Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 25|
24. Juni 2011 425M E D I Z I N
EDITORIAL
Hören – das Tor zu Sprache und Geist
Hans Peter Zenner
Editorial zu den Beiträgen:
„Früherkennung von Schwerhörig-
keiten im Neuge- borenen- und Säuglingsalter“
von Martin Ptok und „Differenzial -
diagnose der Schwerhörigkeit“
von Thomas Zahnert auf den folgenden Seiten
Schwerhörigkeit – ein Tabuthema
Wir Hörenden, die wir das Hören als selbstverständ- lich ansehen, wir verdrängen diejenigen, die es nicht können, in eine gesellschaftliche Minoritäts- und Marginalsituation. Die Masse der hörenden Men- schen ist einerseits erfahrungsgemäß nur im be- grenzten Ausmaß bereit, zeitweise Bedingungen hinzunehmen, die ein volles Einbeziehen einzelner Gehörloser in dem lautsprachigen Umgang ge - währleisten. Andererseits ist bereits ein Fünftel der Deutschen schwerhörig. Viele Hörenden bemerken es nicht, denn Schwerhörigkeit ist nach wie vor ein Tabu.
Die Schwerhörigkeit ist eine stille Krankheit in zweifacher Hinsicht: Der Kranke hört Stille, und er spricht nicht von seiner Schwerhörigkeit, er bekennt sich nicht dazu – er zieht sich in die kommunikative Isolation zurück –, der Hör-Sprach-Kreis ist zerstört.
Interessenkonflikt
Prof. Zenner hält zahlreiche Patente, die mit der Behandlung von Hörstörungen im Zusammenhang stehen. Er hat Forschungsgelder oder Kongressunterstüt- zung von den Firmen Otologics, Cochlea sowie Med-El erhalten.
LITERATUR
1. Zenner HP: Hören, Wahrnehmung, Kommunikation. HNO I 1995; 2:
39–58.
2. Ptok M: Early detection of hearing impairment in newborns and in- fants. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(25): 426–31.
3. Zahnert T: Differenzialdiagnose der Schwerhörigkeit. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(25): 432–43.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Hans-Peter Zenner Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik Elfriede-Aulhorn-Straße 5 72076 Tübingen
hans-peter.zenner@med.uni-tuebingen.de
Hearing—the Gateway to Speech and Cognition
Zitierweise
Zenner HP: Hearing—the gateway to speech and cognition. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(25): 425. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0425
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The English version of this article is available online:www.aerzteblatt-international.de
H
ören heißt, ein Schallsignal aufzunehmen. Hö- ren bedeutet aber vor allem, ein Schallsignal aktiv zu verarbeiten. Der Schall wird vom Innenohr aufgenommen und nicht etwa einfach in ein elektri- sches oder biochemisches Signal übertragen, das dann an das Gehirn weitergegeben wird. Nein: Hören ist bereits im Innenohr ein aktiver Prozess. Schall ist Anlass für eine Gruppe von 20 000 Sinneszellen – den äußeren Haarzellen –, selbst eine Wanderwelle zu produzieren, die im gesunden Ohr grundsätzlich nicht identisch ist mit der von außen eintreffenden Schallwelle. Zumindest wird sie mehr als tausend- fach verstärkt und verschärft.Bedeutung des Hör-Sprach-Kreises
Wenn Sprache gehört wird, dann hat sie eine dialogi- sche Struktur. Der Hör-Sprach-Kreis ermöglicht eine Beziehung zwischen Menschen. Gesprochene Worte, gehörte Worte lassen Menschen miteinander eine Verbindung aufnehmen. Zuhören ist der kommunika- tive Weg zur Partizipation und damit zur Erfassung der individuellen Wirklichkeit unseres Gegenübers.
Teilnahme und Kommunikation sind Fundamente ei- nes humanen Lebens.
Da Zuhören eine Kommunikation und dadurch ei- ne Teilnahme erlaubt, ist damit fast immer eine Her- meneutik verbunden. Das Dahinter, der Sinn sollen im Bewusstsein erscheinen. Hören ist die dominie- rende Sinneswahrnehmung, zumindest in den ersten Jahren des Lebens. Hören spielt eine entscheidende Rolle für die Erziehung und Bildung, für Glaube und Emotion, für Sprache und Gewissen (1).
Doch wie geht es dem Menschen, der das Wunder des Hörens nicht erleben darf? „Nicht zu sehen trennt von den Sachen, nicht zu hören von den Men- schen“ ist ein Gedanke, der auf Kant zurück geht.
Martin Ptok weist auf die Bedeutung des Hörscree- nings bei Neugeborenen hin (2). Ein Hörscreening ist unabdingbar, um die frühkindliche Schwerhörigkeit zu entdecken. Nur wenn Schwerhörigkeit und Gehörlo- sigkeit rechtzeitig erkannt werden, können die moder- nen Verfahren der Otologie – wie zum Beispiel Hörge- räte, eine Operation oder die Einbringung eines Coch- lea-Implantats – dem Kind in der Hauptplastizitätspha- se des Gehirns erlauben, die Muttersprache zu erlernen.
Thomas Zahnert weist auf die schwerwiegenden sozialen Folgen für den Erwachsenen hin, bei dem der Hörverlust sich mit dem Verlust des Sprachver- stehens in unglücklicher Weise verbindet (3). Sozia- ler Rückzug, sei es privat, sei es beruflich, sind nicht selten die Folge.
Universitäts- Hals-Nasen-Ohren- Klinik Tübingen:
Prof. Dr. med.
Dr. h. c. mult. Zenner