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FORTSCHRITTE DER MEDIZIN
L M>4iiziniiM-hcr \ erlag 11 A.X S PUSCH G. in. b. H., Herlin SW 11, StresemamisiraÖc 13 t?7 ' Verantuortl. Schrift leitung: Dr. F. DÖRBI.Ck. Bciiin-Stcglftz. Heinrich-Seide.-Str. 3
ZiMMisos \ Berlin, 13. November 1933 51. Jahrg.
Il Universltatls 1 ~~
J Taftusnsls 8 Sonderdruck.
Die Universitäts-Augenklinik zu Dorpat- Jurjew-Tartu 1868— 1931.
Von Prof, einer. Dr. E. BLESSIG.
Wie an fast allen Universitäten, so war auch in Dorpat die Ophthalmologie bis in die zweite Hälfte des XIX. Jahr
hunderts (1804—1867) mit der Chirurgie vereinigt. Die Augen
kranken wurden in der gemeinsamen chirurgisch-ophthal- mologischen Klinik behandelt, und dem Chirurgen lag auch der Unterricht in der Augenheilkunde ob. Nachdem 1842 eine zweite chirurgische Professur geschaffen war, wechselten beide Chirurgen jährlich oder semesterlich in der Leitung der Klinik ab. Von den Chirurgen jener Zeit ist es Professor Dr. Georg Adelmann, der am längsten im Amt (1841—1871, mithin volle drei Jahrzehnte) zugleich die Augen
heilkunde am meisten gepflegt und sich auch in der ophthal- mologischen Literatur einen Namen gemacht hat. Aus seinen Berichten1) erfahren wir viel über die Vorgeschichte unserer Augenklinik. In ihrem statistischen Teil umfassen sie die ganzen Zeiträume 1805—1842 und 1843—1867 (d. h. vor und während Adelmanns Tätigkeit), im ganzen mithin 63 Jahre. Im ersten Zeitabschnitt betrugen die Augenkranken etwas über ein Drittel aller stationären Kranken der chirur- gisch-ophthalmologischen Klinik (4740 von 12 264), im zweiten aber fast die Hälfte (9150 von 19 598). Diese Berichte Adel
manns geben uns ein Bild von dem klinischen Material, welches damals viel ausschließlicher als heute vom Trachom beherrscht war. Die Nomenklatur jener Zeit weicht allerdings vielfach von der gegenwärtigen ab, manche dort gebrauchten Bezeichnungen sind uns heute schon fremd. Hier erfahren wir
auch manches über die damaligen Verhältnisse des klinischen Unterrichts und des Medizinstudiums überhaupt, die Zahl der Medizin Studierenden usw. Endlich enthalten diese Berichte auch noch mancherlei Angaben von ethnographischem und kulturhistorischem Interesse. Sie haben auch Hirsch
bergs") ausführlicher Darstellung zugrunde gelegen.
1867 wurde die selbständige Universitäts-Augenklinik gegründet. Zu dem Zweck wurde ein Privathaus an der Ecke des Wallgrabens und der Marienhof sehen Straße ange
kauft, das bis heute einen Teil der Klinik beherbergt: unten Ambulanz, Untersuchungszimmer, Auditorium, oben — Bi
bliothek und einige Dienstwohnungen. Der große zweistöckige, hölzerne Flügel, in dem heute die Station (unten die männ
liche, oben die weibliche) sowie unten das Laboratorium, oben das Operationszimmer untergebracht sind, wurde erst 1882 errichtet. Im Januar 1868 wurde die neue Klinik unter der Leitung Prof. Dr. Georg von Dettingens, bis dahin Leiter der 2. Chirurgischen Klinik, eröffnet. Seine Berichte über die ersten Jahre (1868—1878)-) 3) geben ein vollständiges Bild von der Tätigkeit der Klinik. Die Zahl der ambulatorischen Kranken stieg mit einigen Schwankungen von 721 im Jahre 1868 auf 1558 im Jahre 1878, betrug für das ganze Jahrzehnt 15 464, mithin durchschnittlich im Jahre 1547.
