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Archiv "Behandlung mit noch nicht zugelassenen Medikamenten: Zwischen Hoffen und Haften" (14.03.2008)

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P O L I T I K

D

er Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Regressverfah- ren in seinem Urteil vom 27. März 2007 (Az.: VI ZR 55/05) zur Arzt- haftung bei einem individuellen Heilversuch mit nicht zugelassenen Medikamenten Stellung genom- men und Normen gesetzt.

Nach dem Urteilstext gelten diese teilweise auch für Behandlungen mit ganz neu zugelassenen Medikamenten.

Es ist daher wichtig, dass sich die Ärzte mit dieser Materie erneut be- schäftigen.

Ein Mann von 30 Jahren litt an einer fokalen Epilepsie (mit häufi- gen komplex-fokalen und seltenen Grand-Mal-Anfällen) und war auf 200 mg Phenobarbital eingestellt.

Als „Add-on“-Therapie erhielt er 2 000 mg/Tag Vigabatrin (VGB), das damals noch nicht zugelassen war, sich aber bereits in der klinischen Prüfung in Phase III befand. Die Medikation erfolgte außerhalb des Prüfprotokolls. Eine Eingangsunter- suchung und Kontrollen der Sehkraft und der Gesichtsfelder erfolgten nicht. Etwa drei Monate nach Thera- piebeginn wurde die Zulassung für

VGB in Deutschland erteilt.

Rund sechs Monate nach Therapiebeginn traten Kopf- schmerzen über der linken Stirn und eine Sehstörung des linken Auges mit plötz- licher Visusminderung auf.

Ophthalmologisch wurde eine akute ischämische Optikus- neuropathie (AION), mutmaß- lich durch Verschluss der kurzen hinteren Ziliararterie, diagnosti- ziert. Die behandelnden Ärzte gin- gen von einer Vaskulitis als Grund-

prozess aus (1).

Die klinischen Befundmerk- male am linken Auge waren ein Visus von 0,6, eine Papillen- schwellung, eine kleine tempo- rale Streifenblutung, konzen- trische Gesichtsfeldeinengung und eine Latenzverlängerung der P100 im VEP auf 140 ms. Die Blutuntersuchung zeigte eine BSG von 31/59 mmnW, Leukozytose von 11,2/nl, ein CRP von 3,5 (Norm

<0,8), IgA von 743 (Norm 90–490).

Folgende ärztliche Maßnahmen wurden ergriffen: Weitergabe von VGB nach Absprache mit der Her-

stellerfirma, obwohl augenklinisch ein Zusammenhang mit VGB vermu- tet worden war. Etwa sechs Wochen nach Beginn der Symptomatik wurde 100 mg/Tag Prednison gegeben, wo- nach die Kopfschmerzen nach zwei Tagen abklangen und der Visus sich etwas besserte. Unter früher Reduk- tion des Prednisons auf 20 mg/Tag verschlechterten sich der Visus und die Papillenschwellung, wobei Letz- tere jetzt auch rechts auftrat. Durch erneute Erhöhung des Prednisons auf 50 mg/Tag und Absetzen des VGB (jetzt erst!) konnte diese Verschlech- terung abgefangen werden.

Kommentar aus medizinischer Sicht

Die klinischen Leitsymptome (Kopfschmerzen, plötzlicher Visus- verlust) in Verbindung mit den Blut- befunden (Erhöhung von BSG und CRP) sowie der prompten Besserung der Kopfschmerzen unter Prednison ähneln so sehr der Augenkomplika- tion bei Riesenzellarteriitis (2), dass an der Diagnose einer AION bei Vaskulitis kaum Zweifel bestehen.

Vaskulitiden als unerwünschte Wirkungen bei der Therapie mit An- tiepileptika gelten heute als allfälli- ge Komplikationsmöglichkeit (3).

Für den Zusammenhang mit VGB im vorliegenden Fall spricht nach- drücklich, dass es unter Weiter- führung von VGB zwar gelang, durch Prednison in hoher Dosierung die Krankheitsaktivität zu unter- drücken (kenntlich an der Besse- rung der Augensymptome), diese sich aber unter Reduktion von Pred- nison erneut bemerkbar machte.

