DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
DIE UBERSICHT
Die Bedeutung der Adipositas als kardiovaskulärer Risikofaktor wird seit langem kontrovers diskutiert. Neuere Untersuchungen zeigen aber, daß die Komplikationen der Fettsucht weniger durch die Körper- fettmasse als durch das Fettgewebsverteilungsmuster bestimmt wer- den. Demnach sollen Personen mit stammbetonter, androider Körper- fettverteilung ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen be- sitzen. Ein androides Fettverteilungsmuster stellt wahrscheinlich nur ei- nen Aspekt eines komplexen Stoffwechselsyndroms mit hoher athero- gener Potenz dar.
Arteriosklerose
Bedeutung von
Körperfettverteilung und Hyperinsulinämie
Hans Hauner und Ernst Friedrich Pfeiffer
ie Fettsucht des Men- schen wird heute als he- terogenes Krankheitsbild verstanden, das sich in verschiedenen Formen äußert und dem verschiedene Ursachen zugrun- de liegen. Es ist hinreichend be- kannt, daß die Adipositas mit vielen Risiken für die Gesundheit einher- geht. Neuere Befunde zeigen aber, daß zur Abschätzung des Komplika- tionsrisikos der Fettsucht eine diffe- renzierte Betrachtung ihrer Erschei- nungsformen nötig ist.
Frühere epidemiologische Un- tersuchungen, die sich mit der Bezie- hung zwischen Fettsucht und Herz- Kreislauf-Erkrankungen beschäftig- ten, hatten zu keiner einheitlichen Bewertung der Adipositas geführt und ihre Bedeutung als kardiovasku- lärer Risikofaktor oft in Zweifel ge- stellt. Dies erscheint um so überra- schender, als Übergewicht gehäuft mit anderen kardiovaskulären Risi- kofaktoren wie Hypertonie, Hyperli- pidämie, Diabetes und Bewegungs- mangel assoziiert ist. Diese Risiko- faktoren führen bekanntlich bei Nor- malgewichtigen zu einer erhöhten Inzidenz kardiovaskulärer Krank- heiten. Erst jüngere Untersuchungen
— darunter eine Folgeauswertung der Framingham-Studie (15) — konnten zeigen, daß mit zunehmendem Kör- pergewicht das Risiko für einen Myokardinfarkt oder einen Schlag- anfall steigt. Diese Beziehung war aber erst nach langen Beobachtungs- zeiträumen nachweisbar.
Eine Erklärungsmöglichkeit liegt darin, daß die verschiedenen Adipositasformen ein unterschied- liches atherogenes Risikopotential besitzen. Die ersten Untersuchungen zu dieser Fragestellung wurden von Jean Vague durchgeführt. Er be- schrieb bereits vor 40 Jahren Zusam- menhänge zwischen Körperfettver- teilung und Adipositaskomplikatio- nen und prägte dabei die Begrif- fe der „androiden" und „gynoiden"
Adipositas (31, 32). Inzwischen lie- ferten mehrere prospektive Studien Hinweise, daß weniger die absolute Körperfettmasse als vielmehr die Verteilung des Fettgewebes für das Auftreten kardiovaskulärer Kompli- kationen bestimmend ist. Unter- Abteilung Innere Medizin I (Direktor:
Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult.
Ernst Friedrich Pfeiffer), Medizinische Klinik und Poliklinik der Universität Ulm
schieden wurde dabei zwischen einer stammbetonten Adipositasform (Syn- onyme sind abdominell, android, zentral, „upper body") und einer hüftbetonten Form (Synonyme sind gluteal-femoral, gynoid, peripher,
„lower body").
In der Göteborg-Studie erlitten Männer und Frauen mit einer stammbetonten Körperfettverteilung unabhängig vom Grad des Überge- wichtes wesentlich häufiger einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall als gewichtsgleiche Personen mit hüftbetonter Fettverteilung (21, 22).
Überraschenderweise hatten nor- malgewichtige Männer mit einer ab- dominell betonten Fettverteilung das höchste, stark übergewichtige Män- ner mit einer unspezifischen Körper- fettverteilung das niedrigste Risiko.
