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Rezension: Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann

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Academic year: 2022

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VHN 3 | 2020

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REZENSIONEN

Speck, Otto (2019):

Dilemma Inklusion.

Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann München: Reinhardt.

146 S., € 19,90

Während ich am Lesen dieses interessanten Bu- ches war, sind mir immer wieder zwei subjektive Beobachtungen durch den Kopf gegangen: Zum einen ist es die Erinnerung an ein zufälliges Ge- spräch vor mehreren Jahren mit zwei mir vorher nicht bekannten Frauen in einer Heidelberger Gaststätte. Die eine outete sich als Mutter eines Mädchens mit geistiger Behinderung und erzählte mit Bezug auf Inklusion ihr ganz konkret erfahre- nes Dilemma. Sie sei eine überzeugte Anhängerin der Inklusionsidee und habe sich dafür eingesetzt, dass ihr Kind einen Kindergarten und eine Grund- schulklasse zusammen mit nichtbehinderten Kin- dern besuchen konnte. In den Anfangsjahren sei ihre Tochter von den Mitschülerinnen und -schü- lern akzeptiert und in viele schulische und außer- schulische Aktivitäten einbezogen gewesen.

Im Laufe des dritten Grundschuljahres sei sie jedoch immer häufiger alleingelassen worden und schließlich praktisch nie mehr zu gemeinsa- men Unternehmungen wie z. B. Geburtstagsfeiern eingeladen worden. Zum andern sind es die Beob- achtungen eines zunehmend schulleistungs- schwachen Jungen, der zusammen mit einem mir bekannten Jungen im Kindergarten war und jetzt in der vierten Klasse der Grundschule ist. Er fällt bezüglich Lernstand in den für den Schulerfolg zentralen Fächern immer weiter hinter denje- nigen seiner Mitschüler und -schülerinnen zurück und kann dem Klassenunterricht längst nicht mehr folgen. Dies bedeutet für ihn immer mehr isolierten Unterricht und Unverständnis bei den Schulkameraden für seine Unfähigkeit, ihnen sehr einfach erscheinende Aufgaben zu lösen und Fra- gen zum aktuellen Schulstoff zu beantworten.

Während die meisten auf einen möglichst erfolg- reichen Übertritt in die Sekundarstufe hoffen, bleibt für ihn diesbezüglich Perspektivlosigkeit, da eine Privatschule aus finanziellen Gründen kaum infrage kommen dürfte. Er kann den Druck des Dilemmas aktuell noch aushalten, indem er

zunehmend als „Kaspar“ die Aufmerksamkeit auf sich zieht und sich dadurch aber auch zunehmend als Sonderling ausgrenzt. Man fragt sich gezwun- genermaßen, welche Art von Schule ihm gerecht werden könnte. Für das Verständnis meiner Ver- unsicherung durch das „Dilemma Inklusion“ ist die Information wichtig, dass es sich bei diesem Jun- gen nicht um ein „Kind mit Immigrationshinter- grund“ und damit um ein Kind aus einer sprachlich benachteiligenden Familie handelt; ein Thema, das die aktuelle bildungspolitische Diskussion über Integration und Inklusion zu dominieren scheint.

Ich gehe davon aus, dass auch andere pädago- gisch engagierte Personen ähnliche subjektive Erfahrungen und Beobachtungen machen und dass sie Verunsicherung bezüglich der Idee einer inklusiven Schule erleben. Wenn diese Annahme zutrifft, ist Otto Speck zu danken, dass er das Thema „Dilemma Inklusion“ aufgreift und mit- hilfe von konkreten Beispielen aus der deutschen Schulentwicklung zu vertiefen versucht. Er be- ginnt mit einer kurzen Skizze der Vorgeschichte hin zur schulischen Integration bisheriger Son- derschüler und -schülerinnen. Beginnend mit ers- ten Modellschulen für „gemeinsames Lernen“ in den 1970er Jahren und gleichzeitig formulierten Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates skiz- ziert er anschließend die Impulse aus Italien, des- sen sonderschulfreies Schulwesen in den 1980er Jahren als Vorbild für die Integrationsentwick- lung galt. Interessant auch die Darstellung der Differenzen in der Sichtweise von Integration zwischen Vertretern der sonderpädagogischen Wissenschaft und den Praktikern in den damali- gen Sonderschulen sowie die Einstellungen von Eltern behinderter Kinder und von Behinderten- verbänden. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Annahme der UN-Behinderten- rechtskonvention in Deutschland. Fragen der

„richtigen“ Übersetzung und Auslegung sind im- mer wieder mal aufgeworfen worden. So kritisiert Speck, dass das in dieser Konvention geforderte inklusive Schulsystem fälschlicherweise immer wieder so definiert wurde, „dass der Begriff ‚in- klusiv‘ nur auf den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung bezogen wur- de, also auf eine Vollinklusion mit der Forderung, dass die bestehenden Förderschulen als ‚ausgren- zende‘ Einrichtungen abzuschaffen seien. In der UN-BRK findet sich jedoch für diese totalisierende Auslegung keine Belegstelle“ (S. 31). Nach Specks

