• Keine Ergebnisse gefunden

Acht Stufen, verzweifelt gesucht…

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Acht Stufen, verzweifelt gesucht…"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Marko Martin | Gehört die Ukraine zum Westen oder liegt ihr Platz eher im Kul- turraum des Ostens? In Odessa scheint man unschlüssig zu sein, welcher Weg einzuschlagen wäre. Die einstige kosmopolitische Hafenmetropole am Schwarzen Meer ist Exempel dafür, welche Verwüstungen das totalitäre 20. Jahrhundert hinterlassen hat – präsentiert jedoch auch zaghafte Zei- chen eines möglichen Neubeginns.

Natürlich ist da zuerst die legen- däre weiße Treppe aus „Panzerkreuzer Potemkin“. Odessa und die Treppe, das gehört im kollektiven Kulturgedächt- nis zusammen wie sonst wohl nur Rick’s Café und „Casablanca“. Doch blickt am oberen Ende der 192 Stufen der Statuenkopf des innovationsfreu- digen Herzogs Richelieu – ein Nach- fahre des Kardinals, der als Stadtgou- verneur von 1803 bis 1814 Zarin Ka- tharinas Traum von einer weltzu- gewandten Handelsstadt im Süden verwirklicht hatte – hinunter auf ein klotziges Schiffsterminal aus sowjeti- scher Zeit. Es ist die zu Beton gewor- dene Idee, die Stadt vom Meer zu tren- nen, zu der auch die bis zur Orangenen Revolution 2004/05 regierenden Post- kommunisten ihr Scherflein beigesteu- ert hatten: Gerahmt von einem Gewirr

Eisenbahnschienen voll rostiger Gü- terwagons, wird das ganze Areal ge- krönt von einem 16stöckigen Hotel- monstrum. Führte die Treppe früher direkt zum Wasser, ist nun sichtbar, was das mehr als sieben Jahrzehnte hier herrschende Regime von einer Architektur hielt, die den Gedanken von Offenheit mit der Lust an merkan- tilem Austausch verband: nichts. Für eine Art Stadtautobahn wurden der Treppe mehr als nur acht symbolische Stufen genommen – der urbane, wo- möglich auch noch südlich-anarchisch geprägte Bürger sollte zum gehorsa- men homo sovieticus werden.

Es ist aktenkundig, wie stark das Politbüro im fernen Moskau dieser Stadt misstraut hatte und welche An- siedlungsstrategien es sich ausdachte, um den einst so bunten Flickenteppich grau zu färben. Über die einstige „Perle des Schwarzen Meeres“ ließe sich auch heute noch sagen: Operation gelungen, Patient nachhaltig paralysiert. Die Mie- nen der vorbeihastenden Einheimi- schen verraten keine Regung; in ihrer eher bäuerlich denn städtisch anmu- tenden Homogenität kein Hauch frü- herer ethnischer und kultureller Ver- mischung aus Russen, Juden, Armeni- ern, Griechen, Türken, Tataren oder © Thomas Albrecht; Büro Hilmer, Sattler & Albrecht GmbH

98 IP Mai 2009

Acht Stufen, verzweifelt gesucht …

um der einst so mondänen Stadt wieder den Blick aufs offene Meer zu gewähren Brief aus … Odessa

(2)

Italienern. Bereits die Oktoberrevolu- tion hatte die Ober- und Mittelschicht vertrieben und die Kleinbürger verpro- letarisiert. Im Zuge der nazideutschen und rumänischen Besetzung waren dann 99 000 Juden ermordet worden, 19 000 allein am 23. Oktober 1941 im Hafen von Odessa.

Und heute? 2007 wurde die Oper wieder eröffnet, ein reich verziertes Haus im Stil des Wiener Barock. Eine kleine Insel ist auch das Viertel um die Deribasovskaya-Straße, die an Odessas ersten Gouverneur erinnert, den Spa- nier José de Ribas: Ihm ist das schach- brettartige Straßenmuster zu verdan- ken. Wieder eingefügtes Katzenkopf- pflaster, kleine Cafés und eine tat- sächlich an ein Miniatur-Mailand erinnernde glasdachbeschirmte Laden- passage an der ehemaligen „Straße der Roten Armee“. Restaurierte orthodoxe Kathedralen, unzählige vor dem Verfall gerettete Bürgerhäuser, an den Stra- ßenecken ein paar Pferdedroschken für die überschaubare Anzahl von Touris- ten, dazu verglaste Werbeplakate wie in jeder anderen europäischen Stadt.