Erst bei extremer Adipositas war das Auftreten arteriosklerotischer Kom- plikationen unabhängig vom Fettge- websverteilungsmuster (22). Als Maß der Körperfettverteilung diente in diesen Studien der Quotient aus Taillen-zu-Hüftumfang („Waist-to- Hip Ratio" = WHR). Er läßt sich mit Hilfe eines Maßbandes sehr ein- fach ermitteln. Zirka 15 bis 20 Pro- zent aller Frauen weisen ein typisch Dt. Ärztebl. 86, Heft 28/29, 17. Juli 1989 (55) A-2087
verminderte Insulinclearance Hyperinsulinämie
vermehrtes intraabdominelles Fettgewebe
Erhöhte Lipolyse
Natriumretention VLDL-Produktion Insulinresistenz
Hyr=lämie
Arteriosklerose
Typ-II-Diabetes Hypertonie
Genetische Faktoren
androides Fettverteilungsmuster mit einer WHR > 0.85 auf und besitzen damit wahrscheinlich ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.
Bei Männern ist die Bestim- mung des Fettgewebsverteilungsmu- sters (WHR) schwieriger, da die Schwankungsbreite enger ist und mögliche Unterschiede somit dis- kreter ausfallen. Bei WHR-Werten
> 1.0 liegt bei Männern eine typi- sche androide Fettgewebsverteilung vor, die wahrscheinlich mit einer er- höhten kardiovaskulären Gefähr- dung verbunden ist.
Eigene Untersuchungen an 255 Männern, die zum Ausschluß einer koronaren Herzkrankheit angiogra- phiert wurden, bestätigen diese Ver- bindung (11). Zu ähnlichen Ergeb- nissen kamen drei prospektive Stu- dien, in denen das Fettgewebsvertei- lungsmuster mittels Messungen der Hautfaltendicke an Oberarm bezie- hungsweise Stamm bestimmt wurde (6, 8, 30). In diesen Studien hatten die Personen mit einer androiden Fettverteilung ein erhöhtes kardio- vaskuläres Risiko, während diejeni- gen mit anderen Adipositasformen eine deutlich niedrigere Inzidenz aufwiesen. Da in den älteren Unter- suchungen keine Differenzierung der Adipositasformen erfolgte, wur- de die Beziehung zwischen Adiposi- tas und Arteriosklerose wahrschein- lich verwischt (2).
Mit einer stammbetonten Kör- perfettverteilung sind aber nicht nur kardiovaskuläre Krankheiten als Endpunkte des arteriosklerotischen Prozesses verbunden, sondern auch verschiedene atherogene Risikofak- toren assoziiert. So findet man bei Personen mit diesem Verteilungstyp im Vergleich zu Personen mit gyno- ider Körperfettverteilung häufiger eine Hypertonie und Störungen des Kohlenhydrat- beziehungsweise Li- pidstoffwechsel (1, 9, 13, 16, 19). Ein hoher Taillen-Hüft-Quotient besitzt zudem einen signifikanten Voraussa- gewert für die Entwicklung eines Typ-Il-Diabetes (24).
Die Abhängigkeit solcher Stoff- wechselstörungen vom Fettgewebs- verteilungsmuster läßt vermuten, daß sich die verschiedenen Fettgewebsre- gionen in ihren Stoffwechselleistun- gen unterscheiden. So finden sich
Abbildung: Pathoge- netische Zusammen- hänge zwischen an- droider Körperfettver- teilung und Arterio- sklerose
Hinweise, daß omentale Fettzellen li- polytisch aktiver, andererseits aber weniger insulinempfindlich sind als Fettzellen der Gluteal- und Femoral- region (10). Diese Unterschiede wer- den möglicherweise durch die Ge- schlechtshormone kontrolliert (17).
Eigene Untersuchungen konnten zeigen, daß Frauen mit Hirsutimus und entsprechend erhöhten Serum- androgenspiegeln nicht nur eine an- droide Fettverteilung haben, sondern darüber hinaus zusätzlich die erwähn- ten Begleitfaktoren wie Glukose- und Lipidstoffwechselstörungen und Hy- pertonie aufweisen (14). Ubergewich- tige Frauen mit Hirsutismus stellen somit eine besonders gefährdete Un- tergruppe der übergewichtigen Bevöl- kerung dar. Familienstudien legen den Schluß nahe, daß die Fettgewebs- verteilung einem starken genetischen Einfluß unterliegt, der möglicherwei- se an das Geschlechtschromosom ge- bunden ist (3).
