• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Sehr geehrter Herr Minister Blüm ..." (05.05.1988)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Sehr geehrter Herr Minister Blüm ..." (05.05.1988)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT DAS FORUM

Sehr geehrter Herr Minister . .

Dr. Norbert Blüm, Bundesmini- ster für Arbeit und Sozialordnung, hat den Ärzten einen „persön- lichen" Brief geschrieben. Die mo- derne Schreibtechnik machte es möglich. Gleichwohl — und das wird niemand anders erwarten — hat der Minister auf seinem Briefbogen je- dem Arzt den selben Text zugehen lassen. Inhalt: Eine Verteidigung des Gesundheits-Reformgesetzes mit den bekannten Argumenten.

Wie Blüms Argumente an der ärztlichen „Basis" ankommen, mag der folgende Antwortbrief an Dr.

Blüm veranschaulichen.

„Sehr geehrter Herr Minister, in Ihrem Schreiben vom 7. April 1988 an alle Deutschen Ärzte beklagen Sie mangelnde Fairness und Fehlinter- pretationen bei der Diskussion über die Strukturreform im Gesundheits- wesen. Sie erheben gegen die Ärzte den Vorwurf, mit Hilfe ihrer ,Schlüs- selgewalt' über die Kassen der Kran- kenversicherung die Kostenexpan- sion verursacht zu haben.

Sie verschweigen die wirklichen Ursachen . . .

Sie versäumen dabei, auf vielfäl- tige zusätzliche Ursachen hinzuwei- sen: Der Gesetzgeber hat seit Be- ginn der 70er Jahre zahlreiche lei- stungssteigernde Gesetze beschlos- sen. Der Versichertenkreis ist ausge- weitet worden. Die Rechtsprechung hat den Krankenversicherungen zu- sätzliche Leistungen aufgebürdet.

Die Krankenversicherungen selber haben durch Übernahme freiwilliger Leistungen für eine Kostensteige- rung gesorgt. Die demographische Entwicklung und die Arbeitslosig- keit haben zu höheren Belastungen durch die älter werdende Bevölke- rung und zu geringeren Beitragsein- nahmen geführt. Der Gesetzgeber selber hat mit dem Haushaltsbegleit- gesetz '82 einen Teil seiner wirt- schaftlichen Verpflichtung gegen- über der Rentenversicherung auf die Beitragszahler der Krankenversiche-

rung verlagert. Das Gesetz zur Fi- nanzierung des größten Ausgabepo- stens mit der höchsten Steigerungs- rate, der Krankenhauskosten, bietet keinen Anreiz zum Sparen; eine ent- sprechende Regelung ist auch in dem neuen Gesetzentwurf nicht vor- gesehen. Die zunehmende Zahl der Leistungserbringer, unter anderem die ,Ärzteschwemme`, beruht auf ei- ner falschen Bildungspolitik. Wenn die Kapazitätsverordnung an den Universitäten weniger extensiv aus- gelegt würde, hätten wir nicht eine zu große Zahl unzureichend ausge- bildeter Arzte, die aus Unsicherheit zu hohe Kosten verursachen.

Schließlich müßte das Anspruchs- verhalten der Versicherten, das bei unserem. Sachleistungssystem unge- bremst ist, durch ein Kostenerstat- tungs-/Selbstbeteiligungsverfahren in Grenzen gehalten werden.

. schieben uns die Schuld

zu

Alle diese Dinge sind in Ihrem Haus bekannt. Sie in Ihrem Schrei- ben zu verschweigen und nur den

‚Leistungserbringern' die Schuld an den Mißständen zu geben, ist unred- lich und unfair!

Die vorgesehene Pflegeversi- cherung ist sicher wünschenswert und eine soziale Notwendigkeit.

Aber sie ist im Rahmen der Gesetz- lichen Krankenversicherung eine weitere versicherungsfremde Lei- stung und verursacht zusätzliche Ko- sten. Die veranschlagte Summe von 6 Milliarden DM wird dafür sehr bald nicht mehr ausreichen. Auch werden die projektierten Kostenein- sparungen nicht erreicht werden.

Beitragssteigerungen sind die unaus- bleibliche Folge.

Und daran werden wieder die

‚Leistungserbringer' Schuld sein, insbesondere Arzte mit ihrer

‚Schlüsselgewalt'. An eine derart

‚faire' Diskussion haben wir uns in der Vergangenheit bereits gewöh- nen müssen.

Ich wünsche dem Gesundheits- wesen gute Besserung!"

Dr. med. Gerhard Gittermann, 2100 Hamburg 90

Das penetrante Gedächtnis

Wurde nicht jahrelang und mit guten Gründen darüber geklagt, daß vieles fehlerhaft und reformbedürf- tig sei in unserem Gesundheitswe- sen? Ein gutes Gedächtnis ruft in Erinnerung, was manchem lästig sein mag:

Mangelnde Selbstverantwor- tung der Versicherten ließ die Inan- spruchnahme ärztlicher Leistungen ohne einen entsprechenden Nutzen für die Erhaltung und Wiederher- stellung von Gesundheit und für die Leidensminderung ansteigen. Vie- len Ärzten schien deshalb eine Di- rektbeteiligung der Versicherten mit angemessenen sozialen Schutzzonen nötig, um das ausgeuferte An- spruchdenken zu redressieren und die individuelle Verantwortung für das kollektive Versicherungssystem zu fördern.

