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Zusammenfassung
Die Diagnostik beruht zum einen auf einer Messung der Muskel- masse entweder mittels bioelektri- scher Impedanzanalyse (BIA) oder besser mittels der Knochendichte- messung (DXA) zur Bestimmung der Körperzusammensetzung. Zum anderen ist eine Messung der Hand- kraft beziehungsweise der Gang- geschwindigkeit zur Bestimmung der muskulären Funktion nötig. Zur Selektion in der Primärversorgung besteht die Möglichkeit, mittels eines Sarkopenie-Fragebogens (SARC-F) gefährdete Patienten zu identifizieren. Diese können dann der oben genannten weiterführen- den Diagnostik zugeführt werden.
Gegenwärtig besteht die Therapie aus Kraft- und Balancetraining so- wie einer Ernährungsberatung mit dem Ziel einer proteinreichen Er- nährung. Spezielle orale Nahrungs- supplemente können in bestimm- ten Situationen hilfreich sein. Eine medikamentöse Behandlung der Sarkopenie ist noch nicht verfüg- bar. Einige Substanzen sind je- doch in der klinischen Prüfung. Am vielversprechendsten scheint die Gruppe der Myostatinantagonisten zu sein.
Definition der Sarkopenie Im Rahmen des Alterungsprozes- ses erfährt die Muskulatur einen natürlichen Verlust von Muskel- masse und Funktion. So verlieren 75-jährige Frauen und Männer 0,64 bis 0,70 Prozent beziehungs- weise 0,80 bis 0,98 Prozent ihrer Muskelmasse und 2,5 bis drei Pro- zent beziehungsweise drei bis vier Prozent von ihrer Muskelkraft pro Jahr. [1] Durch letztlich noch nicht gut verstandene Mechanismen, aber auch durch Komorbidität, erleiden bestimmte ältere Patienten einen verstärkten Abbau ihrer Muskula- tur. Dieses Phänomen wird als Sar- kopenie bezeichnet.
Der Begriff stammt von sarx (grie- chisch: Fleisch) und penia (grie- chisch: Mangel) und wurde von Irwin Rosenberg erstmals 1989 ein- geführt. [2] Nach über 25 Jahren Forschungstätigkeit ist es 2016 in den USA gelungen, einen ICD-Code für die Erkrankung zu schaffen. Seit 2018 besteht nun eine Kodierungs- möglichkeit auch in Deutschland.
Gegenwärtig ist die Sarkopenie noch unspezifisch als Muskel- schwund und -atrophie (inklusive der Inaktivitätsatrophie) eingrup- piert (M62.50), die mehrere Loka- lisationen betreffen.
Prävalenz der Sarkopenie Untersuchungen bezüglich der Häufigkeit von Sarkopenie bei den Hochaltrigen aus Italien zeigten, dass bei über 80-Jährigen 32 Pro- zent der Männer und 17 Prozent der Frauen von Sarkopenie betrof- fen sind. [15] Sarkopenie wird ge- mäß einer aktuellen populations- basierten Untersuchung in Bayern mit über zwölf Prozent bei den über 80-Jährigen angegeben. [3]
In Deutschland und Bayern ist die Sarkopenie sehr wahrscheinlich weitgehend unterdiagnostiziert.
Sarkopenie ist mit schlechtem Outcome assoziiert
Die Sarkopenie ist ein chronischer Prozess und wesentlicher Bestand- teil der Gebrechlichkeit (Frailty) älterer Patienten. Körperliche Leistungsminderung und Verlust von Mobilität und Selbstständig- keit Betroffener sind die Folgen.
