A 604 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 110|
Heft 13|
29. März 2013W
er heute psychisch krank wird oder einen Familienangehöri- gen hat, der an Angstzuständen, De- pressionen oder Zwängen leidet, der gerät in eine schwierige Situation.Nicht nur, weil seelische Krankheit eine große Belastung bedeutet, sondern auch, weil er sich einer Vielzahl von Helfern gegenübersieht, die ihm ihre Dienste anpreisen und deren Therapie- methoden kaum ein Insider mehr von- einander unterscheiden kann. Denn es wird viel geboten: Psychoanalyse, tie-
fenpsychologisch fundierte Psychothe- rapie, Verhaltenstherapie, autogenes Training, Gestalttherapie, Bioenergetik, Selbsterfahrung, Transaktionsanalyse, biorhythmische Behandlung, Alpha-Tie- fenentspannung, Rebirth-Meditation, Hypnose, verschiedene Formen der Gruppen- und Familientherapie. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Wenn er betucht ist und nicht ganz schwer krank, so kann er sich aussu- chen, wo diese Behandlung stattfindet:
im Rahmen eines Workshops in Süd- frankreich, in einem Sommer-Kibbuz in Norwegen, in einer Intensivgruppe auf Santorini, auf einer Kreuzfahrt im Mit- telmeer oder auch im Rahmen eines Urlaubs irgendwo, freilich unter erfah- rener psychotherapeutischer Leitung.
Ist er so schwer krank, dass eine Be- handlung in so angenehmer Umgebung ausscheidet, so wird es für ihn nicht leichter, den „richtigen Therapeuten“ zu finden. Denn er hat gelesen, dass es zahlreiche Therapeuten gibt: zunächst verschiedene Ärzte, Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Fachärzte für psychosomatische Medizin, Neurologen, Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Psy- chotherapie oder Psychoanalyse, Psy- chologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Soziotherapeuten, Milieutherapeuten,
ausgebildete oder nicht ausgebildete Psychotherapeuten verschiedenster Ausrichtung. Die Bezeichnung Psycho- therapeut ist ja nicht geschützt.
Ist er so schwer krank, dass er ver- wirrt ist oder, wie es in den Unterbrin- gungsgesetzen heißt, „dass er sich selbst oder andere gefährdet“, so redu- ziert sich plötzlich die Vielfalt der mögli- chen Therapien und der Therapeuten, und er wird von seinem Hausarzt in das nächstgelegene psychiatrische Kran- kenhaus mit Versorgungsauftrag einge-
liefert, das verpflichtet ist, ihn aufzu- nehmen und zu behandeln. Gegenüber diesem Krankenhaus entlädt sich dann oft die Empörung der Familie, der Nachbarn, und oft manch anderer The- rapeuten, die mit dem Patienten „stark mitfühlen“, der jedoch aufgrund der Schwere seines Krankheitsbildes leider ihre Behandlungsmöglichkeiten über- schreitet. So entsteht die paradoxe Si- tuation, dass gerade dann, wenn die Not am größten ist, die Helfer fehlen.
Sie sind nicht sichtbar, nicht zuständig oder weit entfernt, zum Beispiel auf Santorini. Stattdessen wird aber jenen Krankenhäusern, die die harte Arbeit der Erst- und Primärversorgung leisten, ständig geraten, was sie tun sollen.
Vielfach wird den Mitarbeitern psych - iatrischer Krankenhäuser auch Super- vision von außen angeboten, von Kolle- gen, die die alltägliche Arbeit nicht oder nicht mehr kennen. Sie werden auf zahlreiche Fortbildungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht, die viel Geld kosten und die häufig mit ihrer tägli- chen Arbeit kaum etwas zu tun haben.
Wir leben in einer Zeit des Psycho- Booms, in einer Zeit, in der jeder die Seele entdeckt hat, in einer Zeit, in der sehr Viele Therapeuten sein wollen, auch Angehörige wichtiger Berufe wie Kran- kenschwestern und Pfleger, Pädagogen,
Sonderpädagogen oder Sozialarbeiter, die eigenständige Aufgaben in ihrem gelernten Arbeitsfeld zu erfüllen haben.
Man muss sich fragen, woher diese Werteverschiebung kommt: die Entwer- tung vieler traditioneller und wichtiger Berufe und die Aufwertung aller Tätig- keiten, die sich mit der Bezeichnung Therapie oder Psychotherapie zieren.
Man kann diese Entwicklung sicherlich nicht nur als Mode abtun. Die zahlrei- chen Helfer, die auffällig und unverhoh- len für sich werben, erzeugen sicher
auch einen Bedarf, kommen aber eben- so auch Bedürfnissen entgegen. Die ar- beitsteilige Welt, die Reduktion der Fa- milie auf die Kernfamilie von Eltern und Kindern, Lebensabschnittspartnerschaf- ten, die Entwertung religiöser Bindun- gen, die Verdünnung zwischenmensch- licher Beziehungen, die hohen sozialen Ansprüche, auch die technische Ent- wicklung haben zu einer Art neuer Be- kenntnisfreude geführt. Bei dieser Do- minanz der Selbstbezogenheit gehört es dazu, sich selbst zu beobachten, über Symptome zu klagen, zu bekennen, dass man Angst hat, an Arbeitsstörun- gen leidet und sich deshalb nicht weiter- entwickeln kann. Das Ganze geschieht, jedenfalls bei vielen, in einer Situation materiellen Abgesichertseins. Diese Ein- stellung wird einem dann auch täglich von den vielen Helfern bestätigt: Allge- meine Lebensprobleme werden zu Krankheiten gemacht, Schwierigkeiten, an denen man wachsen kann, werden zu Behandlungsfällen.
Was wir brauchen, ist wieder die Zu- sammenführung erprobter Therapie- maßnahmen und die Ausgliederung je- ner, für die es keinerlei Wirksamkeits- nachweise gibt. Was wir brauchen, ist eine ärztliche Ausbildung, die notwendi- ges Spezialwissen und die Verpflichtung zur Übersicht zu vereinbaren weiß.
PSYCHO-BOOM
Alle entdecken die Seele
KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Dr. Helmut Remschmidt, Kinder- und Jugendlichenpsychiater