten Behinderungen: „Ein Leben voller Eindrücke. Von innen:

Schmerzen, die von irgendwoher kommen. Schmerz wird erlebt, ohne zu wissen, dass es Schmerz ist. Er ist einfach da. Genauso Wohlbefinden. … Von außen: Licht, Schatten, Dunkelheit, Formen, Farben, Geräusche, Tempera- tur, Berührungen, das Zusammenspiel von all dem. … Ein Buch wird zu ei- nem Etwas aus Form, Gewicht, Farbe und Geräusch. Ebenso ein Glas, eine Blume, ein Kopfkissen.“

Menschen mit schwersten Behinderungen

• „brauchen die körperliche Nähe, um direkte Erfahrungen machen zu können.

• Sie brauchen körperliche Nähe, um andere Menschen wahrnehmen zu können.

• Sie brauchen andere Menschen, die ihnen die Umwelt auf einfachste Weise nahebringen.

• Sie brauchen andere Menschen, die ihnen Fortbewegung und Lage- veränderung ermöglichen.

• Sie brauchen jemanden, der sie auch ohne Sprache versteht und sie zuverlässig versorgt und pflegt.“ (Fröhlich 2003, 16)

7 Natürlich haben diese Personen viel mehr Eigenschaften und Fähigkeiten. Jede von ihnen ist auf ihre Art und Weise und eine eigenständige und liebenswürdige Persönlichkeit.

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Oft führen Menschen mit schwersten Behinderungen eine Existenz „am Rande des Lebens“ (ebd., 21), die von Unsicherheit, Schmerzen und akuter gesundheitlicher Gefährdung geprägt ist. Für manchen ist „am Leben bleiben

… schon eine außerordentlich große Leistung“ (Fröhlich 2012, 12).

Menschen mit schwersten Behinderungen unterliegen mehr noch als an- dere Menschen mit Behinderungen der Gefahr der Infantilisierung. Sie leben in extremer Abhängigkeit in elementaren Bedürfnissen, so können sie häufig bei „Bedürfnissen wie zum Beispiel Hunger davon abhängig sein, ob ihr Be- treuer dies versteht und entsprechend reagiert.“ (Weingärtner 2013, 50f) Auch andere existenzielle Grundbedürfnisse wie Durst, Schmerzvermei- dung, Lageveränderung oder Bewegung werden oft nicht erkannt. Vermut- lich können viele Menschen mit schwersten Behinderungen „so gut wie nie das Gefühl haben …, vital und gesund zu sein“ (Fröhlich 2003, 21).

Sie „bringen tagtäglich unendlich viel Zeit und Geduld mit ihren Unter- stützern auf, weil ihre Form der Kommunikation nicht verstanden wird oder Dokumentationspflichten und Hygienevorschriften wichtiger sind als die di- alogische Begegnung mit dem Anderen.“ (Niedeck 2014, 47)

Basale Kommunikationswege (Schwitzen, Körperspannung, Unruhe), Hunger, Durst oder Schmerzen werden häufig nicht beachtet oder erkannt.

Oft fehlt die Möglichkeit, die eigene Situation wie die „Lage des eigenen Kör- pers, Lage von Objekten, Beziehung des Körpers zu Objekten und umge- kehrt“ aus eigener Kraft zu verändern (Fröhlich 2003, 27).

Menschen mit schwersten Behinderungen leben in der Regel bei ihren El- tern oder in stationären Wohnformen, häufig in Großeinrichtungen. Sie ha- ben keine oder mangelnde Sozialkontakte oder soziale Netzwerke, kaum Freunde oder Vertrauenspersonen außerhalb der Familie oder der Institu- tion in der sie leben (vgl. Heckmann 2012). Durch geschlechtsneutrale Klei- dung und Frisur, geschlechtsunsensible Pflege und Intimität missachtenden Umgang erleben sie sexuelle Neutralität (vgl. Ortland 2010, 210f).

Im „Normalfall“ leben sie in segregierenden Lebensumständen, in denen Wünsche nach Abwechslung, Ritualen, Strukturierung von Zeit und Raum kaum entwickelt werden können. Vieles, was für andere Menschen (auch mit Behinderung) selbstverständlich ist, wird für Menschen mit schwersten Be- hinderungen nicht einmal in Betracht gezogen. Humberto Maturana betont,

„daß man Mensch ist nur auf die Art und Weise der Menschen in den Ge- sellschaften, denen man angehört.“ (Maturana 1987, 299) So werden schwerste Behinderungen auch durch die Art der jeweiligen Gesellschaften erzeugt.