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REZENSIONEN

These wurde von der Bildungspolitik die völli- ge Abschaffung der Förderschulen anschließend vorwiegend finanzpolitisch favorisiert, während die Konvention eigentlich auch weniger radikale, aber vermutlich teurere Lösungen zulassen wür- de. An anderer Stelle verweist er deshalb auf Ar- tikel 24, Absatz 2, der UN-BRK, wo es heißt, dass

„c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnis- se des Einzelnen getroffen werden; d) für Men- schen mit Behinderungen innerhalb des allgemei- nen Bildungssystems die notwendige Unterstüt- zung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“ (S. 63). Im Rahmen der Umset- zung der UN-BRK in Deutschland greift Speck natürlich auch die nicht nur in Deutschland doku- mentierte „auffällig gewachsene Inklusionsquo- te“ auf, die er so kommentiert: „Auf jeden Fall sind es Kinder, die zwar durch Lernprobleme auf- fallen, jedoch keinen ‚sonderpädagogischen För- derbedarf‘ aufweisen, der sie früher zu Förder- schulkindern gemacht hätte. Das heißt, der Be- griff des ‚sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ ist definitorisch ausgeweitet worden, z. B. zur Be- schaffung zusätz licher schulischer Ressourcen für

‚Inklusionskinder‘“ (S. 66). Möglicherweise besteht diesbezüglich auch ein Zusammenhang mit den an späterer Stelle thematisierten „Überforderun- gen für Lehrerinnen und Lehrer“ (S. 73).

Nachdem die Entwicklungen in Deutschland im Hinblick auf das Ziel einer inklusiven Schule skiz- ziert und kritisch analysiert worden sind, schrei- tet Speck zum Versuch, das mit Inklusion erfahre- ne Dilemma in einen allgemeineren theoretischen Rahmen zu stellen. Eine treffende Formulierung findet er in der Literatur zur allgemeinen Di- lemmaforschung: „Unter dem Begriff Dilemma ist eine Zwangslage zu verstehen, die sich dadurch bildet, dass bei einer Wahl zwischen zwei Alter- nativen für die Lösung eines Problems keine von beiden klar zu favorisieren ist (Norwich 2008, 288)“ (S. 100). Damit deutet sich an, in welche Richtung das letzte Kapitel über die „Grundlagen für ein realisierbares inklusives Schulsystem“

(S. 109) weist. Specks Argumentationsstränge können nur auf einen Kompromiss zwischen dem Prinzip „Inklusion“ und dem Prinzip „Separation“

hinauslaufen. In einfacher Formulierung heißt es deshalb am Ende des Buches: „Ein Ausweg aus dem entstandenen Dilemma wird in einem dual organisierten Inklusionsmodell aus priorisierten Regelschulen und zahlenmäßig reduzierten För-

derschulen liegen. Dieser gilt auch international als Regel. Diese Folgerung wird durch die Klarstel- lung gestützt, dass sich das Menschenrecht auf Inklusion auf das generelle Bildungsrecht aller Kinder mit einer Behinderung bezieht und das Förderschulwesen eindeutig als Teil des allgemei- nen Bildungssystems gilt“ (S. 133).

Otto Speck hat erneut ein lesenswertes und mei- nes Erachtens gut verständliches Buch publiziert.

Es wird wohl teils auf Zustimmung und teils auf Ablehnung stoßen. Aber es ist gleichwohl zu hof- fen, dass dieses Buch beiden Seiten die Augen dafür öffnet, dass wir uns in einem nicht durch Sturheit überwindbaren Dilemma befinden. Wenn man bedenkt, dass die gesellschaftliche Funktion der Schule nach wie vor Selektion und Allokation ist und diese wahrscheinlich noch sehr lange be- halten wird, verschärft sich das „Dilemma Inklu- sion“. Ich hätte es geschätzt, wenn Otto Speck diese gesellschaftliche Funktion deutlicher he- rausgearbeitet hätte, als es der Fall ist. Aber viel- leicht hätte er dadurch seinem Anliegen eher geschadet, „einen Kommunikationsstil zu prak- tizieren, der Türen öffnet bzw. Brücken baut, um bessere Integrationsmöglichkeiten und mehr Raum für realisierbare Perspektiven zu ent- wickeln“. Als letzter Satz folgt: „Ich hoffe, hierzu mit diesem Buch einen Beitrag leisten zu kön- nen“ (S. 135). Und es ist zu hoffen, dass er die Wirkkraft von Geschriebenem nicht überschätzt.

Prof. em. Dr. Urs Haeberlin CH-8050 Zürich

DOI 10.2378/vhn2020.art27d

Schmidt, Marion;

Werner, Anja (Hrsg.) (2019):

Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Bielefeld: transcript.

428 Seiten, € 39,99

Das Buch ist Teil der im transcript Verlag erschei- nenden Buchreihe „Disability Studies: Körper – Macht – Differenz“, die „,Behinderung‘ als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion“

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