Insbesondere im Kontext mit sar- kopeniebedingten Stürzen und konsekutiven Frakturen bekommt die Erkrankung für den Betroffe- nen eine hohe Bedeutung. [4] Ein erhöhtes Sturzrisiko, vor allem in Kombination mit Osteoporose, auch als Osteosarkopenie be- zeichnet, gefährdet diese Patien-
Die Sarkopenie ist durch einen Verlust von Muskelmasse und Muskelkraft beziehungsweise Muskelfunktion im Kontext des Alterns definiert. Sarkopenie weist bei älteren Patienten eine hohe Prävalenz auf und ist oft mit weiteren Komorbiditäten und einem schlechten Outcome assoziiert. Seit 2018 ist sie nun auch in der deutschen Version der ICD-10-GM kodierbar (M62.50).
SARKOPENIE: JETZT AUCH IN
DER DEUTSCHEN VERSION DER
ICD-10-GM KODIERBAR
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ten zusätzlich hinsichtlich einer Fraktur. [5–8]
Neben den funktionellen Auswir- kungen der Sarkopenie auf die Be- troffenen können metabolische Veränderungen des in der Qualität verringerten Muskels einen pro- inflammatorischen Zustand be- günstigen und sowohl das kardio- vaskuläre Risiko als auch Kompli- kationen und Progression von Dia- betes, Krebserkrankungen, De- menz, M. Parkinson und Depres- sion fördern. Sarkopenie ist somit ein unabhängiger Risikofaktor für erhöhte Mortalität. [9]
In die Diagnose der Sarkopenie gehen die Muskelmasse und deren Funktion ein. [10, 11] Die Einschrän- kung der Muskelkraft wird bei ger- iatrischen Patienten durch die Handkraft (Grenzwert für Frauen 20 kg und für Männer 30 kg) und die Muskelfunktion durch die Gang- geschwindigkeit (Grenzwert 1m/s) gemessen. Die Muskelmassen- bestimmung – bezogen auf die quadrierte Körpergröße – kann anhand der DXA (Dual Röntgen
Absorptiometrie) (Grenzwert für Frauen 5,5 kg/m² und für Männer 7,26 kg/m²) oder mittels der Bio- impedanzmessung (Grenzwert für Frauen 6.42 kg/m² und für Män- ner 8.87 kg/m²) erfolgen (Abbil- dung 1).
Diese Untersuchungen sind im Praxisalltag sehr zeitaufwendig
und oft nur in spezialisierten Pra- xen durchführbar. Zur Selektion in der Primärversorgung besteht die Möglichkeit, mittels eines Scree- ning-Fragebogens für Sarkopenie (SARC-F) gefährdete Patienten zu identifizieren (Abbildung 2). Dieser untergliedert sich in fünf alltags- relevante Bereiche: Kraft, Gehen, Aufstehen, Treppensteigen und
SARC-F Screening-Fragebogen für Sarkopenie
Bereich Frage Antwort (Punktewert)
Kraft Wie schwer fällt es Ihnen, zirka fünf Kilogramm zu heben und zu tragen?
nicht schwer (0) etwas schwer (1)
sehr schwer oder nicht möglich (2) Gehen Wie schwer fällt es Ihnen, auf
Zimmerebene umherzugehen?
nicht schwer (0) etwas schwer (1)
sehr schwer, benötige Hilfsmittel oder nicht möglich (2) Aufstehen Wie schwer fällt es Ihnen, vom
Stuhl oder Bett aufzustehen?