Aber der Personenkreis der Menschen, die als „schwerst- und mehrfach- behindert“ bezeichnet werden, deckt sich nicht vollständig mit denjenigen, die Tagesstätten nutzen. Hier finden wir auch Menschen mit Symptomen aus dem sogenannten autistischen Spektrum, Menschen im Wachkoma, Men-

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schen, deren Verhalten uns herausfordert oder die neben einer geistigen Be- hinderung psychische Störungen haben. Oft haben diese Frauen und Männer Verhaltensweisen entwickelt, „die für das Leben in ihrer Institution richtig sind, die aber nicht dafür geeignet sind, im Leben außerhalb des stationären Einrichtungsrahmens zu Recht zu kommen.“ (Schädler 2011, 22)

Das gemeinsame Merkmal der Nutzer von Tagesstätten ist nicht eine den Menschen innewohnende „Schwerstbehinderung“, nicht ein von Fachleuten oder Institutionen als „hoch“ bewerteter Unterstützungsbedarf, sondern die diagnostizierte „Nicht-Werkstattfähigkeit“, die sie schwerst behindert. Da- mit werden diese Menschen zur „unfertigen Person“, die durch die äußere Norm der Werkstattfähigkeit definiert ist. (Hagen 1998, 319)

Es ist eine sehr heterogene und für die Gesellschaft relativ unsichtbare Personengruppe (Seifert 2010, 387), die unter dem Licht der Anforderungen der Behindertenrechtskonvention neue Anforderungen an die Behinderten- hilfe stellt. Sichtbar werden Menschen mit schwersten Behinderungen durch Teilhabe im Sozialraum, nicht durch Beschäftigung, Bildung, Erziehung oder Förderung in der Sondereinrichtung.

Jeder Mensch ist auf jeder Stufe seines Lebens ein „hoch komplexes und kompetentes lebendes System, das für sein Lernen und seine Entwicklung im sozialen Austausch der Beziehungsvielfalt und Anerkennung bedarf.“ (Feu- ser 2012a, 12) Entscheidend für die Qualität des Lebens ist nicht die Schädi- gung an sich, „sondern die Auswirkung des Defektes auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Persönlichkeit ist jedoch eine Konstruktion des Individuums in sozialen Verhältnissen.“ (Jantzen 2003, 63)

Deswegen verlassen wir jetzt die persönliche Ebene der Menschen, die wir schwerstbehindert nennen und werfen einen Blick auf die sozialen Verhält- nisse, die sie umgeben oder eben nicht.

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4 Arbeit – eine kurze Geschichte

Arbeit adelt.

Arbeit macht das Leben süß.

Arbeit ist das halbe Leben.

Deutsche Redensarten

Was jeweils als Arbeit bezeichnet wird und was nicht ist nicht naturgegeben, sondern abhängig von geschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Faktoren. So haben sich die Formen und Inhalte dessen, was jeweils als „Ar- beit“ bezeichnet wird, „kontinuierlich gewandelt und werden sich weiter ver- ändern.“ (Willke 1999, 115) Die geschichtliche Entwicklung und Wandlung des Arbeitsbegriffs reicht von der Arbeit als mühevoller Tätigkeit der Armen und unteren Schichten, von der die Herrschenden befreit und klar getrennt sind bis zur kapitalistischen Systemlüge, dass man nur durch harte Arbeit zu Reichtum kommen könne.

Die Worte für Arbeit in europäischen Sprachen sind ihrer Wortherkunft nach meist mit Unlust, Mühsal und Anstrengung verbunden (Negt 1987, 170).

Das Wort Arbeit enthält die Wurzel „arb“ und die Ableitung „eit“. Es hat seinen Ursprung im mittelhochdeutschen „arebeit“, was Mühsal oder Not bedeutet und sich wiederum aus dem germanischen „arbm“ ableitet, ebenso wie unser Wort „arm“. Aus „arb“ wird in den slawischen Sprachen „rab“ bzw.

