S
eit fast 20 Jahren versuchen Politik und Selbstverwaltung, die steigenden Arzneimittelausgaben in den Griff zu bekommen. Ein Kostendämpfungsgesetz löst das andere ab.Arzneimittelvereinba- rungen, Arzneimittelrichtlinien, Arznei- mittelinformationen, Pharmakotherapie- zirkel, Richtgrößenprüfungen, Regresse – nichts scheint die Ausgabenzuwächse wirksam bremsen zu können, obwohl die deutschen Ärztinnen und Ärzte inzwi- schen auch Weltmeister im Ver- schreiben von Generika sind.Nach den Erfolgsmeldungen von 2004 – dem ersten Jahr der Gesund- heitsreform –, die mit einem Rück- gang der Arzneimittelausgaben von rund zehn Prozent aufwarten konn- ten, verzeichnet der Bundesver- band der Betriebskrankenkassen (BKK) 2005 wieder einen Ausga- benanstieg. Mit rund 24,6 Milliar- den Euro, schätzt der Verband, wer- den die gesetzlichen Krankenkas- sen 3,6 Milliarden Euro mehr für Arzneimittel ausgeben als im Vor- jahr. Dies entspricht einem Ausga- benanstieg von 17,2 Prozent. Aller- dings fällt die Steigerung um gut 400 Millionen Euro niedriger aus als befürchtet. Ein Trost ist das nicht. Die Arzneimittelversorgung ist in- zwischen nach der stationären Ver- sorgung der zweitgrößte Kostenblock der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und rangiert damit noch vor den Ausgaben für die ärztlichen Honorare.
Der BKK Bundesverband macht für die Ausgabensteigerungen zum einen die Verringerung des Herstellerrabatts zugunsten der GKV von 16 auf sechs Prozent verantwortlich. Das schlägt mit 900 Millionen Euro zu Buche. Zum an- deren identifiziert der in Arzneimittel- fragen federführende Kassenverband
„nicht nachvollziehbare Mengenauswei-
tungen“ und die Verschreibung von pa- tentgeschützten Analogpräparaten,„also neuen und teuren Arzneimitteln ohne therapeutischen Fortschritt“, als ent- scheidende Gründe für den neuerlichen Ausgabenanstieg.
Dringenden Handlungsbedarf sieht offenbar die Politik.Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hat die Koalition aus CDU/CSU und SPD Mitte Dezember 2005 ein Kostendämpfungsgesetz vorge-
legt, das 2006 im Arzneimittelbereich zu Einsparungen von rund einer Milliarde Euro und in den Folgejahren zu einer Entlastung der Krankenkassen von je- weils 1,3 Milliarden Euro führen soll.
Das Versagen der Selbstverwaltung bei der Steuerung der Arzneimittelausga- ben erfordere weiteres Handeln des Ge- setzgebers, begründete Bundesgesund- heitsministerin Ulla Schmidt die Geset- zesinitiative. „Die Gesetzliche Kranken- versicherung stünde finanziell erheblich besser da, wenn die Ausgabenzuwächse im Arzneimittelbereich im Rahmen der von der Selbstverwaltung vereinbarten
Steigerungsrate geblieben wären“, er- klärte die Ministerin. Der Kostenan- stieg ist mit gut 17 Prozent etwa dop- pelt so hoch ausgefallen wie der von Krankenkassen und Ärzteschaft ver- einbart. Das Arzneimittelversorgungs- Wirtschaftlichkeitsgesetz verschaffe der Politik Zeit, um in Ruhe eine große Fi- nanzreform der GKV voranzutreiben, sagte die Parlamentarische Staatsse- kretärin im Bundesgesundheitsministeri- um, Marion Caspers-Merk, bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 15. Dezember im Bundestag.
Mit finanziellen Einschnitten müssen vor allem die Apotheker und die Pharmaindustrie rechnen.
Nach dem Gesetz, das voraussicht- lich am 1. April in Kraft tritt, wer- den die Herstellerabgabepreise für alle Arzneimittel für zwei Jahre ein- gefroren. Außerdem sollen die um- strittenen Naturalrabatte an die Apotheken verboten werden. Bis- lang haben vor allem die großen Generikahersteller den Apothe- kern Einkaufsvorteile gewährt, in- dem sie Arzneimittelpackungen umsonst abgaben, die die Apothe- ker den Krankenkassen jedoch zum normalen Preis in Rechnung stellen konnten. Damit künftig auch die Krankenkassen von diesen Rabatten profitieren, werden die Herstellerabga- bepreise bei Generika um zehn Prozent gesenkt. Erweiterte Möglichkeiten für Rabattverträge der Krankenkassen mit einzelnen Pharmafirmen und eine konse- quente Weiterentwicklung des Festbe- tragssystems, worunter seit der Gesund- heitsreform im Jahr 2004 auch patentge- schützte Präparate ohne therapeutischen Zusatznutzen fallen, sollen weitere Wirt- schaftlichkeitsreserven erschließen.
Das Spargesetz macht allerdings auch vor den Ärzten nicht Halt. Diese haben P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 1–2⏐⏐9. Januar 2006 AA9
Arzneimittelausgaben
Endlos scheinende Spirale
Die Krankenkassen haben 2005 rund 17 Prozent mehr für Medikamente ausgegeben als im Vorjahr. Jetzt sollen die üblichen Verdächtigen zur
Verantwortung gezogen werden.
KBV-Vorstand Ulrich Weigeldt: „Ich halte Bonus-Malus- Systeme nicht für sinnvoll.“
Foto:Georg J.Lopata
zwar keinen Einfluss auf die Arzneimit- telpreisgestaltung. Dennoch sollen „die individuelle Verantwortung des Arztes für seine Verordnungspraxis“ gestärkt und die „Zielvereinbarungen der ge- meinsamen Selbstverwaltung mit Anrei- zen zur Zieleinhaltung“ verbunden wer- den, wie es im Gesetzentwurf heißt. Im Klartext bedeutet das die Einführung ei- nes Bonus-Malus-Systems. Messlatte für die Ärztinnen und Ärzte sind künftig Ta- gestherapiekosten, die die Partner der Selbstverwaltung ab 2006 für besonders umsatzstarke Indikationsgebiete festle- gen müssen. Überschreitet der Arzt den vorgegebenen Wert, ist er gegenüber der Krankenkasse zum Ausgleich verpflich- tet. Überschreitungsbeträge zwischen fünf und zehn Prozent müssen Ärztinnen und Ärzte zu 20 Prozent ausgleichen, Summen zwischen zehn und 30 Prozent sind zu 30 Prozent auszugleichen, dar- über hinausgehende Beträge müssen zur Hälfte zurückgezahlt werden. Geprüft wird quartalsweise. Unterschreiten die Arzneimittelausgaben innerhalb einer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) die vereinbarten Tagestherapiekosten, kann ein Bonus fällig werden, den die KV an diejenigen Vertragsärzte verteilt, die wirtschaftlich verordnet haben.
Angststeuerung durch Regress
„Ich halte Bonus-Malus-Systeme nicht für sinnvoll“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dort zu- ständig für Arzneimittelfragen, gegen- über dem Deutschen Ärzteblatt. „Sie wir- ken ebenso wenig steuernd wie die der- zeitigen Regresse.“ Die Richtgrößenprü- fungen fänden zeitlich so versetzt statt, dass sie das Verordnungsverhalten kaum beeinflussen könnten. Außerdem hätten die meisten Regresse vor Gericht keinen Bestand, „denn in der Regel gibt es Be- gründungen für Verordnungen“. Ein Bo- nus-Malus-System berge ein zusätzli- ches ethisches Problem. In beiden Fällen setze sich der Arzt mit seinen Spar- bemühungen dem Verdacht aus, auf Ko- sten seiner Patienten zu handeln – sei es nun, um den Malus in Form eines Re- gresses zu vermeiden oder durch Bonus- zahlungen sein Honorar aufzubessern.
„Angststeuerung ist das Gegenteil einer
rationalen Steuerung“, betonte Weigeldt.
„Die Regressdrohung ist reine Angst- steuerung und führt zu Überreaktio- nen.“ Nicht von ungefähr gebe es Fälle,in denen besonders teure Kranke zwischen den Ärzten hin und her geschoben wür- den. „Wir sollten mehr über rationale Verordnung reden, über Information und Fortbildung“, so der KBV-Vorstand.
Der Vorwurf, die Selbstverwaltung habe bei der Steuerung der Arzneimit- telausgaben versagt, greift nach Ansicht von Weigeldt zu kurz. „Wir tun, was wir können. Wir haben Informationssyste- me, aber unsere Informationsrechte sind beschränkt.“ Wettbewerbsrechtliche Bestimmungen verhinderten klare und eindeutige Therapieempfehlungen der ärztlichen Körperschaften. „Drohende Klagen der Pharmaindustrie machen un- sere Informationen so unhandlich, dass sie zur Desinformation werden“, kriti- sierte der Arzneimittelexperte. Gleich- zeitig versorgten rund 16 000 Pharmabe- rater die Ärzte persönlich in ihren Pra- xen mit Informationen. „Wir brauchen symmetrische Informationsmöglichkei- ten, sodass wir nicht wegen jeder Äuße- rung verklagt werden können.“ In eini- gen KVen gebe es bereits Überlegungen, nach dem Vorbild der Pharmareferenten eigene Mitarbeiter zur Arzneimittelbe- ratung in die Praxen zu schicken. „Wir müssen abwarten, ob das etwas bringt“, sagte Weigeldt. Zwar hätten sich sowohl die Pharmakotherapieberatung als auch die Arbeit in den Qualitätszirkeln als hilfreich erwiesen. Aber: „Dort gehen nicht immer diejenigen hin, die die größ- ten Probleme haben.“
Richtig findet es Weigeldt, dass der Gesetzgeber beim Arzneimittelsparpa- ket „vorne“ ansetzt, bei der Preisgestal- tung und bei den Festbeträgen. Eine Wei- terentwicklung des Festbetragssystems hält er für vernünftig. „Das schafft Trans- parenz.“ Die Ärzte hätten in der Praxis keine Zeit, sämtliche Arzneimittel- preisänderungen von 40 000 Darrei- chungsformen zu durchforsten und dabei noch sauber zwischen Innovationen und Me-too-Präparaten zu unterscheiden.
Die Selbstverwaltung, insbesondere der Gemeinsame Bundesausschuss, könne hier wertvolle Arbeit leisten, „wenn man ihn denn lässt“. So hatte das Bundesge- sundheitsministerium im vergangenen Jahr die Verordnungseinschränkungen
des Bundesausschusses bei der enteralen Ernährung wesentlich entschärft – aus politischem Opportunismus,wie der Aus- schuss meint. „Hier haben die staatlichen Eingriffe das Gegenteil dessen bewirkt, was wir bewirken wollen und was wir in gemeinsamen Entscheidungen der Ärzte und Krankenkassen und teilweise auch der Patientenvertreter geregelt haben“, so Weigeldt.
Zentraler Punkt: Information
Aber auch andere äußere Faktoren er- schweren eine sinnvolle Steuerung der Arzneimittelausgaben. Für Weigeldt ist nicht die stets beklagte mangelnde Da- tentransparenz das Hauptproblem. Die meisten Praxissoftwaresysteme verfüg- ten über Instrumente, die dem Arzt den Überblick über seine Verordnungen er- leichtern. „Das Problem ist aber, dass meine Verordnungskosten trotzdem hoch sein können, weil die Präparate teu- er sind oder sich Patienten mehrfach Me- dikamente verschreiben lassen.“ Um Manipulationen der Praxissoftware zu- gunsten von Pharmafirmen zu verhin- dern, führt die KBV außerdem Ge- spräche mit den Herstellern. „Ich würde es begrüßen, wenn wir hier zu einer Selbstverpflichtung kommen“, sagte Weigeldt.Außerdem müsse man die Leit- linienarbeit der Fachgesellschaften för- dern, die dann für bestimmte Indikatio- nen konkrete Präparate empfehlen.
Auch eine Kooperation zwischen Kran- kenhäusern und niedergelassenen Ärz- ten könne helfen, Multitherapie und teu- re Verschreibungen abzubauen. „Man kann aber nicht immer alles zwangsläufig durchsetzen“, gibt Weigeldt zu beden- ken. „Hier greifen die Schuldzuweisun- gen an die Ärzte zu kurz.Wir können un- sere Patienten nicht zu irgendetwas zwingen. Wir können nur versuchen, sie zu überzeugen.“ Letztlich kommt der KBV-Vorstand auf einen zentralen Punkt zurück: Information. Doch auch das Sparen hat Grenzen. „Wir haben es bei Arzneimitteln mit dem Instrument zu tun, mit dem die meisten chronischen Krankheiten behandelt werden“, sagte Weigeldt. „Es ist ein Wahn zu glauben, dass in einer älter werdenden Gesell- schaft das Gesundheitswesen vor allem zum Sparen da ist.“ Heike Korzilius P O L I T I K
A
A10 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 1–2⏐⏐9. Januar 2006