nicht schwer (0) etwas schwer (1)
sehr schwer oder nicht möglich ohne Hilfe (2) Treppensteigen Wie schwer fällt es Ihnen, eine
Treppe mit zehn Stufen zu steigen? nicht schwer (0) etwas schwer (1)
sehr schwer oder nicht möglich (2) Stürze Wie oft sind Sie im letzten
Jahr gestürzt? kein Sturz (0)
1 bis 3 Stürze (1) 4 oder mehr Stürze (2)
Abbildung 2 Quelle: Modifiziert nach Malmström et al. [23]
Diagnosealgorithmus der Sarkopenie
Sarkopenie keine Sarkopenie
oder > 20 kg (w)
> 30 kg (m)
< 20 kg (w)
< 30 kg (m)
< 1 m/s
> 1 m/s
Bestimmung Muskelmasse:
Dual Röntgen Absorptiometrie
< 5.50 kg/m2 (w)
< 7.26 kg/m2 (m) > 5.50 kg/m2 (w)
> 7.26 kg/m2 (m)
Abbildung 1 Quelle: Diagnosealgorithmus modifiziert nach Maetzler et al. [22]
Muskelfunktion +
Ganggeschwindigkeit Muskelkraft
Handkraft
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Richtige Kodierung beachten
Seit 1. Januar 2018 ist für die Sarkopenie laut ICD-10- GM-2018 der Kode M62.5- zu verwenden:
M62.5- Muskelschwund und -atrophie, anderenorts nicht klassifiziert, Inkl.: Inaktivi- tätsatrophie, anderenorts nicht klassifiziert, Sarkopenie Die Lokalisation ist an der fünften Stelle des Kodes mit „0“ zu kodieren, da es sich bei der Sarkopenie um eine generalisierte Er- krankung handelt.
Stürze. Dabei kann pro Frage ein Ergebnis von null bis zwei Punk- ten, also ein Gesamtwert von zehn Punkten erzielt werden. Ab einem Wert von vier Punkten sollte eine weiterführende Diagnostik zur Sarkopenie erfolgen. [12]
Prävention und Therapie Laut Veröffentlichungen des Robert Koch-Instituts stürzen rund 30 Prozent der über 65-Jährigen je- des Jahr. Somit sind Stürze ein großes Problem der älteren Men- schen, auch hinsichtlich ihrer Le- bensqualität. [13] Sarkopenie ist einer der Hauptrisikofaktoren für Stürze. Insbesondere das frühzei- tig angebotene Bewegungstraining scheint dafür präventiv zu sein. [14]
Zusätzlich zu spezifischen Bewe- gungsprogrammen spielt die Er- nährung in der Therapie der Sar- kopenie eine ganz wesentliche Rolle. [15, 16] Untersuchungen haben gezeigt, dass eine höhere Proteinzufuhr bei älteren Patienten nötig ist, um die gleiche Protein- syntheserate in der Muskulatur
wie bei jüngeren Patienten zu er- reichen. [17] Dies hat zu Empfehlun- gen einer höheren täglichen Zufuhr von Proteinen für Patienten über 65 Jahre (1.2 g/kgKG/d) im Gegen- satz zu Jüngeren (0.8 g/kgKG/d) geführt. [18] Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass ein hoher Anteil von essentiellen Aminosäuren, allen voran Leucin, eine positive Wirkung auf die Muskelprotein- synthese hat. Es konnte gezeigt werden, dass sich Muskelmasse und Funktionalität des Muskels unter einer 13-wöchigen Interven- tion mit einer zweimal täglichen Gabe von je 40 g Molkeprotein mit 3 g Leucin verbessern lässt. [19]
Bei Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz (GFR < 30m/
min/1.73m²) ohne Dialysepflichtig- keit soll die Zufuhr jedoch 0.8 g/
kgKG/d nicht überschreiten. [20]
Gegenwärtig gibt es keine pharma- kologische Therapie der Sarkopenie.
Aufgrund der multifaktoriellen Ge- nese des Muskelschwunds sind – den jeweiligen Pathomechanismen entsprechend – Substanzen in der klinischen Prüfung. Am vielver-
sprechendsten scheint die Gruppe der Myostatinantagonisten zu sein.
[21] Phase-3-Studien dieser Medi- kamente stehen aber noch aus.
Dr. med. Uta Ferrari und PD Dr. med. Michael Drey Medizinische Klinik und Poliklinik IV Klinikum der Universität München
Das Fußnotenverzeichnis zu diesem Artikel finden Sie unter www.kvb.de in der Rubrik Service/Mitglieder-Informatio- nen/KVB FORUM/Literatur- verzeichnis.
Gegenwärtig gibt es keine pharmakologi-
sche Therapie der Sarkopenie.
Präventiv schei- nen spezifische Bewegungspro- grammen zu wir- ken.