„rabota“, Knechtsarbeit, Frondienst (Burger 1923, 40). Die „alte Hierarchie zwischen ‚niederen‘ und ‚höheren‘ Tätigkeiten, zwischen bloß nützlichen oder notwendigen Verrichtungen und sinnerfüllten Lebensäußerungen“ schlägt sich in den meisten europäischen Sprachen in Wortpaaren wie ponos/ergon, labor/opus, labour/work, Arbeit/Werk nieder (Offe 1984, 14f). Das französi- sche Wort „traveil“ kommt vom lateinischen „tripalium“ (tripalare=quälen).

In frühzeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaften ist der Begriff ‚Arbeit‘

sinnlos, weil man die einzelnen Tätigkeitsformen noch nicht kategorial tren- nen konnte. Es gab keinen sinnvollen Gegensatz zu Arbeit (Krempl 2011, 35).

Später, in der griechischen Antike, war Arbeit Sklavenbeschäftigung. „Sie schloss diejenigen, die sie ausführten, von der Bürgerschaft, also der Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, aus.“ (Gorz 1989, 28) Die Tätigkeit der Bürger im antiken Griechenland, der polites, wurde nicht als Arbeit angesehen, dafür waren die Sklaven und die Frauen da. Die Bürger diskutierten über De-

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mokratie und Dreiecke. Wer arbeitete, war von der Teilnahme an den öffent- lichen Angelegenheiten ausgeschlossen. Muße war der würdevolle Zustand.

Nach Aristoteles ist die würdige Lebensform die der Freiheit, frei von ordi- nären Alltagssorgen. Alle, die sich den Anstrengungen des Erwerbs unterzie- hen müssen, „fallen aus diesem anspruchsvollen Katalog wirklich menschli- cher Lebensformen heraus.“ (Negt 1987, 170) Freiheit definierte sich „vor- nehmlich durch frei sein von Arbeit. Wer arbeiten musste, war nicht nur un- frei, er oder sie galt nicht als Mitglied der Gesellschaft.“ (Beck, U. 1999, 17) Somit war die einzige Möglichkeit, frei zu sein, die Versklavung anderer Men- schen. Freiheit im antiken Griechenland, der „Wiege unserer Demokratie“, setzte die Existenz einer „außermenschlichen Sklavengesellschaft“ und die Un- terdrückung der Frauen voraus (Beck, U. 1999, 17).

Diese Gedanken setzten sich im antiken Römischen Reich fort. Bei Cicero heißt es: „Alle Handwerker befassen sich mit einer schmutzigen Tätigkeit;

denn eine Werkstatt kann nichts Edles an sich haben.“

Im frühen Christentum war der Begriff „Arbeit“ zunächst ambivalent, war Segen und Fluch.

Jesus und seine Jünger waren Handwerker (Jesus war Zimmermann) und Fischer, der Gott des Christentums ist ein arbeitender Gott. Er war in den Tagen der Schöpfung fleißig tätig und übergab dem Menschen den Garten Eden, „dass er ihn bebaue und bewahrte.“ (1. Mose, Genesis 2,15)8. Als Eben- bild Gottes ist der Mensch zur Gestaltung der Welt mittels Arbeit berufen.

Nicht erst der damalige Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering meinte, dass wer nicht arbeite, auch nicht essen solle. Schon der Apostel Paulus verlangte: „Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen.“ (2. Brief an die Tessalonicher, Kap. 3, 10, man beachte den fei- nen Unterschied zwischen beiden Aussagen.)9

Andererseits ist ein wesentliches Merkmal des Paradieses, dass dort nicht gearbeitet werden musste. Wenn überhaupt eine den Garten Eden pflegende Tätigkeit durch Adam und Eva nötig war, so war sie positiv besetzt. Erst nach dem Sündenfall beginnt die menschliche Arbeit als Mühsal und göttliche Strafe. In der Bibel wird schon im 1. Buch Mose (3,17 und 19) gesagt, dass wir uns „ein Leben lang mit Mühsal nähren“ und „im Schweiße unseres Ange- sichts“ für uns zu sorgen haben. Im Psalm 90,10 steht geschrieben, dass unser Leben, wenn es gut war, bis ins hohe Alter aus „Mühsal und Beschwer“ bestehe.