Die derzeitigen Vorstellungen über die pathogenetischen Zusam- menhänge zwischen androider Kör-
perfettverteilung und Arteriosklero- se sind in der Abbildung zusammen- gefaßt. Es handelt sich dabei wohlge- merkt um ein hypothetisches Kon- zept, in dem noch verschiedene Punkte nicht ausreichend belegt sind.
Eine Schlüsselfunktion im pa- thophysiologischen Ablauf könnte die Hyperinsulinämie einnehmen. So wurde in vielen Untersuchungen ei- ne enge Beziehung zwischen andro- ider Adipositas und erhöhten Insu- linspiegeln oder einer herabgesetz- ten Insulinempfindlichkeit festge- stellt (10). Dies stimmt mit der Beob- achtung überein, daß Männer gene- rell nicht nur eine stärker abdomi- nell betonte Körperfettverteilung aufweisen, sondern auch höhere In- sulinspiegel haben und weniger insu- linempfindlich sind als Frauen (19).
Erhöhte Insulinspiegel gelten als Hinweis für eine Hormonresistenz (28).
Als Ursache der Hyperinsulin- ämie wird bei Personen mit andro- ider Fettverteilung eine verminderte A-2090 (58) Dt. Ärztebl. 86, Heft 28/29, 17. Juli 1989
hepatische Insulinclearance postu- liert (25). Neben dem Fettgewebe betrifft die Insulinresistenz beson- ders die Muskulatur, der eine we- sentlich größere Bedeutung für die Glukoseverwertung alS dem Fettge- webe zukommt (2). Frauen mit an- droider Körperfettverteilung besit- zen eine relativ große Muskelmasse und eine ähnliche Faserverteilung wie Männer. Das männliche Faser- muster weist dabei einen erhöhten Anteil weißer, rasch kontraktiler Fa- sern bei gleichzeitig niedrigem An- teil roter, langsamer Fasern auf. In diesem Muskeltyp besteht eine er- niedrigte Insulinempfindlichkeit be- ziehungsweise eine verminderte Glu- koseaufnahme (2, 20). Die Bezie- hung zwischen Fettgewebsvertei- lungsmuster und Muskeltyp läßt ver- muten, daß ein androides Vertei- lungsmuster nur einen Aspekt eines generalisierten metabolischen Syn- droms darstellt.
Auf der Grundlage dreier pro- spektiver Studien aus den letzten Jahren wird postuliert, daß die Hy- perinsulinämie einen Risikofaktor für kardiovaskuläre Krankheiten darstellt (7, 27, 33). Gegen einen sol- chen Zusammenhang spricht aber, daß adipöse Personen trotz einer meist massiven Hyperinsulinämie kein generell erhöhtes Arterioskle- roserisiko aufweisen. Trotz verschie- dener berechtigter Einwände gegen diese Studien besteht doch Überein- stimmung, daß erhöhte Insulinspie- gel zumindest indirekt atherogen wirksam sind: so wurde wiederholt ein enger Zusammenhang zwischen Hyperinsulinämie und Hypertrigly- zeridämie sowie eine inverse Korre- lation zwischen Insulin und HDL- Cholesterin beschrieben (12).