Erst nach Absetzen von VGB gelang es, Prednison ohne Reboundeffekt ganz abzusetzen. Die („übliche“) AION aufgrund degenerativer Ge- fäßveränderungen ist wegen des Al- ters des Patienten und der Blutkon-

BEHANDLUNG MIT NOCH NICHT ZUGELASSENEN MEDIKAMENTEN

Zwischen Hoffen und Haften

Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber noch nicht zugelassenen Medikament ist nicht verboten, fordert jedoch einen deutlich höheren Sorgfaltsmaßstab im Vorgehen des Arztes.

Foto:

Eberhard Hahne

A552 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008

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A554 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008

stellation höchst unwahrscheinlich.

Aus ärztlicher Sicht scheint zweier- lei unverständlich: einerseits die Fortsetzung der Behandlung mit VGB über wahrscheinlich mehr als acht Wochen nach Eintreten der Symptome – sogar trotz des augenkli- nischen Hinweises auf einen Zusam- menhang – und andererseits der späte Einsatz von Corticosteroiden (4) trotz der engen Analogie zur Arteriitis- temporalis-Symptomatik.

Das Urteil

Die Regressforderung wurde von zwei Instanzen abgewiesen. Der BGH jedoch verwies den Fall an das Berufungsgericht zurück. Dabei hat er Ausführungen gemacht, die Kon- sequenzen für das ärztliche Handeln haben.

Sorgfaltsmaßstab:Der individu- elle Heilversuch mit einem zulas- sungspflichtigen, aber noch nicht zugelassenen Medikament ist durch das Arzneimittelgesetz (AMG) nicht verboten und stellt „noch kei- nen Behandlungsfehler“ dar. Der BGH fordert jedoch einen deutlich höheren Sorgfaltsmaßstab im Vor- gehen des Arztes (VI ZR 323/04, VersR 2006, 1073). Der Heilver- such birgt in besonders hohem Maß unbekannte Risiken und Möglich- keiten unerwünschter Wirkungen.

Deshalb sind zum Wohl des Patien- ten erwartete Vorteile der Behand- lung und abzusehende oder zu ver- mutende Nachteile sorgfältigst ab- zuwägen. Diese Abwägung hat kon- tinuierlich zu erfolgen und jeweils erneut, sobald neue Erkenntnisse über mögliche Risiken vorliegen.

Der Arzt darf auch nicht abwarten oder erwarten, dass diese an ihn her- angetragen werden, sondern er hat sich ständig aktiv, also aus eigenem Antrieb, zu informieren. In beson- derem Maß sind Vorsichtsmaßnah- men und -hinweise aus der Ge- brauchsinformation der Hersteller- firma zu beachten und dies auch zeitnah ohne Verzögerung. Von diesen Vorgaben abweichende (un- kontrollierte) Vorgehensweisen des Arztes stellen einen Behandlungs- fehler dar – nicht nur einen Be- funderhebungsfehler. Im konkreten Fall kann in dieser Situation bereits durch einen einfachen Behand-

lungsfehler (zum Beispiel zu spätes Absetzen von VGB) eine Haftung des Arztes begründet sein (also be- reits ohne Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers).

Leichter versus grober Behand- lungsfehler:Der Hinweis auf mögli- che Auswirkungen der Therapie mit VGB auf die Sehfunktion in der Ge- brauchsinformation musste mit einer solchen Komplikation rechnen las- sen. Aus dem Auftreten der Seh- störung und dem augenklinischen Hinweis auf einen möglichen Zu- sammenhang ergab sich ein „hinrei- chender Verdacht“ auf einen Zusam- menhang zwischen der VGB-Thera-

pie und der Sehstörung. Zumindest eine Aussetzung der Weiterbehand- lung hätte erfolgen müssen (wie erst acht Wochen später geschehen), ihr Unterlassen ist schlicht unverständ- lich. Beides, das Unterlassen der Aus- setzung der Behandlung und der (in der Gebrauchsinformation empfohle- nen engmaschigen) ophthalmologi- schen Kontrollen, wäre noch unter dem Gesichtspunkt eines groben Be- handlungsfehlers zu prüfen. Wegen des erforderlichen erhöhten Sorgfalts- maßstabs bei noch nicht oder gerade eben zugelassenen Medikamenten genügen hier aber auch geringere Anforderungen als sonst für die Be- jahung eines groben Behandlungs- fehlers. Dies scheint insofern von be- sonderer Bedeutung, als nicht nur auf nicht zugelassene Medikamente ab- gehoben wird, sondern ausdrücklich auch auf neu zugelassene Medika- mente (für die der BGH eine mangel- hafte Kenntnis über Risiken und un- erwünschte Wirkungen annimmt).