8 Den Bibelzitaten liegt der Text der Zürcher Bibel zugrunde.

9 „Der biblische Fluch, daß, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle, hat sich immer nur auf die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen ausgewirkt. Eine ganze Menge von Leuten, die nicht gearbeitet haben, hat zu allen Zeiten sehr gut gegessen. Betrachtet man die Geschichte, so drängt sich sogar die Überzeugung auf, daß die Nichtarbeitenden immer viel und die Ar- beitenden immer wenig Essen haben.“ (Negt 1987, 183f)

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Im Mittelalter war das, was wir heute Arbeit nennen zwar notwendig, aber nicht erstrebenswert oder ehrenhaft. Dadurch, dass man arbeiten, sich plagen und mühen musste, gab man zur Kenntnis, dass man nicht zu den Herr- schaftsständen gehörte. Mit Mühe und Last verbundene Arbeit wurde zum Zeichen der Gottesferne (vgl. Pracht 1993, 23). „Arbeit ist unwürdige Müh- sal, Strafe, die Folge des Sündenfalls.“ (Negt 1987, 42) Die Handwerker, die etwas auf sich hielten, arbeiteten nicht, sie „werkten“ (Gorz 1989, 31). Viele Jahrhunderte gab es „eine wohl etablierte Trinität des Betens, Kämpfens und Arbeitens, wobei oratores und bellatores, die Priester und Soldaten, im gesell- schaftlichen Ansehen immer vor der Arbeit (bzw. dem Landmann) rangier- ten.“ (Willke 1999, 15) Hoch angesehen waren Menschen, die Krieg führten, über Vermögen verfügten oder dem Klerus angehörten, aber nicht die, die viel arbeiten mussten (vgl. Mutz 2001, 162).

Arbeit war „die Mühsal der Knechte und Tagelöhner“ (Gorz 1989, 31) und enthielt kein Glücksversprechen, keine utopische Dimension. „Selbst Arbeit im Mönchsgewand ... wurde als Sündenabtragung verstanden, und wo Klöster auf andere Weise reich werden konnten, durch Beraubung der Bau- ern und durch ergaunerte Stiftungen, taten sie es mit Vorliebe.“ (Negt 1987, 172) Erst die bürgerliche Gesellschaft entwickelte einen zwiespältigen Ar- beitsbegriff mit Arbeit als Ausbeutung und Selbstbefreiung.

Dies begann in den mittelalterlich-frühneuzeitlichen Städten. Dort ent- wickelte sich eine Verbindung von Arbeit und Bürgerrecht, die gegenseitige Voraussetzung des Betreibens von Gewerbe und des Rechts als Bürger. Vor der Zeit der Reformation war Arbeit nur Notwendigkeit zur Erhaltung des Lebens. Wenn das erfüllt war, entfiel die Vorschrift. „Sie trifft nur die Gat- tung, nicht den einzelnen. Wer ohne Arbeit von seinem Besitz leben kann, auf den bezieht sie sich nicht.“ (Weber, M. 1904/2006, 138f)

Die Aufwertung von „Arbeit“ vollzog sich zur Zeit und in Folge der Re- formation. Erst „Luther verankert Arbeit, und sei sie auch eine reine Qual, in der Natur des Menschen“ (Negt 1987, 42). Das Konzept „Beruf“ stammt aus der Bibelübersetzung von Martin Luther (1483-1546) „und zwar aus dem Geist der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals.“ Der Gedanke ist

„ein Produkt der Reformation.“ (Weber, M. 1904/2006, 66) Aus der Beru- fung, Gott zu dienen, machte Luther den Beruf. Arbeit war nun nicht mehr Last, sondern Berufung und göttliche Aufgabe (vgl. Schatz/Woeldike 2001, 18)10. Der Beruf wurde das, „was der Mensch als göttliche Fügung hinzuneh- men, worin er sich ‚zu schicken‘ hat“ (Weber, M. 1904/2006, 72).

10 Schatz und Woeldicke (2001) weisen darauf hin, dass Luther die „deutsche ehrliche Ar- beit“ dem „jüdischen Schmarotzertum und Wucher“ gegenüberstellte.

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„Denn Gott will keine faulen Müssiggänger haben, sondern man soll treu- lich und fleissig arbeiten, ein jeglicher nach seinem Beruf und Amt, so will er den Segen und das Gedeihen dazu geben. Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.“ (Martin Luther, zit. nach Spieler 2013, 22) „Wer nicht arbeitet soll nicht essen“ sollte nun bedingungslos und für alle gelten.

Nur demjenigen wird Gottes Gnade in Aussicht gestellt, „der durch seine tag- tägliche (mit Ausnahme des Sonntags) Arbeit unter Beweis stellt, wie fromm sein Lebenswandel ist.“ (Baecker 2002, 11)

Der Züricher Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531) betonte, „dass aus der Hand des Arbeiters Frucht und Gewächs entspringt, so wie aus der Hand Gottes bei der Schöpfung; der Arbeitende ist also äusserlich Gott ähn- licher als irgendein Wesen auf der Welt.“ (zit. nach Spieler 2013, 22) Zwingli bezog sich dabei ausdrücklich auf Handarbeit: „Also wollte ich, daß alle Christen, doch vornehmlich diejenigen, die das Wort Gottes zu verkünden haben, es halten müßten wie in der Stadt der alten Massilier, welche nieman- dem das Bürgerrecht gewähren, der nicht einer Handfertigkeit (artificii) kun- dig war. Wo solches geschehe, würde der Müßiggang, der Same alles Mutwil- lens, vertreiben und der Leib viel gesünder, langlebiger und stärker werden.“

(Zwingli nach Burger 1923, 44)

Auch der Reformator Johannes Calvin aus Frankreich (1509-1564) stellte die Arbeit ins Zentrum des irdischen menschlichen Lebens. Arbeit wird zur einzigen Möglichkeit, der ewigen Verdammnis zu entgehen. So konnte der Mensch schon im Hier und Jetzt an seinem Arbeitserfolg ablesen, ob er zu den Auserwählten gehörte (Pracht 1993, 35).

Arbeit wandelte sich von der göttlichen Strafe nach der Vertreibung aus dem arbeitsfreien Paradies zu einer Pflicht für Jedermann, beruflicher Erfolg zu einem Indikator für göttliches Wohlgefallen. Friedrich Schiller schreibt 1799 in dem Gedicht „Die Glocke“: „Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis, Ehrt den König seine Würde, ehret uns der Hände Fleiß…“.

Das hätte man 250 Jahre vorher noch nicht so gesehen. Es entstand die pro- testantische Arbeitsethik mit den „Arbeitstugenden“ wie Disziplin und Fleiß.

Dieses asketische Lebensideal „drückt sich aus im Verzicht und Sparen und schafft so die Basis für Kapitalinvestitionen“ (Reichmann 2001, 231) und da- mit für den Kapitalismus. Mit dessen Aufstreben wurde die „Erziehung zur Arbeit“ das vordringliche Ziel des beginnenden Schulwesens.

Für bedürftige Menschen, die nicht in der Lage waren, für ihren Lebens- unterhalt selber zu sorgen, hatte dieser Paradigmenwechsel Folgen. Die Mit- telverteilung war nicht mehr nur Akt der reinen Nächstenliebe, sondern wurde mit Anforderungen an die sittliche Haltung des Empfängers verbun- den. Diese Einstellungen und Normen, die teilweise bis in unsere heutigen Alltagsvorstellungen Bestand haben, haben sich in bestimmten Kultur-

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zusammenhängen gebildet und sind weder ewig noch natürlich (vgl. Grampp et al. 2010, 28; Weber, M. 1904/2006).

Bis ins 19. Jahrhundert war der Begriff „Arbeit“ noch keine allgemeine Bezeichnung für die verschiedensten beruflichen Tätigkeiten und Ämter.