Für die stationären Kranken waren die entsprechenden Zahlen: 131 im Jahre 1868, 191 im Jahre 1878, in 10 Jahren 1616, mithin pro Jahr 162.
Im Vordergründe des Interesses steht nach wie vor das Trachom, seine vermutliche Aetiologie, die operative Be
seitigung seiner Folgezustände (Trichiasisoperation) usw.
Aber auch auf die Bedeutung des Allgemeinbefindens, der Disposition, insbesondere der „lymphatischen' Konstitution, für Entwicklung und Verlauf des Trachoms, wird hier schon hingewiesen. Hier findet sich auch die erste, schon sehr charakteristische Beschreibung des Amyloids der Binde
haut auf dem Boden alten Trachoms, ein Thema späterer Dissertationen. Sehr beachtenswert sind von Dettingens Ausführungen über den klinischen Unterricht, seine Aufgaben und seine Durchführung bei bescheidenem klinischen Material.
Wenn in diesen nun schon ein halbes Jahrhundert zurück
liegenden klinischen Berichten uns auch manche Anschauung,
manche Behandlungs- oder Operationsmethode vielleicht be
fremdlich erscheint, so dürfen wir nicht vergessen, unter wie anderen Bedingungen die Fachgenossen jener Zeit zu arbeiten hatten, wie viele Erkenntnisse und technische Hilfsmittel sie bei Untersuchung, Behandlung und Operation (Asepsis!
Anaesthesie! usw.) entbehren mußten, die uns heute selbst
verständlich scheinen. Dann lernen wir ihre Leistungen noch höher schätzen. Von von Oettingens größeren Arbeiten sei hier auch die über die indirekten Läsionen des Auges bei Schußverletzungen der Orbitalgegend, nach Erfahrungen des russisch-türkischen Krieges (1877—1878) besonders erwähnt.
1868—1876 bekleidete von Oettingen das Amt des Rektors der Universität. Ende 1879 wurde er emeritiert, nachdem er vorher (1878) zum Stadthaupt von Dorpat erwählt worden war.
Sein Nachfolger wurde Prof. Dr. Eduard Raehl- mann, bisher Privatdocent in Halle. 21 Jahre lang hat Raehlmann in Dorpat gewirkt und in dieser Zeit eine ganze Reihe von Schülern, nachmals bekannten Augenärzten, herangebildet. 1882 erreichte er den Ausbau der Klinik zu ihrer gegenwärtigen Gestalt. Die zahlreichen wissenschaft
lichen Arbeiten aus seiner Dorpater Zeit betrafen hauptsäch
lich das Trachom (pathol. Anatomie, Pannus, Amyloid), die Trichiasisoperation (Marginoplastik u. a.), ferner die hyper
bolischen Gläser bei Keratoconus, die an den Netzhautgefäßen sichtbaren Veränderungen bei allgemeinen Störungen des Gefäßsystems, Untersuchungen über den Farbensinn u. a.
Seine klinischen Berichte (1879—1882) waren mir leider nicht zugänglich. In den 90er Jahren setzte bekanntlich die Russi- fizierung der Universität ein, 1900 verließ Raehlmann als einer der letzten noch deutsch vortragenden Professoren Dorpat, um zunächst nach Weimar überzusiedeln.
