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s ist ein Bild des Schreckens: Vom Bus selbst ist nicht viel mehr als ein Gerippe übrig. Mehrere Fahrgäste liegen blutüberströmt auf dem Asphalt.Andere hängen verletzt und apathisch in ihren Sitzen oder stehen um Hilfe ru- fend am Straßenrand.
Eine Bombe hat den Bus zerfetzt und die In- sassen von einer Sekun- de auf die nächste zu Op- fern eines terroristischen Anschlags gemacht. Ret- tungskräfte mit Schutz- anzügen und teilweise mit Atemschutzgeräten ausgestattete Feuerwehr- leute sowie zahlreiche Polizisten sichern den Einsatzort weiträumig ab. Sie bemühen sich, die
Schwerverletzten von den weniger trau- matisierten Opfern zu trennen.
Nur wer ganz genau hinsieht, erkennt, dass das Blut nicht echt ist, sondern ledig- lich rote Farbe, und dass keiner der Betei- ligten tatsächlich verletzt oder gar tot ist.
Denn bei dem vermeintlichen Terroran- schlag handelt es sich um eine Katastro- phenschutzübung der Polizei und Feuer- wehr der Stadt Torrance, der viertgröß- ten Gemeinde von Los Angeles.
Die für die notfallmedizinische Ver- sorgung und den Katastrophenschutz Verantwortlichen in der 13 Millionen Einwohner umfassenden Metropole haben ihre Lehren aus den Attentaten vom 11. September 2001 gezogen, bei denen das islamistische Terrornetzwerk Al-Qaida Selbstmordanschläge mit vollbesetzten Passagierflugzeugen auf das New Yorker World Trade Center
und das Pentagon in Washington verübt hat- te. Seither finden ein- mal im Jahr in allen 88 Gemeinden von Los Angeles groß angelegte Katastrophenschutzübungen statt, um Rettungskräfte, Polizei und Feuerwehr in der Bewältigung terrori- stischer Großanschläge zu schulen.
Flugzeugentführungen werden dabei ebenso simuliert wie Bomben- oder Giftgasattentate auf öffentliche Ver- kehrsmittel und Gebäude.
Das Besondere an der Notfallversor- gung bei Großschadensereignissen in den USA ist, dass sich Polizei und Feuer- wehr das Kommando teilen. Notärzte, die, wie in Europa, die medizinische Erstversorgung am Einsatzort überneh- men und koordinieren, gibt es in den USA nicht. Erste Hilfe vor Ort leisten stattdessen nicht ärztlich ausgebildete Rettungskräfte, so genannte Parame- dics. Rund 3 100 von ihnen, in der Regel Angestellte der Gemeindefeuerwehren,
gibt es zurzeit in Los Angeles. Zu ihren Aufgaben gehört auch, die Verletzten nach der Erstversorgung zum nächstge- legenen Krankenhaus zu begleiten. Den Transport dorthin übernehmen zumeist dann nicht die Feuerwehren, sondern private Anbieter. Somit erhalten die Pa- tienten erst im Emergency Room des Krankenhauses Hilfe von speziell aus- gebildeten Notfallmedizinern.
Harte Zeiten
Dennoch gibt es aus Sicht der Leiterin der obersten Notfallmedizin- und Ka- tastrophenschutzbehörde von Los An- geles, der Emergency Medical Services Agency (EMSA), Carol Meyer, keine Alternative zur gestuften Versorgung.
Das EMSA, das dem Gesundheitsamt von Los Angeles unterstellt ist, ist unter anderem zuständig für die Ausbil- dungsrichtlinien und Qualitätssiche- rungsmaßnahmen im Rettungsdienst sowie für das Katastrophenmanage- ment der Stadt.
Meyer verweist auf den hohen Aus- bildungsstand der Paramedics und die zumeist nur wenige Minuten dauernden Transporte ins Krankenhaus, um die Vorzüge des Systems zu preisen. Der ei- T H E M E N D E R Z E I T
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A1204 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 18⏐⏐5. Mai 2006
Katastrophenschutz in den USA
Die Spuren des 11. September
Die Metropole Los Angeles rüstet sich für etwaige Katastrophen. Doch der Kostendruck lastet schwer auf der notfallmedizinischen Versorgung.
Bombenanschlag auf einen Li- nienbus: Polizei und Feuer- wehr von Torrance, der viert- größten Gemeinde von Los An- geles, bereiten sich auf den Ernstfall vor.
Fotos:Petra Spielberg
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ie Rolle von Patient und Kunde lässt sich kontrastierend darstellen (Tabelle 1): Der Patient gerät durch Krankheit in eine Not und befindet sich, wenn er sich in Therapie begibt, in einer Not-Hilfe-Beziehung. Diese Beziehung ist, da ein Drittes, nämlich die Krankheit, die Not hervorruft, nicht frei bestimm- bar (2,8). Daraus resultieren notwendige therapeutische Konsequenzen, etwa Entlastung und Privilegien (Schonung) sowie der eventuelle Status einge- schränkter Arbeitsfähigkeit. Die Rolle des Kunden und Geschäftspartners ist demgegenüber ganz anders festgelegt.Die Beziehung ist eine Geschäftsbezie- hung. Sie geht von einem Bedarf und Wunsch aus, der in weiten Grenzen frei bestimmt ist. Die handelnden Personen verstehen sich als verantwortungsfähig hinsichtlich des Verhandlungsgegen- standes. Daraus resultieren Anforderun- gen für die Befriedigung des Bedarfes und Anforderungen bezüglich eines ent- sprechenden Ausgleichs, beispielsweise einer Zahlung. Anspruch auf Schonung und Privilegien gibt es nicht, wohl jedoch auf Fairness und Respekt.
Ohne „Krankheit“ im Sinne von be- handlungsbedürftiger Störung kann es keine therapeutische Offertegeben und damit auch keine therapeutische Situati- on. Gesundheit und Krankheit können keinen Warencharakter
annehmen. Die Marke- tingofferte dient der Be- friedigung eines Bedarfs, der nicht aus Krankheit hervorgeht. In der thera- peutischen Offerte ist seitens des Therapeuten die fürsorgliche Über- prüfung der Zweck-
mäßigkeit der Mittel und Interventio- nen obligatorisch (4). Das geht so weit, dass der Therapeut dem Patienten beizustehen hat, auch wenn dies sei- nen wirtschaftlichen Interessen ent- gegensteht. Demgegenüber gilt für die Marketing-Offerte als einer po- tenziellen Verhandlungssituation, dass die Durchsetzung eigener Interessen führend ist, unter Beachtung von Fair- ness und den Mitteln der Überzeugung.
In der therapeutischen Offerte ist von vornherein führend und implizit die Aufklärungspflicht, Sorgfaltspflicht und Verschwiegenheitspflicht, ferner Offen- heit und Ehrlichkeit, auch seitens des Patienten. Demgegenüber gilt in der Marketing-Offerte, sofern dem Rechts- vorschriften nicht entgegenstehen, eine partielle Verdeckung als taktisch akzep- tierte Modalität. Darauf beruht die je- der Verhandlung wesensmäßig zugrun- de liegende Verfahrensweise, schrittwei- se Zugeständnisse zu machen, ohne die Grenze des Verhandlungsspielraumes von vornherein zu bezeichnen.
Von grundlegender Bedeutung für die therapeutische Offerte ist der Um- stand, dass die Rahmenbedingungen, wozu der Beginn und das Ende der Si- tuation gehören, nicht frei bestimmbar sind, sondern durch die Krankheit dik- tiert werden. Daraus resultiert, dass die Rahmenbedingungen in der akuten therapeuti- schen Situation nicht zum Verhandlungsge- genstand werden kön- nen und dürfen. Dazu gehören auch Fragen der Bezahlung beziehungs- weise der Höhe des Ho- norars für eine bestimm- T H E M E N D E R Z E I T
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A1206 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 18⏐⏐5. Mai 2006
Die Rolle von Patienten und Kunden
Ethische Verantwortung des Therapeuten
Gesundheit und Krankheit können keinen Warencharakter annehmen.
Hermes Andreas Kick
In der therapeuti- schen Offerte sind die Rahmenbedin- gungen nicht frei bestimmbar, sondern sie werden durch die Krankheit diktiert.
gentliche Grund aber, warum die EMSA- Direktorin so vehement am Paramadics- System festhält, ist ein anderer: In Los Angeles fehlt es zunehmend an ärztli- chen Fachkräften, auch in der Notfall- medizin. „Außerdem wäre es viel zu teuer, unser System auf eine ambulante Notarztversorgung, wie sie in vielen eu- ropäischen Ländern üblich ist, umzu- stellen“, räumt Meyer ein.
Die chronische Unterfinanzierung bereitet ihr jedoch auch im Hinblick auf das bestehende System Sorgen. Zwar verfügt Los Angeles über 74 Kranken- häuser mit Notfallambulanzen, von de- nen 11 den Status einer Katastrophen- schutzeinrichtung haben. Darüber hin- aus stehen 13 Trauma- und drei Verbren-
nungszentren zur Verfügung sowie spe- zielle Einrichtungen für die Versorgung von schwer verletzten oder kranken Kindern. Dennoch kommt es zu Engpäs- sen. Das liegt zum einen daran, dass die Krankenhäuser jährlich zwei Millionen Notfälle zu versorgen haben. „Wartezei- ten von fünf bis acht Stunden sind an der Tagesordnung“, erklärt Meyer. Zum an- deren haben allein in den letzten drei Jahren zehn Kliniken aus Kostengrün- den schließen müssen. Ursache hierfür ist vor allem, dass rund 30 Prozent aller Notfallpatienten in Los Angeles über keinen oder einen nur unzureichenden Versicherungsschutz verfügen, die öf- fentlichen Einrichtungen aber gezwun- gen sind, alle zu behandeln. Folglich ha- ben immer weniger Ärzte Neigung, Dienst in den Notfallambulanzen zu tun.
„Die Zeiten sind verdammt hart“, meint Meyer. 30 Jahre in der Notfallmedizin haben sie aber gelehrt, den Blick nach vorne zu richten. Petra Spielberg Besorgt über die Unterfinanzierung der Not- fallmedizin: Behördenleiterin Carol Meyer