Beklagt wurde der unnötige Verbrauch an Medikamenten, von denen ein Großteil nur Placebo-Wir- kung zu ungebührlich hohen Kosten entfaltet. Zurecht wurde verlangt, den ausgeuferten Arzneimittelmarkt zusammenzustreichen, von den vie- len „Sumpfblüten" zu befreien und zu einer ärztlich gerechtfertigten, zugleich sozialen Verträglichkeit hinzuführen. Auch hier sollte eine angemessene und spürbare Selbstbe- teiligung der Konsumenten als wirk- sames Regulativ dienen.

Trennung von Werbung und Information

Die Arzneimittel-Industrie soll- te ihre Werbung unzweideutig von der Information der Ärzte trennen.

Reiseangebote zu Informationsta- gungen an „schönen sonnigen Or- ten" und die gegen alle gute Sitten eingerissenen „Schappi-Fortbil- dungsveranstaltungen" sollten von der Bildfläche verschwinden, wie es der Ehrencodex der Pharmaindu- strie eigentlich verlangt. Die Berufs- ordnungen legen den Ärztinnen und Ärzten entsprechende Verzichte na- he. Was in der gewerblichen Wirt- A-1252 (24) Dt. Ärztebl. 85, Heft 18, 5. Mai 1988

(2)

schaft üblich und deshalb tolerabel sein mag, ist Ärzten nicht erlaubt.

Hier muß das Bewußtsein dafür ge- schärft werden, daß die als Umrah- mung der notwendigen Informatio- nen gewährten Freundlichkeiten alle in den Produktionspreisen der ver- ordneten Medikamente ihren Nie- derschlag finden. Das zahlen unsere Patienten, direkt oder über ihre je- weilige Versichertengemeinschaft.

Der Verschleiß an Brillen, Zahnersatz, Einlagen und vielen an- deren Heilhilfsmitteln mit Konsum- eigenschaften — bezahlt von der So- zialgemeinschaft, seien es Kranken- kassen oder Beihilfestellen — sollte durch wirksame Zuzahlungen einge- dämmt und auf ein vernünftiges Maß gebracht werden.

„Taxifahrten auf Kranken- schein" sollten nachhaltig einge- schränkt und damit von den Ärzten der zwangvolle Druck zur Ausstel- lung und Begründung solcher

„Wohltaten" genommen werden.

Sie stehen sehr häufig in keinem Be- zug zu sozialen Erfordernissen.

Die ärztlichen Leistungen in Diagnostik und Therapie sollten am Stand der wissenschaftlich begrün- deten Medizin ausgerichtet sein. So sollten überflüssige und für die indi- viduelle Krankenbetreuung wertlose Laboruntersuchungen, Elektrokar- diogramme, Röntgen-Leistungen, vor allem die nur zu oft sinnlosen Wiederholungsuntersuchungen, un- terbunden werden. Dazu erschien es seit Jahren vielen Ärzten erforder- lich, den mit den geltenden Vergü- tungssystemen verbundenen Anreiz zur Mengenausweitung an die Kette zu legen. Kam dieser Anreiz vor al- lem den ökonomisch Versierten zu Nutze, so belastete er zum allgemei- nen Nachteil Würde und Ansehen der Ärzteschaft insgesamt. Die Grundlagen für eine angemessene Honorarregelung wurden so unter- miniert.

Noch immer fühlt sich die Mehr- zahl der Ärzte den Prinzipien der redlichen Krankenbetreuung mit zweckmäßigen und sparsamen Mit- teln verpflichtet. Dieser Grundsatz war schon immer in der RVO ge- setzlich festgeschrieben, galt aber (aus ethischer Begründung) auch für die sogenannten Privatpatienten, die

fast alle die Solidarhilfen einer Risi- kogemeinschaft in Anspruch neh- men.

Es war schon lange außerhalb jeden Zweifels, daß zur Erhaltung des sozialen Charakters der gesam- ten gesundheitlichen Versorgung wirksame und auch erzieherisch greifende Kontrollmechanismen für und gegen alle Beteiligten geschaf- fen werden müßten. Die jahrzehnte- lang geübten Kontrollmethoden durch Krankenkassen und Kassen- ärztliche Vereinigungen hatten sich als unwirksame Scheinlösung erwie- sen; die Abrechnungsbetrügereien haben dies öffentlich gemacht.

