F R SIE REFERIERT
Forderungen an die Medizin
Um den so wichtigen Gedan- kengang der grundsätzlichen Negati- vität anthropogener Umweltbela- stungen wissenschaftlich, philo- sophisch und sozial reifen zu lassen, muß der Arzt aus der immer enger werdenden Zwangsjacke seiner Sub- spezialisierung ausbrechen und den Menschen wieder unter anthropolo- gisch-holoistischer Sicht begreifen lernen. Dabei ist dieser Bewußt- seinsprozeß des kritischen Wissen- schaftlers als ebenso wichtig einzu- stufen wie die fraglosen Erkenntnis- se medizinischer, biologischer oder ökologischer Detailforschungen, die heute ohne jeden Zweifel in der La- ge sind, menschliches Leiden und Krankheit zu heilen und zu lindern.
Der Mensch aber ist nicht nur biochemische Maschine, wertfreies Objekt wissenschaftlichen For- schungsdranges oder Teil einer zu- ordnungsfähigen Risikogruppe, den man operieren, endoskopieren oder epidemiologisch als „Krankheit" er- fassen kann (physische Funktionali- tät), sondern er ist auch — und das in viel höherem Maße — lebendige Indi- vidualität im großen Zusammen- hang unserer Welt; mit Bedürfnis- sen, Wünschen und Träumen, mit Vernunft, Intelligenz und Kreativi- tät (seelische Gesundheit), wobei das Streben nach materiell gren- zenlosem Konsum — das uns unseren hohen Umweltverbrauch als unaus- weichlich aufzuzwingen scheint — eher als degenerierte Kompensation eines ausweglos erscheinenden In- suffizienzgefühls in einer technokra- tisch determinierten Welt zu inter- pretieren sein dürfte.
Das Studium der Denker und Anthropologen unserer Zeit (von Weizsäcker, Fromm, Wagner, Lo- renz, Popper, Gehlen, Jonas und an- dere), die sich in vorbildlichem Ma- ße mit diesen Aspekten der mensch- lichen Selbst- und Seinsfindung be- schäftigt haben, sollte hier im Rah- men eines ethisch-humanistischen Ansatzes den heute streng wissen- schaftlich geschulten Arzt zu einer übergeordneten Betrachtungsweise leiten können.
Wir müssen also auch als Medi- ziner auf die integrative, interdiszi- plinäre Argumentationsstufe wissen- schaftlicher Überlegungen vorgrei- fen, wenn wir eine wirklich ver- nunftsbetonte (also eine unsere Welt in ihrer objektiven Wahrheit trans- zendierende) Lösung umwelthygie- nischer Problemstellungen tatsäch- lich anstreben. So können wir es ver- meiden, in der irrigen Annahme der eigenen Unfehlbarkeit in einer Pa- thologie der scheinbaren Normalität regungslos zu verharren.
Umweltmedizin ist somit nicht auf den naturwissenschaftlichen An- satz möglicher toxischer Wirkungen spezifizierter Schadstoffe zu reduzie- ren, sondern erfordert a priori die differenzierte Auseinandersetzung des Menschen mit seiner natürlichen Lebensgrundlage, mit der Sinnhaf- tigkeit und den Zwecken seines Handelns in ihrer Gesamtheit.
Bedauerlicherweise wurden die- se Aspekte einer wirklich fruchtba- ren Diskussionsgrundlage in der Be- richterstattung vom Deutschen Ärz- tetag unter dem Thema „Umwelt und Gesundheit" ebensowenig an- gesprochen, wie die bereits oben er- wähnten Grenzprobleme der Wis- senschaften bei der Erfassung, Ein- ordnung und Bewertung potentiell toxischer, anthropogen eingetrage- ner Schadstoffe in unserer Umwelt.
Wenn der Mensch — und insbesonde- re auch der Wissenschaftler — aber seine ganze Kraft in die Erkenntnis des „Kleinen" investiert, so besteht die Gefahr, das er blind wird für das
„Große". In diesem Sinne sollte man sich eines Satzes von Carl Friedrich von Weizsäcker erinnern:
„Eine Kultur kann nicht stabil sein, deren Mittel um Größenord- nungen besser durchgebildet sind als das Bewußtsein ihrer Zwecke."
Anschrift des Verfassers:
Dr. med.
Volker Mersch-Sundermann Institut für Hygiene und Medizini- sche Mikrobiologie der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg
Theodor-Kutzer-Ufer 6800 Mannheim 1
Fehlschlag
mit Pneumokokken- Vakzinen
In einer randomisierten, dop- pelblinden, placebokontrollierten Studie untersuchten die Autoren die Wirksamkeit des 14-valenten Pneu- mokokken-Polysaccharid-Vakzins in Kapselform bei 2295 Patienten mit hohem Risiko, an einer Pneumo- kokkeninfektion zu erkranken (älter als 55 Jahre und chronische Herz-, Lungen-, Nieren- oder Leber- Krankheit, Alkoholismus oder Dia- betes mellitus). 71 Episoden nachge- wiesener oder wahrscheinlicher Pneumokokkenpneumonie oder Bronchitis traten bei 63 Patienten (27 Placebo- und 36 Vakzine-Emp- fänger) auf. Streptococcus pneumo- niae, den der Impfstoff auch abdeck- te, wurde im Zusammenhang mit 11 Infektionen in der Placebo-Gruppe und 14 Infektionen in der Vakzine- Gruppe entdeckt. Pneumokokken- Infektionen traten am häufigsten bei Patienten mit chronischer Lungen-, Herz- oder Nierenkrankheit auf.
Von den Vakzine-Empfängern, die später eine Vakzine-Typ-Pneu- monie oder -Bronchitis entwickel- ten, bildete der größte Teil der Pa- tienten keinen Anstieg der Serum- antikörper auch nur bis zum Zweifa- chen der Norm oder erhielt diesen nicht aufrecht. Die Konzentration lag nicht über 400 ng Antikörper- Nitrogen/Milliliter, obwohl die Nor- malwerte hier höher waren als bei den Personen ohne Infektion. Eine Wirksamkeit des Pneumokokken- Vakzins zur Verhinderung von Pneumonie oder Bronchitis ließ sich nicht nachweisen. Die Daten deuten darauf hin, daß chronisch Kranke mit ihrer Anfälligkeit für Infektio- nen eine gestörte Immunreaktion auf Pneumokokken-Vakzine haben können. Lng
Simberkoff, M. S. et al.: Efficacy of Pneu- mococcal Vaccine in High Risk Patients, The New England Journal of Medicine, Vol. 315 (1986) 1318-1327
Dr. Michael S. Simberkoff, Veterans Ad- ministration Medical Center, Infectious Diseases Section, First Ave. and E. 24th St., New York, NY 10010, USA
A-922 (62) Dt. Arztebl. 84, Heft 14, 2. April 1987