Aufklärung:Bei einem individu- ellen Heilversuch mit einem noch nicht oder einem neu zugelassenen Medikament sind auch ganz beson- dere Anforderungen an die Auf- klärung zu stellen. Sie hat neben den bekannten oder vermuteten uner- wünschten Wirkungen im Detail wie auch auf die Gefahr noch nicht be- kannter Risiken ausdrücklich hinzu- weisen und sollte grundsätzlich ähn- lich der schriftlichen Einwilligungs-

erklärung von Studienpatienten nach

§ 40 ff AMG gehandhabt werden.

Für das Vorliegen einer hypotheti- schen Einwilligung sind besonders strenge Maßstäbe anzulegen. „Was aus ärztlicher Sicht sinnvoll“ gewe- sen wäre und wie ein „vernünftiger Patient“ sich verhalten hätte, ist für die Beurteilung in solcher Situati- on grundsätzlich nicht entscheidend (VI ZR 174/03, VersR 2005, 694).

Eine hypothetische Einwilligung kann nicht angenommen werden, wenn der Patient sich darauf beruft, dass er – wissend, das Medikament war nicht zugelassen und die Gefahr noch nicht bekannter Risiken habe

bestanden – in einem ernsten Ent- scheidungskonflikt gewesen wäre.

Hier hat die Behandlungsseite die Beweislast zu tragen, dass bei hin- reichender Aufklärung die Einwilli- gung zur Behandlung gegeben wor- den wäre.

Konsequenzen für den ärztlichen Alltag

Für den täglichen Umgang mit Pati- enten empfiehlt sich im Rahmen ei- nes individuellen Heilversuchs, aber auch beim Einsatz neu zugelassener Medikamente:

>eine besonders sorgfältige Auf- klärung über bekannte oder vermute- te Nebenwirkungen mit Hinweis auf noch unbekannte Risiken und Mög- lichkeiten unerwünschter Wirkungen mit schriftlicher Dokumentation

>eine regelmäßige systematische Suche in kurzen Abständen nach Informationen über Risiken und unerwünschte Wirkungen des ver- wendeten Medikaments, am besten ebenfalls mit schriftlicher Dokumen- tation, im positiven Fall mit umge- hender Information des Patienten

>eine sorgfältige Abwägung des Nutzens für den Patienten gegen das tatsächliche oder nur mögliche Ge- fährdungspotenzial durch die Be- handlung oder Weiterbehandlung, insbesondere bei Auftreten neuer

Beschwerden. I

Prof. Dr. Hanns Christian Hopf Gerhard Philipowich

LITERATUR 1. Dieterle L, Becker

EW, Berg PA, Berken- feld R, Reinshagen G:

Allergische Vaskulitis durch Vigabatrin.

Nervenarzt 1994; 65:

122–4.

2. Caselli RJ, Hunder GG: Neurologic com- plications of giant cell (temporal) arteritis.

Sem Neurol 1996;

14: 349–53.

3. Zaccara G, Franciotta D, Perucca E: Idiosyn- cratic adverse reac- tions to antiepileptic drugs. Epilepsia 2007; 48: 1223–44.

4. Rivero-Puente A, Berasategui Calderon JI, Carello de Albornoz JM, Rivero Marcotegui M, Carcia-Bragado AF: Giant cell arteritis and polymyalgia reumatica: diagnosis and evolution of 90 cases. An Med Interna 2001; 18:

191–4.

Der Heilversuch birgt in besonders hohem Maß unbekannte

Risiken und Möglichkeiten unerwünschter Wirkungen.

Referenzen

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