Die überall beworbene Zigarettensorte trägt den protzigen Namen „Kapita- list“, und im Café Salieri hängt ein rie- siger, permanent Boxwettkämpfe prä- sentierender Flachbildschirm, während sich über Lautsprecher ein sanfter Joe Dassin verzweifelt bemüht, doch noch ein wenig Champs-Elysées-Flair zu ver- breiten. Nannte sich Odessa nicht ein- mal „Klein-Paris“? Gegenüber das pos- sierlich hergerichtete Hotel „Mozart“, das in der Lobby mit dem Foto des bis- lang einzigen prominenten Gastes wirbt: Sylvester Stallone. Der „ukrains- ky Techno“, der auf die seltsam stoisch wirkenden Gäste herunterprasselt, ist nichts weiter als konstanter Lärm, um

eine gigantische kulturelle Lücke, ein geistiges Vakuum auszufüllen. Gnade, denkt der Besucher, wenn dies die Odessaer Moderne ist: Geradezu ge- walttätig beschallt, während auf der Speisekarte in einem auf asiatische Lounge-Bar-Atmosphäre getrimmten Lokal Geschmacklosigkeiten wie Tsu- nami-Salat angeboten werden und die Autoschlüssel der jungen Neureichen auf das Teakholz-Imitat knallen, um gesellschaftlichen Status zu beweisen.

Dennoch. Zumindest die Straßen tragen keine Namen mehr wie „Feliks Dscherschinskij“ oder „Proletarskij Boulevard“. Auch leuchtet im Stadtzen- trum wieder die alte Hauptsynagoge – bis 1993 war das Gotteshaus als Turn- halle benutzt worden. Ein Hinterhof- haus, das früher dem KGB diente und dessen Concierge noch immer das sow- jettypische „Njet!“ aus dem zahnlosen Mund spuckt, ehe man doch durch die wurmstichige Pforte eingelassen wird, beherbergt heute den jüdischen Kultur- und Bildungsverein „Migdal“. In der Nezhinskaya, vormals Franz-Mehring- Straße, klebt schließlich neben einer verriegelten Hoftür ein an die poröse Hauswand geklebter Zettel: Odessa Je- wish Museum. Ring and it will be open!

Vielleicht ist gerade dies ja eine Art Be- ginn: eine vorsichtige Wiedergeburt der einst so mondänen Stadt aus dem Geist der Erinnerung.

Brief aus … Odessa

MARKO MARTIN lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin.

Jüngst erschien von ihm: „Sonderzone.

Nahaufnahmen zwischen Teheran und Saigon“.

IP Mai 2009 99

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Expressivität oder Ausdrucksfähigkeit einer visuellen Darstellung ist deren Eigenschaft, nur die in den Daten enthaltenen Informationen möglichst unverfälscht wiederzugeben..

Sie sind Inhaberin oder Inhaber eines Lehrdiploms für die Vorschul- und Primarstufe und möchten die Ausbildung zur Lehrperson Sekun- darstufe I absolvieren sowie einen

für das vom Innovationsausschuss des G-BA geförderte Projekt ACHT suchen wir noch Kolleginnen und Kollegen, die die sportmedizinische Nachsorge von Versicherten nach

Dann kann ihm bewusst werden, dass die Leiblichkeit des Menschen ein Bild ist für seine Individualität und die Tiere Bilder für spezielle seelische Eigenschaften sind..

Immerhin lässt es in seiner Aufmerksamkeit für sich, in seiner Selbstfürsorge und in seinem Beistand gegenüber sich selbst nicht nach.. All dies ermöglicht,

Einritzen in Holz- oder Wachstäfelchen (Griechen- land, Rom) oder in Stäbe (Runenstäbe in Skandina- vien).

Eine Stelle hat mich besonders berührt: Er schreibt im Zusammenhang mit einer konkreten Expositionsform davon, dass die Patientin sich an die Hand genommen und durch das

Die Qualitätsdialoge Frühe Hilfen werden durchgeführt vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit