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Archiv "Vom „Fach“ und „Facharzt für Psychotherapie“" (02.10.1975)

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Aufsätze • Notizen Änderung des § 218

stunde beansprucht. Die lügen nicht, sondern sie wissen es ein- fach nicht genau, so daß das müh- sam herausgebastelte Datum kei- nen ernsthaften Wert hat.

Unlautere Rechnerei

Arglose Gemüter vermeinen, die Fristgelehrten unter den Gesetzes- schmieden handelten nach bestem Wissen und Gewissen so zuver- sichtlich, weil sie nicht ausrei- chend darüber orientiert wären, daß sie mit utopischen „Fristen"

jonglieren, die trotz der gesetzlich gemeinten Präzision des 13. und 14. Tages, der 12. und der 22. Wo- che (inklusive der Varianten nach Eser) allesamt überhaupt kein Ende haben, weil der Beginn die- ser unlauteren Wunschrechnerei nicht feststellbar ist. Das stimmt aber nicht! Die wissen über den speziellen Charakter ihrer „Daten- verarbeitung" sehr genau Be- scheid. Jeder Bundestagsabgeord- nete und jedes Mitglied des Bun- desrats sowie des Bundesverfas- sungsgerichts in Karlsruhe haben die einschlägigen Arbeiten zuge- stellt bekommen. Sachlich hat sich auch keinerlei Widerspruch erho- ben. Der bürgerlichen Aufklärungs- pflicht wurde also genügt.

Woher kommt nun das Bedürf- nis nach jenen schrägen Fristen?

Nun — ganz einfach — der Gesetz- geber benötigt die Utopie als Tar- nung. Vermutlich wäre es ehrli- cher, den ganzen § 218 abzu- schaffen — es würde sich kaum et- was ändern —, aber das geht nicht, weil dann prompt wieder ein Stö- renfried das Grundgesetz bemühen würde. Also muß der umstrittene Paragraph nominell in Kraft blei- ben. Dieses Kraftfeld läßt sich frei- lich mit so vielen Ausnahmen von der Regel so durchlöchern, daß praktisch nichts mehr davon übrig- bleibt. Am geeignetesten hierzu ist die sogenannte „soziale Indika- tion", die jetzt etwas schamhaft in

„die Gefahr einer schwerwiegen- den Notlage" umgetauft wird. Die- se omnipotente Generalindikation

soll allerdings ebenfalls in den er- sten zwölf Wochen nach dem Tag der unbekannten Empfängnis erle- digt werden (von der 13. Woche an scheinen sich jene „Notlagen" zu bessern...).

Der durch jene Spiegelfechterei unwirksam gewordene Paragra- phentorso dient dann nur noch als vokales Alibi, daß die Abtreibung immer noch strafbar sei. Als Be- weis für die Strafbarkeit braucht man für jenes Pro-forma-Gebilde natürlich einen Personenkreis, den man notfalls mit einer Geldstrafe zur Rechenschaft ziehen oder auch zu einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren verurteilen kann.

Prügelknaben werden die Ärzte

Bekanntlich gehen die Frauen künftig straffrei aus. Demnach blei- ben nur die Ärzte übrig, die den Hammel darstellen sollen. Nur die Ärzte und speziell die Gynäkologen sollen gegebenenfalls den Prügel- knaben spielen: „Zur Aufrechter- haltung des Schutzes für das kei- mende Leben". Dementsprechend dienen wir gleichzeitig als „Feigen- blatt" (Prof. Blaha) für die gesamte Bigotterie. Wenn man nun Feigen- blätter in das Herbarium des Ge- fängnisses preßt, verdecken sie al- lerdings nichts mehr. Alles in allem ist das kein vornehmer Lohn für die einschlägige Arbeit.

Augenzwinkernd wurde bereits an- gedeutet, daß die Justiz in „Irr- tumsfällen" von einer Bestrafung Abstand nehmen kann. Wahr- scheinlich wird der „jurisprudentli- che Notfall" nur bei einer der nie ganz zu vermeidenden Abtrei- bungsleichen eintreten, wenn der Pathologe feststellt, daß in diesem Fall die indikationsgebundene

„Frist" um ein bis zwei Monate überschritten worden ist. Die ein- gebauten irrealen „Fristen" könn•

ten sich dann als Gummielastikum des neuen Kautschukparagraphen auswirken — vielleicht sogar in der Richtung mildernder Umstände.

Aber — haben wir Ärzte das ei-

gentlich nötig! Außerdem haben wir etwas gegen Kann-Bestimmun- gen an Stelle klarer Rechtsverhält- nisse einzuwenden.

Auch ein demokratischer Staat ver- liert an Ansehen, wenn er tenden- ziös gezielte Zwecklegenden zum

„Gesetz" erhebt; und die Regie- rung, die das macht, gewinnt sel- ten an Glaubwürdigkeit — jedoch haben wir Ärzte das nicht zu ver- treten.

Als immer noch etwas idealistisch angehauchter alter Arzt habe ich eine ganz andere Sorge. Wenn wir zu alledem beflissen schweigen, obwohl wir den gesamten Fristen- schwindel durchschauen, verlieren auch wir Ärzte den Vertrauenskre- dit bei unseren Patienten! Und das ist auch gesundheitspolitisch sehr ernst zu nehmen. Politiker nehmen so etwas nicht so ernst — es sei denn, sie werden selber einmal Pa- tient. Dann wird das immer auf Wahrhaftigkeit und Offenheit grün- dende Vertrauensverhältnis zwi- schen Arzt und Patient wieder hoch gehandelt, und der „Arzt" hö- her eingestuft als der medizinische Erfüllungsgehilfe.

In diesem Sinne der Offenheit ist zu hoffen, daß die deutlichen Aus- führungen nicht allzusehr mißver- standen werden.

Nach diesem Denkanstoß wäre es erfreulich, wenn sich unsere verant- wortlichen Bundestagsabgeordne- ten nach der Sommerpause denn doch noch etwas Besseres einfal- len lassen würden als jene über- flüssigen „Fristen ohne Ende".

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Dr. Eberhard Schaetzing 813 Starnberg

Am Hochwald 17

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 2. Oktober 1975 2771

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Aufsätze • Notizen

FORUM

Im Zug der Umwälzungen, die über die gesamte Medizin, über die Ner- venheilkunde besonders, heraufzie- hen, ist auch der „Facharzt für Psychotherapie" aufgetaucht. Seine Befürworter werfen den großen zeitlichen und finanziellen Auf- wand in die Waagschale, der für die Fortbildung in Psychoanalyse, Psychotherapie (erstere ein relativ geschlossenes Theroriegebäude im weiten Theoriegelände letzte- rer) zu erbringen ist. Auch verlan- ge, so sagen sie, die Gesellschaft,

die emanzipiert Psychotherapie dringender denn je benötige, unab- weisbar deren Aufwertung.

So interessant, begründet, notwen- dig psychotherapeutische Theorie und Praxis sind und so unbestritten die Erfolge, die auf dem Boden die- ser oder jener Theorie zum Bei- spiel von Freud, Jung, Adler, Rank, Reik, Horney, Fromm-Reichmann, Schultz-Hencke, Schultz, Binswan- ger, Lungwitz, Frankl, Szondy, Mo- reno, Rogers, Eysenck, Janov und von vielen, vielen anderen erreicht werden, so bleiben doch gewisse Lücken, das Loch zum Beispiel in der wissenschaftlichen Verbind- lichkeit des „Faches".

Von Freud

Ob etwa Libido sich auf Sexualität beschränkt oder allgemein den Le-

benstrieb beinhaltet, worüber Freud und Jung sich stritten, ob Freuds „Libidotheorie" oder Schultz-Henckes „Sprengstück- theorie" die Wahrheit ist, ob es Freuds „narzißtischen Primärzu- stand" gibt oder Balints „lieben- den", ob im „Es" „Sexual- und Ich- triebe" wirken, wie Freud vor 1920

meinte, oder „Eros und Todes- trieb", wie er, krank und alternd, nach 1920 es vertrat, ist, um nur ei- nige Beispiele, Grundlagen im- merhin der „relativ geschlossenen"

„analytischen Psychotherapie", zu nennen, das eine wie das andere bis zur Stunde unbestimmt. Selbst

„Fachgesellschaften", die sonst mit immer großartigeren Vorstel- lungen von „fachpsychotherapeuti- scher" Qualität und Qualifikation aufwarten, stimmen überein, daß in der Psychotherapie kaum etwas ist, was übereinstimmend gesehen und gedeutet würde. So etwa lautete das Schlußwort beim letzten ge- meinsamen Kongreß der Deut- schen Gesellschaft für Psychothe- rapie und Tiefenpsychologie (DGPT) und der Allgemeinen Ärztli- chen Gesellschaft für Psychothe- rapie (AÄGP) 1973 in Berlin. Der Stellenwert der Theorien, der senschaftlichen Grundlagen eines Faches, schrumpft dann mitunter plötzlich.

So sagt Dührssen in ihren „Kata- mnestischen Ergebnissen bei 1004

Patienten nach analytischer Psy- chotherapie" (auf diese Arbeit stützt sich immerhin wesentlich die Kassenleistungspflicht): „Obgleich sich unsere Mitarbeiter (die am

„Zentralinstitut für psychogene Er- krankungen" der AOK Berlin alle die gleichen Erfolge erzielten) zu den verschiedenen sogenannten Schulen der Psychoanalyse oder Psychotherapie rechnen, scheinen mir doch die Unterschiede in der Praxis nicht so groß zu sein, wie es ihre Unterschiede in der theoreti- schen Beschreibung der Empirie manchmal nahelegen möchten. Es bleibt natürlich zu erörtern, wie man die beschriebene Behand- lungsmethode nennen soll. Die Dis- kussion darum, unter welchen Be- dingungen man es mit Psychothe- rapie, Psychoanalyse oder mit ana- lytischer Psychotherapie zu tun habe, ist ja zur Zeit noch lebhaft im Fluß ...".

Solches ist manchmal noch das Mildeste, was dem „Fach" von sei- nen angesehensten Vertretern be- scheinigt wird, von Riemann etwa (neulich in der Süddeutschen Zei- tung): „Wenn man mehr als die biographische und triebstrukturelle Seite seiner Patienten kennen möchte, sollte man das Horoskop einbeziehen. Es gibt uns die Mög- lichkeit einer individuellen Fokal- therapie, also des gezielten Ange- hens der spezifischen Problematik eines Patienten.

Vor allem in Zeiten stagnierender analytischer Arbeit . . . kann das Horoskop sehr hilfreich sein. Die Gefahr der Voreingenommenheit des Analytikers erscheint mir dabei nicht größer als bei irgendeinem anderen theoretischen Konzept ..."

Und Erikson: „So entdeckte Freud ein weiteres Prinzip seines Werkes, daß nämlich die psychologische Entdeckung begleitet ist von einer gewissen irrationalen Beteiligung des Beobachters, und daß sie ei- nem anderen nicht mitgeteilt wer- den kann ohne eine gewisse irra- tionale Beteiligung beider. Das ist der Stoff, aus dem die Psychologie besteht ...".

Vom „Fach" und „Facharzt für Psychotherapie"

Friedrich Weinberger

Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychotherapie sind so ge- artet, daß die Einrichtung eines „Facharztes für Psychotherapie" eine Contradictio in se wäre. Notwendig ist vielmehr eine Integration der Psychotherapie in Medizin und (besonders) Psychiatrie — eine Auf- gabe nicht nur für die Psychotherapeuten, sondern viel mehr noch für die Psychiater: Hirn und Seele können nicht voneinander ge- trennt werden.

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Aufsätze • Notizen

„Fach" Psychotherapie

Vag die Wissenschaft, aber gran- dios die Ansprüche. Keine mensch- liche oder soziale Regung mehr, bei der das „Fach", Konglomerat dehnbarer, bruchstückhafter, häufig widersprüchlicher Axiome, sich nicht als hilfreich und als kompetent erklärte. Aus den Hypothesentüten Freuds und mancher anderer sind

„Fachkraft" und Honorarberechti- gung entstiegen, und es ist kein Wunder, daß nach den Psychoana- lytikern Scharen von weiteren

„Fachkräften" — an Hypothesen, die sich an Mensch und Gesellschaft anlegen lassen, fehlt es nicht — für sich als billig fordern, was jenen recht ist.

— über die Erniedrigung persönlichen

Verantwortungsbewußtseins — Mehr und mehr werden ihre Prä- tentionen politisch sanktioniert. El- tern, Kinder, Heranwachsende, Kranke, Behinderte, Abtreibende, Kriminelle werden von Gesetzge- ber und Verwaltung mehr und mehr an „Fachkräfte" verwiesen, die aus dem dichten oder verdünn- ten Dunstkreis der Psychoanalyse kommen — mit der Begründung etwa: „Die aus den eigenen Erzie- hungserfahrungen der Eltern über- lieferten Vorstellungen reichen nicht aus, um die volle Entfaltung des Kleinkindes zu ermöglichen ...