Erst im Kapitalismus, als sich Arbeit vom zünftigen Handwerk und der feu- dalen Abhängigkeit löste, als Arbeitskraft zur Ware wurde, entstand ein abs- trakter Begriff von Arbeit (vgl. Senghaas-Knobloch 2005, 55ff), der etwa mit unserer heutigen „Alltagsvorstellung“ übereinstimmt. Diese Vorstellung ist von der kapitalistischen Produktion geprägt und meint im Kern, dass Arbeit ist, was wirtschaftlich verwertbar, d.h. profitabel und auszubeuten ist. „Es ist die kapitalistische Eigentümergesellschaft, die ‚Arbeit‘ schlechthin der Ver- marktung zugänglich macht und damit die Kategorie Arbeit überhaupt erst in die Welt setzt.“ (Senghaas-Knobloch 2005, 58)

Den Gipfel erlangte dieses kapitalistische Paradigma in der Zeit des Nati- onalsozialismus. Der Selektion von Menschen nach dem Kriterium der Ver- wertbarkeit ihrer Arbeitsleistung entsprach eine gesamtgesellschaftlich ver- breitete und propagierte Deutung des Arbeitsbegriffs. Arbeit war das Kriterium, was über Inklusion bzw. Exklusion aus der „Volksgemeinschaft“

entschied. Wie die Rassenideologie ist auch das Arbeitsethos des Nationalso- zialistischen Staates nicht dessen eigene Erfindung, sondern hatte zum Teil jahrhundertealte Vordenker (vgl. Hafeneger 1988).

In der Ideologie der NSDAP als „Arbeiterpartei“ war „Arbeit“ ein zentra- ler Begriff. Bald nach der Machtübergabe wurden Gesetze wie das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ erlassen. Eingesetzte „Treuhänder der Arbeit“ ersetzten die Gewerkschaften. „Zahlreiche neue Institutionen wie der Reichsarbeitsdienst, die Deutsche Arbeitsfront, die nationalsozialistische Volkswohlfahrt oder die NS-Betriebszellenorganisationen machten den Ge- staltungsanspruch der neuen Machthaber auf diesem Gebiet deutlich.“ (Nüt- zenadel 2013, 1)

Am 26.1.1936 wurde die allgemeine dem Militärdienst vorgelagerte sechsmonatige Arbeitsdienstpflicht zunächst für alle männlichen, dann auch für alle weiblichen Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren eingeführt und damit die Arbeit militarisiert. Der „Arbeitsmann“ (bzw. die „Arbeitsmaid“) sollte zum „Soldaten der Arbeit“ erzogen werden. In der „Arbeitsarmee“

wurde der Dienst mit dem Spaten in der schwieligen Hand zum Dienst an der Volksgemeinschaft (vgl. Hafeneger 1988, 154f).

Das Arbeitsbuch, ohne das niemand beschäftigt wurde, machte eine lü- ckenlose Kontrolle der arbeitenden Menschen möglich. Wesentlicher Faktor war zunächst die Wiederbewaffnung und Aufrüstung, später dann die Kriegsproduktion. Spätestens seit 1938 fand eine massive Verfolgung von Menschen statt, die nicht arbeiten wollten oder konnten. Aus Arbeitslosen wurden „Arbeitsscheue“ und „asoziale Elemente“. Neben den Konzentra-

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tionslagern gab es ein Netz von „Arbeitserziehungslagern“ für „Arbeitsver- weigerer sowie arbeitsvertragsbrüchige und arbeitsunlustige Elemente“

(Heinrich Himmler, zit. nach BLPB o.D., o.S.). Spätestens mit dem offen- sichtlichen Scheitern der „Blitzkrieg-Strategie“ 1942 ging es um die „umfas- sende Mobilisierung des Arbeitskräftepotentials für die Kriegswirtschaft“, dazu gehören auch die „ins Reichsgebiet verbrachten über 12 Millionen Zwangsarbeiter“ und die Arbeitspflicht in den besetzten Gebieten (Nutzena- del 2013, 3). In den Konzentrationslagern entschied die Fähigkeit zur wirt- schaftlich verwertbaren Arbeit über Leben und Tod der Häftlinge. Bei der

„Vernichtung durch Arbeit“ ging es nicht in erster Linie um die Vernichtung von Menschengruppen, sondern um die maximale wirtschaftliche „Verwer- tung“ der Arbeitskraft der Häftlinge, deren Tod dann in Kauf genommen wurde. Wie auch die Rassenhygienischen Vorstellungen der Nationalsozia- listen ihre Vorläufer und Nachfolger in breiten Kreisen der bürgerlichen Ge- sellschaft hatten (und haben) so ist auch zu fragen, wie viel dieses Verständ- nisses von Arbeit wir heute noch haben. Alexander Nützenadel (2013,4) fragt nach den „langfristigen Prägungen deutscher Sozialstaatlichkeit durch den Nationalsozialismus“, nach sozialpolitischen Leitbildern, die „von der Wei- marer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit rei- chen“. Dies betrifft auch das Verständnis von Arbeit.