]Bereits Anfang der Siebziger Jahre war der Komplex aus Hyperin- sulinämie, Hypertriglyzeridämie und gestörter Glukosetolerenz als Früh- form der Zuckerkrankheit erkannt und als „Proto-Diabetes" bezeichnet worden (26). Neuere Hinweise spre- chen dafür, daß erhöhte Insulinspie- gel über eine Steigerung der renalen Natriumretention auch die Entwick- lung einer Hypertonie begünstigen können (4). Welche Wertigkeit die- ser Befund besitzt, läßt sich derzeit allerdings nicht klären. Aus verschie-
Tabelle: Das „androide Stoff- wechselsyndrom"
stammbetonte Körperfettver- teilung
Hyperinsulinämie/Insulinresi- stenz
gestörte Glukosetolerenz/
Typ-Il-Diabetes
Fettstoffwechselstörungen Hyperandrogenismus „männ- liche" Muskelfaserkomposition Hypertonie
denen Einzelbefunden wurde abge- leitet, daß die Hyperinsulinämie eine Art Bindeglied zwischen Adipositas, gestörter Glukosetoleranz und Hy- pertonie darstellt (23). Hohe Insulin- spiegel besitzen bei Gesunden sogar einen Voraussagewert für die Ent- wicklung eines Typ-Il-Diabetes (18, 29). Bei Personen mit gestörter Glu- kosetoleranz weisen eher erniedrigte Insulinspiegel auf die Manifestation eines Diabetes hin (29).
Dieses komplexe Beziehungsge- flecht verschiedener metabolischer Störungen könnte in Anlehnung an Jean Vague am ehesten als „andro- ides Stoffwechselsyndrom" bezeich- net werden, ohne daß bereits von ei- ner gesicherten Entität gesprochen werden kann Da dieser Symptomen- komplex ein erhöhtes atherogenes Risiko birgt, erscheint eine solche Begriffsbildung aber aus pragmati- schen Gründen sinnvoll, zumal sich daraus therapeutische Konsequen- zen ergeben. Einzelne Charakteristi- ka des „androiden Stoffwechselsyn- droms" sind in der Tabelle zusam- mengefaßt.
Der entscheidende Ansatz zu ei- ner wirkungsvollen Therapie ist si- cherlich die Normalisierung oder zu- mindest Reduzierung des Körperge- wichts. Erwiesenermaßen kommt es dadurch zum Absinken der Insulin- und Triglyzeridspiegel sowie zum Anstieg des HDL-Cholesterins. Eine Gewichtsreduktion führt aber auch zum Verschwinden einer gestörten Glukosetoleranz beziehungsweise
zur Verbesserung einer diabetischen Stoffwechselstörung sowie zur Er- niedrigung oder Normalisierung er- höhter Blutdruckwerte.
Obwohl Personen mit stammbe- tonter Adipositas unter einer kalo- rienreduzierten Mischkost schneller an Gewicht abnehmen als Personen mit einer hüftbetonten Fettsucht, bleibt auch nach Gewichtsreduktion das ursprüngliche Fettgewebsvertei- lungsmuster erhalten (5). Diese Er- fahrung unterstützt die Annahme, daß das Fettgewebsverteilungsmu- ster gleichsam als konstitutionelles Merkmal eines Individuums anzuse- hen ist. Bei Patienten mit androider Körperfettverteilung besteht daher wahrscheinlich auch nach Gewichts- reduktion ein erhöhtes kardiovasku- läres Risiko im Vergleich zu Perso- nen mit einer gynoiden Körperfett- verteilung. Allerdings liegen zu die- ser Thematik bisher noch keine Un- tersuchungen vor, so daß endgültige Aussagen derzeit nicht möglich sind.
Als Konsequenz dieser Ausfüh- rungen ergibt sich, Patienten mit ty- pischer androider Körperfettvertei- lung zu erkennen und frühzeitig eine Gewichtsreduktion beziehungsweise eine Prävention oder Behandlung zusätzlicher Risikofaktoren einzulei- ten. Im Gegensatz dazu scheinen Personen mit gynoider oder unspezi- fischer Körperfettverteilung kein er- höhtes kardiovaskuläres Risiko zu tragen, vorausgesetzt, daß keine massive Adipositas besteht. Sofern keine begleitenden Risikofaktoren vorliegen, läßt sich in diesem Fall keine strenge Behandlungsindika- tion ableiten. Überschüssiges Fettge- webe in der Hüftregion wäre dem- nach ungefährlich und vorwiegend ein kosmetisches Problem.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordem über die Verfasser.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Hans Hauner Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult.
Ernst Friedrich Pfeiffer Abteilung Innere Medizin I Medizinische Klinik und Poli- klinik der Universität Ulm Oberer Eselsberg 7900 Ulm Dt. Ärztebl. 86, Heft 28/29, 17. Juli 1989 (59) A-2091