Teure Kampagnen der Kassen

Der Konkurrenzkampf unter den selbständigen Krankenkassen und Kassenarten wurde beklagt, weil er zu immer neuen und zumeist gesundheitspolitisch überflüssigen, objektiv wertlosen Leistungsange- boten führte, die die Ärzteschaft in Verordnungszwang brachten. Be- gleitet wird dieser „Wettbewerb"

von Werbekampagnen und aufwen- digen Aktionen zur Imagepflege und Mitgliederakquisition, wie die so- eben gestartete 60 Millionen DM teure PR-Aktion der Ortskranken- kassen belegt. Erinnert sei an „Kur- laub", fragwürdige Kuren, Heilver- fahren und reichhaltige Rehabilita- tionsangebote. Das Geschäftsgeba- ren der gesetzlichen Krankenkassen sollte schärfer kontrolliert und auch hier mehr vernünftige Sparsamkeit durchgesetzt werden.

Die Krankenhäuser sollten hin- sichtlich Bettenzahl und Liegedauer modernen Erkenntnissen der Kran- kenbetreuung angepaßt werden.

Dies zwingt zu einer Zentralisierung bestimmter Leistungsangebote und einer Verbesserung der Personal- strukturen. Die Betriebsführung mehrerer Kliniken wurde zurecht für altväterlich und ineffizient gehal- ten, weshalb ein besseres Mana- gement und Befreiung von hemmen- den Einflüssen insuffizienter Träger- Ambitionen im öffentlichen wie auch freigemeinnützigen Bereich ge-

fordert wurden. Krankenhäuser sind keine „Spielwiesen für Möchtegern- Gesundheitspolitiker"!

Die dem historisch gewachsenen deutschen Versorgungssystem an- haftende Trennung in ambulante und stationäre Krankenversorgung hatte zu dem oft beklagten „Gra- ben" zwischen beiden Bereichen ge- führt. Die Nachteile wurden trotz gegenteiliger Interessentenäußerun- gen immer offensichtlicher und drängten auf eine Lösung. Dazu wurden neben dem Ausbau des Be- legarztsystems neue Strukturen in einer „verzahnten" ambulanten und stationären gebietsärztlichen Ver- sorgung zur Diskussion gestellt, wie sie sich seit Jahren in anderen ent- wickelten Ländern bewährt haben.

Dies alles sind seit Jahren, ja schon seit Jahrzehnten bekannte, oft angesprochene, nicht selten wieder verdrängte offene Wunden in unse- rem von Sonntagsrednern gerne als

„bewährt" apostrophierten Ge- sundheitssystem.

Erinnerung an Blanks Reformversuch

Das Gedächtnis gemahnt daran, daß vor mehr als 25 Jahren der da- malige Bundesarbeitsminister Theo- dor Blank (CDU) in redlichem Be- mühen eine Reform versucht hat.

An dem Wehklagen der Interessen- tengruppen ist er gescheitert. Blanks Reform hätte der deutschen Sozial- ordnung und damit uns allen viele, seitdem offenkundige negative Ent- wicklungen erspart.

In weiteren 25 Jahren wird man hoffentlich nicht zu einem ähnlichen Resultat kommen, wenn jetzt bei den neuen Reformversuchen alle Beteiligten ihren Interessenten-Ein- satz so nachhaltig (und wieder zur Förderung des Gemeinwohls, ver- steht sich!) in die Waagschale wer- fen. Ohne tiefgreifende Reformen zur Beseitigung der Fehler und Ver- besserung der Effizienz wird aller- dings mit einem längeren Bestand der heutigen Versorgungsstrukturen nicht mehr zu rechnen sein.

Prof. Dr. med. Ulrich Kanzow 5300 Bonn 2

Dt. Ärztebl. 85, Heft 18, 5. Mai 1988 (27) A-1253

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Medi-Verbund, Hausärzteverband und die AOK Baden-Württemberg haben in Stuttgart erneut für ihren Hausarztvertrag geworben – diesmal in Anwesenheit von Bundesgesundheitsminister

Die EB gehen davon aus, dass bei einer Vereinbarung der elektronischen Kommunikation durch die Vertragsparteien „die Übermittlung (Hervorhebung durch den Verfasser) von

Für die Anreise zum Flughafen ist Ihre Fahrkarte am Tag des Abflugs sowie am vorhergehenden Tag gültig; für die Rückreise ist Ihre Fahrkarte am Ankunftstag des Fluges sowie am

Vor den Toren der oberfränkischen Festspielstadt Bayreuth bietet die KVB im Planungsbereich Speichersdorf finanzielle Förderungen für niederlassungs- willige sowie

Dazu wurden die bestehenden Förderrichtlinien im institutionellen Kinderbetreuungs- bereich um eine befristete COVID-19 Sonderförderung während des ersten Lockdowns (für den

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Mikrokopie sowie das Recht der 'Übersetzung in Fremdsprachen für alle veröffentlichten Beiträge vorbehal- ten..

Neuseeland ist in der Vergan- genheit von vielen Ländern als füh- rend in der allgemeinen Behandlung seiner Ureinwohner angesehen wor- den. Die aufgezeigten Probleme deuten heute

Alpines Steinschaf H Salzburger Landesverband für Schafe und Ziegen Braunes Bergschaf H Landes-Schafzuchtverband Tirol.