DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
E
inen „dringend notwendi- gen Akt der Wiedergut- machung" nannte es Dr.med. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender der Ärztegewerk- schaft Marburger Bund. Als
„Beitrag zum sozialen Frieden"
stufte es die Gewerkschaft Öf- fentliche Dienste, Transport und Verkehr ein: Die Rede ist von der vollen Anerkennung der in der DDR geleisteten Berufszei- ten für die Angestellten des Öf- fentlichen Dienstes in Ost- deutschland von Dezember 1991 an. Die Entscheidung war nach Meinung vieler überfällig. Sie ist dennoch spektakulär: Immerhin wurde ein gültiger Tarifvertrag während seiner Laufzeit nachge- bessert.
Zur Erinnerung: Seit dem 1.
Juli 1991 gilt in den neuen Bun- desländern ein „Bundes-Ange- stelltentarifvertrag Ost", der den Beschäftigten dort 60 Prozent der entsprechenden Westgehäl- ter garantieren sollte. So voll- mundig die Angestellten-Ge- werkschaften die neue Dienst-
BAT-Ost welm ■
Verbesserung mit Schattenseiten
jahre-Regelung jetzt loben, so zurückhaltend und verklausulie- rend hatten sich einige von ih- nen seinerzeit geäußert.
Kein Wunder: Schnell war die Rede davon, daß die meisten Angestellten nicht einmal die vorgesehenen 60 Prozent des vergleichbaren West-Gehaltes erreichten, weil ihnen zurücklie- gende Dienstjahre nicht ange- rechnet wurden. Denn de facto halbierte der Tarifvertrag vom Juli alle Berufsjahre jenseits des 35. Lebensjahres.
Damit ist nun Schluß. Aus- nahmen sollen lediglich für ehe- malige Stasi-Mitarbeiter und be- stimmte Parteifunktionäre gel- ten. Wegen dieser „alten Seil- schaften" wurde auch kein Kün- digungsschutz nach westdeut-
schem Vorbild vereinbart. Die- ser umfaßt nämlich den Entlas- sungsschutz ab dem 40. Lebens- jahr nach 15jähriger Zugehörig- keit zum Öffentlichen Dienst.
Die allgemeine Freude über den Kompromiß wäre sicherlich noch größer, wenn er nicht er- hebliche Ausgaben für die Ar- beitgeber im Öffentlichen Dienst nach sich ziehen würde.
Ersten Schätzungen zufolge müssen sie für rund 1,4 Millio- nen angestellte Mitarbeiter in den neuen Ländern circa drei Milliarden DM mehr bezahlen als vorgesehen.
Und eben deswegen sollte man die Umsetzung des Kom- promisses genau verfolgen.
Denn die Detailarbeit hierzu wurde von den Tarifparteien erst einmal vertagt. In Gewerk- schaftskreisen wird aber bereits darauf hingewiesen, daß sich fi- nanziell ganz wesentlich die kor- rekte Eingruppierung der Be- schäftigten auswirken würde — und nicht nur die volle Anerken- nung der Dienstjahre. th
D
ie Rede ist neuerdings häufig von wechselnden Koalitionen. Die FDP sieht bei der Neuregelung des§ 218 Gemeinsamkeiten mit der SPD und erinnert an die sozial- liberalen Zeiten, als Liberale und Sozialdemokraten der Fri- stenlösung so nahe wie möglich kommen wollten. In Sachen Pflegeversicherung sind es Sozi- alpolitiker der CDU und CSU, die verwandtschaftliche Gefühle zur SPD aufleben lassen; christ- liche und sozialdemokratische Sozialpolitiker stimmen im we- sentlichen darin überein, die Absicherung der Pflege im Rah- men der Sozialversicherung zu regeln.
Der Witz an dem Gerede über wechselnde Koalitionen:
bei der Neuregelung des Abtrei- bungsrechts und bei der Etablie- rung einer Pflegeversicherung würde die jeweilige Koalition ge- nau gegensätzlich ausfallen.
Man tut deshalb gut daran, die Drohungen mit wechselnden
Gesetzgebung
Alles in den Mixer
Koalitionen als taktisch zu erklä- ren. Am Ende wird sich die Bon- ner Koalition einigen müssen.
Nicht ausgeschlossen ist es, daß sich die Bonner „Alt-Parteien"
zur ganz großen Koalition ent- schließen, nach dem Motto: in solchen Schicksalsfragen müssen wir zusammenstehen.
Beim § 218 deutet sich eine derart große Koalition, begrenzt auf diesen einen Zweck, bereits an, nachdem die Gesetzesvorla- gen in einem ad hoc-Ausschuß des Bundestages behandelt wer- den sollen. Bei der Pflege ist es (noch) nicht soweit, obwohl auch hier die politischen Vor- stellungen die Parteien- und Ko- alitionsgrenzen überschreiten.
Immerhin hat Blüm schon zu Beginn der öffentlichen Pflege- debatte darauf gedrängt, dieses parteiübergreifende Problem ge-
meinsam zu lösen. Weder beim
§ 218 noch bei der Pflege lassen sich die gegenläufigen Ansichten zur allseitigen Zufriedenheit in Gesetze gießen. In beiden Fäl- len muß es zu Kompromissen kommen.
Wetten aber, daß es nicht nur zu den üblichen Kompro- missen, sondern zu einem ech- ten Kuhhandel kommen wird?
(„Kommst Du mir beim § 218 entgegen, dann komme ich Dir bei der Pflege entgegen.") So unterschiedlich die beiden ge- setzlich zu regelnden Probleme auch sind, die politische Kon- stellation ist exakt so, daß eines mit dem anderen verrechnet wird. Was schließlich heraus- kommt, wenn das alles in den großen parlamentarischen Mixer kommt, weiß niemand der Han- delnden in Bonn — zumal mit
§ 218
und Pflege ja auch noch
das dritte akute Problem dieser Tage, die Neuregelung des Asyl- rechts, in den großen Mixer ge- worfen wird. NJ
Dt. Ärztebl. 88, Heft 40, 3. Oktober 1991 (1) A-3277