An seine Stelle wurde 1900 F. О. E w e t z к i, a. o. Prof, der Moskauer Universitätsklinik, ernannt. 1886 war er hier in Dorpat auf Grund seiner Dissertation: ,,Zur Kenntnis der Kolobomcysten“ zum Dr. med. promoviert worden. Als an
regender Lehrer und fruchtbarer Forscher hat er 9 Jahre an hiesiger Klinik gewirkt. Besonderen Fleiß widmete er dem Laboratorium. Seine Arbeiten betrafen vorwiegend ent
wicklungsgeschichtliche und pathologisch-anatomische (Miß
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Bildungen, intraoculare Tumoren usw.), aber auch klinische Themata. Mit seinen Schülern gab er die ,,Mitteilungen aus der Augenklinik in Jurjew“ heraus*). (2 Sammelhefte in deutscher Sprache.) Hier beobachtete und beschrieb er auch (1904) als einer der ersten den sehr seltenen Befund einer lebenden Fliegenlarve in der Vorkammer. 1909 erlag E w e t z к i einem Schlaganfall, allgemein anerkannt und be
trauert. (Siehe Nachruf: Klin. Mon. f. Augenheilk , 1909, I, S. 647.) Noch viele Jahre später erinnerte an ihn die von ihm im Vorgarten der Klinik angelegte schöne Rosenkultur.
Nach seinem Tode blieb der Lehrstuhl 2 Jahre lang unbe
setzt. Während dieser Zwischenzeit war die Klinik und der Unterricht an ihr dem verdienstvollen, langjährigen (1904 bis 1913) I. Assistenten Dr. Jahn Osolin (gest. 1930) anver
traut. Erst 1911 wurde der Privatdocent und Assistent der Moskauer Klinik A. G. Ljutkewitsch berufen. Ihm waren hier nur wenige Jahre normaler akademischer Tätig
keit beschieden, dann brach der Weltkrieg aus und in seinem Gefolge die Revolution. Nach der Einnahme Rigas 1917 durch die Deutschen wurden die Universitätsinstitute evakuiert, die Dorpater Universität nach W о г о n e ž über
geführt. Beim Herannahen der Okkupation siedelte mit den meisten russischen Professoren auch Ljutkewitsch dort
hin über. Dort ward ihm die schwere Aufgabe zuteil, mitten in den Wirren des Bürgerkrieges und in schwerster Notzeit am neuen Ort eine Augenklinik zu schaffen und als Dekan die medizinische Fakultät zu organisieren. Für erstere stand ihm das evakuierte Inventar der Dorpater Klinik zur Ver
fügung. Was davon später (1921) auf Grund des Friedens
vertrages nach Dorpat zurückgebracht wurde, waren meist wertlose Sachen. In Woronež hat Ljutkewitsch noch ein Jahrzehnt gewirkt, 1928 ist er dort gestorben. Seiner Wirksamkeit und seiner Persönlichkeit wird der sehr ehrende Nachruf im ,,Russk. oftalmol. Zumal“, 1928, S. 537, gerecht.
Von den wissenschaftlichen Arbeiten Ljutkewitsch s sei hier seine Moskauer Dissertation (1904): ,,Resultate der operativen Behandlung hochgradiger Kurzsichtigkeit“ er
wähnt.
*) Dorpat war inzwischen (1893) in Jurjew umbenannt worden Die Schriftleitung.
Die nächsten ereignisreichen zwei Jahre brachten auch unserer Augenklinik sehr wechselvolle Geschicke und schwere Störungen: während der deutschen Besetzung (1918) wirkte hier vorübergehend Prof. Dr. Walther Löhlein, damals Professor der Ophthalmologie in Greifswald, später in Jena, jetzt in Freiburg. Während des Freiheitskrieges 1919 war in der Klinik ein Lazarett des Roten Kreuzes untergebracht, später das Reichsgericht, schließlich wurden in ihr einige zurückkehrende Optanten beherbergt. Die Augenambulanz war zeitweilig in die Frauenklinik verlegt, von Dr. Jahn О s о 1 i n unter Assistenz von Dr. Karl Vogel besorgt.
Dieselben wurden auch bei der Neueinrichtung der Estnischen Staatshochschule ,,Tartu“ bis auf weiteres wieder mit der Führung der Klinik betraut.
Im Dezember 1920 berief die Fakultät auf den Lehrstuhl der Ophthalmologie Dr. Ernst В1 e s s i g , bis dahin Direktor der staatlichen Augenheilanstalt zu St. Petersburg.