Nach dem 2. Weltkrieg und der Befreiung vom Nationalsozialismus erlebte die von den westlichen Siegermächten neu gegründete BRD schnell ein rasan- tes Wirtschaftswachstum. Neben dem Mythos von Ludwig Erhard als „Vater des Wirtschaftswunders“ der BRD hat sich bis heute auch der Mythos vom Ar- beitseifer und Fleiß der Deutschen als Basis dieses sogenannten Wirtschafts- wunders gehalten. Aber wesentlich bedeutsamer für die hohen Wachstumsra- ten der Wirtschaft in der BRD waren der Schuldenerlass der hochver- schuldeten jungen BRD durch 22 Staaten im Londoner Abkommen 1953, der Verzicht der ehemaligen Kriegsgegner auf Reparationszahlungen und Wei- chenstellungen der US-amerikanischen Außenpolitik (Weber, C. 2014).

Als Ende der 1960er Jahre die erste Generation von Menschen langsam erwachsen wurde, die nicht direkt in die Geschehnisse des Nationalsozialis- mus verwickelt waren, änderte sich das politische und gesellschaftliche Klima in der BRD.

Ab etwa 1965 begann ein Wertewandel. Ideale der bürgerlichen Leis- tungsethik wie Fleiß, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Respekt oder Disziplin wur- den von jungen Menschen abgelehnt und das bürgerliche Arbeitsethos ver- änderte sich.

Zu gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen, wie sie damals vielfach prognostiziert wurden, führte dieser Wandel indes nicht. Heute wünschen sich gerade junge Manager wieder „Disziplin und Respekt bei ihren Unter- gebenen“ (Spiegel 2007).

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In der DDR vollzog sich nach 1945 eine andere Entwicklung. Arbeit wurde ein gesellschaftlicher Grundwert. Sie sollte vom Zweck der Pro- fitschöpfung befreit und zur Selbstverwirklichung des Menschen weiterent- wickelt werden. Es sollte eine freie und bewusste Arbeitsdisziplin mit einer hohen Arbeitsmoral entstehen. „Die schöpferische Arbeit der sozial gleichen und hochgebildeten Arbeiter kennzeichnet die zum ersten Lebensbedürfnis gewordene Arbeit im Kommunismus.“ (Klaus/Buhr 1974, 113) Der Mensch werde „schöpferischer und planender Lenker der Produktionsprozesse“

(ebd. 114). Dazu seien eine hohe Bildung und die Fähigkeit nötig, schöpferi- sches Mitglied eines Arbeitskollektives zu sein.

Arbeit sollte in der DDR zu einer Sache der Ehre für jeden Einzelnen wer- den. Der Staat DDR, der dieses im Sinne einer sittlichen Pflicht verlangte, sorgte im Gegenzug dafür, dass jeder einen Arbeitsplatz bekommen sollte, was auch weitgehend gelang. In der Verfassung der DDR war in Artikel 24.2 festgelegt: „Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Ein- heit.“

Alle Bürger der DDR hatten dadurch das Recht auf einen Arbeitsplatz, auf gleiche Entlohnung für gleiche Arbeitsleistung, auf Mitwirkung an der Aus- arbeitung der Pläne und an der Leitung der Betriebe. Dafür war jeder Werk- tätige verpflichtet, die sozialistische Arbeitsdisziplin einzuhalten.

Die staatliche Auszeichnung zum „Helden der Arbeit“, die eng limitiert und mit bis zu 10.000 Mark sehr hoch dotiert war, wurde für besonders bahn- brechende Taten verliehen und war Ausdruck dieses Arbeitsethos, der in der Realität meist ein Arbeitsmythos blieb. Menschen, die nicht arbeiten wollten, galten schnell als „arbeitsscheu“ und kamen in Konflikt mit dem Strafgesetz- buch der DDR11.

„Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch ver- steht.“ prophezeite Hannah Arendt (1960/2010, 13) in den 1950er Jahren.

Der Gedanke, dass der Kapitalismus die Arbeit abschaffen könnte, beschäf- tigte Sozialwissenschaftler immer wieder.

