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Archiv "Kriegskinder: Vertrauensverlust" (10.06.2013)

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A 1196 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 23–24

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10. Juni 2013

Das Leser-Forum

Beiträge im Deutschen Ärzteblatt sollen zur Diskussion anregen. Deshalb freut sich die Redaktion über jeden Leserbrief. Wir müssen aus der Vielzahl der Zuschriften aber auswählen und uns Kürzungen vorbehalten. Leserbriefe geben die Meinung des Autors, nicht die der Redaktion wieder. E-Mails richten Sie bitte an leserbriefe@aerzteblatt.de, Briefe an das Deutsche Ärzteblatt, Ottostraße 12, 50859 Köln.

KRIEGS KINDER

Ein Kongress in Münster beschäftigte sich mit der Kindheit im Zweiten Welt- krieg (DÄ 14/2013:

„Erst im Alter wird oft das Ausmaß der Traumatisierungen sichtbar“ von Nor- bert und Adelheid Jachertz).

Die Nachkriegskinder

Auch bei den Überlegungen zum Themenkreis „Kriegskinder“ finde ich bei aller Achtung vor den vielen Untersuchungen, Befragungen und Aufzeichnungen einen großen Man- gel, der jede Form von Biografie betrifft: Wir wissen es längst, aber wir denken nicht darüber nach, dass das Leben und auch das Erleben lange vor der Geburt beginnen.

Bei der Schwangerenberatung müs- sen wir immer wieder darauf hin- weisen, dass das ungeborene Kind schon ab der 12. Schwangerschafts- woche in der Lage ist, Sinnesreize aufzunehmen.

Beispiel: Meine Mutter hat mich in den letzten Monaten des Krie- ges ausgetragen und am Ende des Krieges in Berlin geboren. Natür- lich war ihr Alltag geprägt von Fliegeralarmen, Erlebnissen in Luftschutzkellern. Zuletzt ist sie nach eigenem Bekunden gar nicht mehr in den Luftschutzkeller ge- gangen mit dem Gedanken: Wenn’s mich trifft, dann soll es mich rich- tig treffen . . .

Nach meinem Umzug von Berlin in das Rhein-Main-Gebiet hörte ich an einem sonnigen Frühlingstag erst- mals wieder den Probealarm einer Sirene, ein Geräusch, das ich in meinem Berliner Leben nie gehört hatte. Mir lief es kalt den Rücken

herunter, und für einen Moment verschlug es mir die Sprache im Patientengespräch . So wirkmächtig können auch intrauterine Erlebnisse sein . . .

Zu den „Kriegskindern“ müssen wir also auch die „Nachkriegskinder“

zählen, uns aber auch fragen, wie gehen wir jetzt, tief im Frieden, mit unseren Schwangeren und Familien in dieser Gesellschaft um? Die jetzt vielerorts lebhaft diskutierten „Frü- hen Hilfen“ dürfen nicht erst nach der Geburt des Kindes beginnen.

Aber dafür haben wir ja unter den neuen Verhältnissen in der Praxis keine Zeit mehr und auch kein Geld. Na, bravo!

Dr. med. Axel Goldacker, 63456 Hanau

Vertrauensverlust

Die Traumata der Kriegskinder durch Kriegsein- und -auswirkun- gen sind nur die eine Seite der Me- daille, die andere Seite wird gern in der öffentlichen Diskussion beisei- tegeschoben, weil sie an die Wur- zeln der kollektiven Schuld rührt:

Den Verlust des Glaubens an die Glaubwürdigkeit und damit den Verlust des Vertrauens an die El- terngeneration . . . Die Forschungs- lage über die Langzeitwirkungen dieser Form der Traumatisierungen ist bisher noch eher dürftig. Frage- stellungen unter dem Aspekt der fa- milienpsychologischen Mehrgene- rationenforschung über mögliche Zusammenhänge zwischen der ge- genwärtigen gewalttätigen Jugend- delinquenz und rechtsextremisti- schen, ausländerfeindlichen Ein- stellungen und dem Verlust der ko- häsionsstiftenden Werte in den Fa- milien Nachkriegsdeutschlands dürften noch für lange Zeit tabui- siert sein. Als ich das erste Mal

1999 auf dem internationalen Kon- gress für Familientherapie in Düs- seldorf in meinem Seminar von der Opferrolle der Täterkinder zu spre- chen kam, verließen die jüdischen Teilnehmer bei der anschließenden Diskussion das Seminar. Ich erhielt die Rückmeldung von einer jüdi- schen Kollegin aus Argentinien:

„Ich vermisse einen Satz in Ihrem Vortrag: ,Ich bitte um Entschuldi- gung!‘“

Da ich es gewagt hatte, die Opfer- rolle der traumatisierten Deut- schen zu benennen, und das betraf nicht nur die Traumata durch Kriegseinwirkungen und den Ver- lust ihrer Herrenrassen- und reli- giösen Größenwahnfantasien, sondern auch an den Verlust aller norm- und kohäsionsstiftenden Werte in den Familien (siehe den NS-Film „Hitlerjunge Quex“), hat- te ich gegen das Tabu verstoßen, dass wir Deutschen, auch die Kin- der und Kindeskinder der Täterge- neration, als Angehörige eines Volkes von Kriegsverbrechern nicht über eigenes Leid zu klagen hätten . . .

Abschließend möchte ich sagen, dass es eine Verkürzung und Veren- gung des Blickfeldes bedeutet, wenn die Traumafolgen der Deut- schen lediglich aus psychoanalyti- scher Sichtweise beschrieben und erklärt werden. Der familienpsy- chologische Ansatz umfasst bei der Anamnese unter mehrgenerationa- lem Aspekt sowohl den historisch/

kulturellen als auch den politischen und gesellschaftlichen Kontext, so dass auch kollektive Bewusstseins- zustände in ihren familialen und in- dividuellen Auswirkungen mitein- bezogen werden können. Nicht das Individuum allein, sondern auch die Familie ist der Ort, an dem „Famili-

GS

E M s i k

„ o Traumatisierungens

B R I E F E

(2)

engeschichten“ zu Geschichte wer- den.

Literatur beim Verfasser

Dr. phil. Otto Felix Hanebutt, 21271 Hanstedt

Wilde Konstruktionen

In diesem Artikel soll plausibel ge- macht werden, dass Kriegsereignis- se erst im Alter sichtbar werden können beziehungsweise deren Fol- gen erst dann therapierbar wären.

Dazu werden bisherige Untersu- chungen zu Hilfe genommen. Auf einem Kongress 2005 in Frankfurt am Main und jetzt 2013 in Münster wurde das Thema zum Kongress- thema erhoben. Interessant ist, dass dieses Thema offensichtlich gerne aufgegriffen wird von analytisch orientierten Therapeuten, denn es gibt dadurch Hinweise, dass an der Psychoanalyse doch einiges dran sein müsste. Das ist aber eben gera- de nicht der Fall, und hier schon gar

nicht. Hier geht es um Deutungen, die wissenschaftlich wertlos sind, die auch jedem, der über dieses Thema nachdenkt, von vornherein unplausibel erscheinen müssen.

Es gibt keinen Hinweis, dass bei- spielsweise durch Kriegsereignisse elternlos gewordene Kinder einen psychopathologischen Lebenslauf aufweisen, im Gegensatz beispiels- weise zu den Kindern, die elternlos aufwuchsen, viele Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird deut- lich, dass die Unterschiede oft auf einem ganz anderen Feld zu sehen sind, als durch die Kriegsereignisse bedingt . . .

Festzuhalten bleibt, dass wiederbe- lebte Kriegserlebnisse kaum post- traumatische Belastungsstörungen im Sinne von ICD-10 F 43.1 her- vorrufen, jedenfalls gibt es dafür keine Hinweise, von Beweisen in wissenschaftlichem Sinne ganz zu schweigen.

Völlig unbegreiflich wird es, wenn behauptet wird, dass Kindern und Enkeln der Kriegskinder eine be- sondere Rolle zukommt. Als Kon- struktion für diese Behauptung wird angegeben, dass die traumatisierten Eltern Kindern besonders viel fami- liären Zusammenhalt geben, dazu aber einen Teil ihrer Lebensangst auf die nachfolgende Generation weitergeben.

Das sind wilde Konstruktionen, die wissenschaftlich keiner ernsthaften Prüfung standhalten.

Der Rezensent (Jahrgang 1931) hat auch jahrzehntelang keinen einzi- gen Fall erlebt, auch nicht in seiner Verwandtschaft und Bekanntschaft, der auch nur entfernt diesem Thema und diesen Behauptungen entspre- chen könnte.

Dass in deutschen Altenheimen der Zweite Weltkrieg tobt (Katja Timm), ist grober Unfug.

Prof. Dr. med. Fritz Reimer, 74189 Weinsberg

B R I E F E

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