Dieser konnte unter den damaligen Umständen dem Ruf nicht sogleich folgen, sondern erst nach erledigter Option im April 1921 sein akademisches Amt an der verwaisten Klinik an
treten. Nach allem Ueberstandenem bot sie ein recht trauriges Bild: in allen ihren Räumen verwahrlost, fast ihrer ganzen Einrichtung beraubt. Das meiste Mobiliar, fast alle Lehr
mittel, Instrumente, Wäsche bis auf spärliche Reste, die große und wertvolle Bibliothek, eine reiche Sammlung von Präparaten aus der Zeit Raehlmanns und E w e t z к i s
— alles war bei der „Evakuation“ nach Woronež gewandert, und das meiste kam bei der „Reevakuation“ nicht zurück.
So galt es nun, alles wieder instand setzen und neu einrichten.
Dank reichlichen, von der Universitätsverwaltung gewährten Krediten geschah das ziemlich bald, so daß schon mit dem II. Semester 1921 der normale Klinikbetrieb und auch der regelrechte Unterricht aufgenommen werden konnten. In den folgenden Jahren konnte noch manches an Apparaten und sonstigen Einrichtungen vervollständigt und auch wieder eine reichhaltige Bibliothek zusammengebracht werden. Der um die Klinik so verdiente Dr. Jahn Osolin schied nun aus dem Dienst. Dr. Karl Vogel verblieb als 2 Assistent noch bis Ende 1922. An die Stelle des 1. Assistenten trat 1921 Dr. J. U u d e 11 , an die des 2. Assistenten 1923 Dr.
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Oskar Kuriks. Beide habilitierten sich in der Folge als Privatdocenten : Dr. 0. Kuriks 1923 und Dr.
J. Uudelt 1930. Prof. Dr. E. Biessig wurde 1930 eme
ritiert und ihm zunächst noch für das erste Semester 1930 der Lehrauftrag erteilt. Im nächsten Semester, 1930 II, ging der Lehrauftrag auf Dr. J. Uudelt über, der dann zum Docenten der Ophthalmologie und zum Leiter der Klinik ernannt wurde.
Quellen:
*) Adelmann: Geschichtl. u, statist. Rückblicke auf die Augenklinik der Kaiserl. Universität zu Dorpat von ihrem Beginn bis z, J. 1867 (D. Archiv f. Geschichte d, Medizin u, mediz.
Geogr. IV 1881).
2) V. Dettingen: Die ophthalm. Klinik Dorpats in d. 3 ersten Jahren ihres gestehens (1868—70) (Dorpater Med. Zeitschr. 1871.
Sonder-Abdr. Dorpat 1871).
3) V, Dettingen: Ber. üb. d. Wirksamkeit d. Dorpater ophthalmol, Klinik i. d, Jahren 1868—78 (Dorpat 1879).
4) Grünfeld: Verz. d. v. d. mediz, Fakultät zu Dorpat seit ihrer Gründung veröffentl. Schriften (histor. Studien a. d. phar
makologischen Institut Dorpat, herausg. von Prof. R. К о b e r t. 1893).
5) Lewizki: Biographisches Lexikon d. Professoren u. а Lehrkräfte d. Kaiserl. Universität Jurjew (1802—1902), russ. 1903 H). Hirschberg; Geschichte d. Augenheilkunde. Handb Graefe - Saemisch II. Aufl, Die Augenärzte Rußlands. Univers.
Dorpat. S, 230 ff. 1916 (in 5) und e) biograph. Daten über: Adel
mann, v. Dettingen, Raehlmann, Ewetzki).
7) В 1 e s s i g : Ophthalmolog, Bibliographie Rußlands 1870 bis 1920 (Acta et commentationes Univers. Tartuensis (Dorpatensis) 1922.
s) Personalverzeichnisse der Universität.
Druck:
G e h i i n g ä R e i m e r s G. m. b. II., Berlin SW 68.