Besonders in Krisenzeiten oder Zeiten neu aufkommender Technologien und Produktionsmittel wurde das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ mit unter- schiedlichen Prognosen und Lösungsvorschlägen vorhergesagt (z.B. Beck, U.

1996 und 1999, Rifkin 1996). Die Vorhersage von Jeremy Rifkin aus den frü-

11 Strafgesetzbuch der DDR, §249,1: „Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, dass er sich aus Arbeitsscheu einer geregel- ten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf andere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurtei- lung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.“

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hen 1990er Jahren, dass „die industrielle ‚Massenbeschäftigung‘ in allen ent- wickelten Ländern der Welt der Vergangenheit angehören“ werde (Rifkin 1996, 17), hat sich nur bedingt als richtig erwiesen. Ein großer Teil dieser industriellen Massenproduktion ist inzwischen lediglich aus unserem Blick- feld verschwunden und findet unter erbärmlichen Bedingungen in Asien und Afrika oder zuhause vor dem PC als „clickworking“ statt. Nicht bewahrheitet hat sich, dass, wie Rifkin und andere vermuteten, Arbeit an Bedeutung für die Gesellschaft verliere, weil die Computer und Roboter die Menschheit ar- beitslos machten.

Nach wie vor ist Arbeit ein „zentrales konstitutives Element der sozialen Struktur unserer Gesellschaften.“ (Gurny/Tecklenburg 2013, 9) Die Frage ist nicht, ob Arbeit zentral für unsere Gesellschaft ist oder nicht, sondern wie sie organisiert ist. „Die These von der Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, trifft nicht den Kern der Sache.“ (Willke 1999, 266) Die Arbeitswelt verändert sich, und zwar so schnell, dass die Analyse nicht mehr nachkommt. Nicht verändert hat sich aber die Abhängigkeit der Arbeitnehmer von den Arbeit- gebern. So hat sich unser heutiges Alltagsverständnis von „Arbeit“ langsam entwickelt und verändert sich weiter. Wir nutzen heute den Begriff Arbeit in verschiedenen Zusammenhängen, wenn es uns betrifft. „Arbeit ist zu einer Schlüsselkategorie der heutigen Gesellschaft geworden. Wegen seines hohen Prestiges wird der Begriff Arbeit inzwischen auf alle möglichen Formen der Tätigkeit angewendet.“ (Willke 1999, 15) Es arbeiten der Politiker, der Künstler, der Philosoph, wer zu Hause kocht und putzt macht Hausarbeit, wer mit seinem Partner diskutiert macht Beziehungsarbeit, Eltern machen Erziehungsarbeit, wer Großmutter zuhause behält macht Betreuungsarbeit, wer sich erholt macht Regenerationsarbeit, wenn ein lieber Mensch stirbt, machen wir Trauerarbeit, wer zur Therapie geht arbeitet an sich selbst, an- dere arbeiten an ihren Gefühlen, im Fitnessstudio machen wir Körperarbeit und im Urlaub Erholungsarbeit usw. usf. (Liessmann 2000, Krafeld 2000).

„Erst wenn es uns gelingt, unsere unterschiedlichen Tätigkeiten des Lebens vor uns und den anderen als Arbeit zu klassifizieren, scheinen wir etwas Wertvolles und Sinnvolles zu tun.“ (Liesmann 2000, 86f)

Viele Tätigkeiten treten sowohl als Erwerbs- als auch als Eigentätigkeit auf: Kochen, Putzen, Waschen, Erziehung, Pflege. Die Tätigkeit der Haushäl- terin unterscheidet sich praktisch nicht von der der Hausfrau, das eine ist Erwerbsarbeit, das andere nicht. Ein Bauarbeiter, der eine Straße ausbessert oder ein Bergmann, der Kohle abbaut, leisten „richtige“ Arbeit. Aber auch der Schäfer, der seine Herde beobachtet, arbeitet, ebenso wie die Sekretärin, die vor dem PC sitzt. Auch der Fußballspieler, der in der Bundesliga seinen Gegenspieler im Zweikampf mit dem Ellenbogen ins Gesicht schlägt oder ei- nen Elfmeter verschießt, ist bei der Arbeit.

Aber was ist mit den Pädagogen, die eine Fortbildung über Sozialraum-

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