Gleich, ob es sich um persönliche Konflikte, Leistungsversagen, Stö- rungen in der sozialen Reifung oder um beginnendes delinquentes Fehlverhalten handelt, kann nur eine fachlich fundierte Behandlung die Zusammenhänge objektiv dia- gnostizieren und verantwortungs- bewußt Hilfe leisten." Daran ist Wahres. Ob aber elterliche Vorstel- lungen nur aus „eigenen Erzie- hungserfahrungen" kommen, ob andere regelmäßig besser sind, ob es bei persönlichen Konflikten etwa nicht auch andere als „fachli- che" Hilfe verantwortungsbewußt gibt, und worin überhaupt die

„fachliche Fundierung" liegt (wenn nicht in den Doktrinen Freuds, dann in wessen sonst?), das alles läßt jene Art verallgemeinernd-ver-

blasener Psychologie ausgespart, die sich im öffentlichen Leben im- mer breiter macht, in hessischen Rahmenrichtlinien kaum anders als zum Beispiel im „Jugendpro- gramm" der Bayerischen Staatsre- gierung, dem das Zitat entnommen ist.

Wo der Boden zu nachgiebig wird, helfen immer noch Institutionen.

Erziehungs-, Jugend-, Drogen-, Ehe-, Eltern- und sonstige Bera- tungsstellen sind, insbesondere wenn sie ein öffentlicher Träger speist, allen Anzweifelungen entho- ben. Die bundesdeutschen Erzie- hungsberatungsstellen präsentie- ren zum Beispiel nach einer Auf- stellung von 1970 (Tuchelt-Gallwitz) 95 Psychologen, 33 Ärzte, fünf Psychagogen, zwei Theologen und zwei Lehrer als Leiter, alle „fach- lich fundiert" wohl in gleicher Wei- se per institutionem, und auf der publizistischen Sympathiewelle tut ihnen auch nichts Abbruch.

— zu Marx

Psychoanalyse, oft mit dabei, wo etwas im dunklen ist oder sein soll, ist politisch gewiß nicht vorbelastet.

Glaube und Betrachtungsweise mehr als Wissenschaft, Geisteswis- senschaft allenfalls durch Systema- tik, und in ihrer Nutzanwendung laufen ihr darin nur die harten na- turwissenschaftlichen Forschungs- resultate ein um das andere Mal den Rang ab. Und die ersehnte Gleichrangigkeit entschwindet ihr, die „besessen ist vom Streben nach wissenschaftlicher Anerkennung"

(Preu ß), immer wieder aufs neue.

Rangunterschiede aber sind schwer zu verkraften. Ihr Ausgleich ist zu sehr politisches Programm. So wechselt die „Fachsprache" mehr und mehr von Freud zu Marx, und mit dem Deutschen Ärztetag 1974 fanden die vornehmsten „Fachver- treter", die Professoren Mitscher- lich und Richter, bei der APO ihren Platz.

Ein „Fach", dessen Wissenschaft- lichkeit in astrologische Dimensio- nen geht und das zudem über al-

les „wissenschaftlich" reden kann, über die Unschädlichkeit der Por- nographie genausogut wie über deren Schädlichkeit (beim Bundes- tags-Hearing 1970), ist auch poli- tisch brauchbar. „Jeder im Seeli- schen erfahrene Arzt kennt Patien- ten, bei denen er als Ursache von Schuldgefühlen ... unverarbeitet?

Erlebnisse findet" (Bräutigam), ist ein Argument, das immer stimmt, nunmehr aber für die Fristenlösung kam. Die Lösung schien es „dem Fach" angetan zu haben. Tatsäch- lich könnte ja eine der Abtreibung vorangehende „fachgemäße Sexu- alberatung", resultierend nach Poettgen aus „jahrelanger Fortbil- dung in Balintgruppen", Gebore- nen wie Ungeborenen zugute kom- men, wenn sie nur „fachgemäß"

langfristig durchgeführt, über Wo- chen wenigstens hielte, was sie vorgibt, an Behandlungsprinzipien etwa den Aufschub lebensbestim-

mender Entscheidungen. Die Schutzwürdigkeit des Lebens war aber „fachgemäß" eine in Anfüh- rungsstrichen.

Das psychoanalytische Verhaltens- muster, „Erfahrung im Seelischen"

sich zu- und Andersdenkenden ab- zusprechen, hat sich links durch- gesetzt. Die Herren der (aufgelö- sten) Bundesassistentenkonferenz praktizierten es 1974 selbst vor dem Deutschen Ärztetag. Mit „psy- chosomatischen und soziogeneti- schen Einsichten" (Absichten be- kannt) stelzt auch bereits der DGB einher. Zum Schlagerfavoriten aber wurde die psychotherapeutische Kritik der „ausschließlich naturwis- senschaftlich orientierten Medizin".

Wer der Medizin noch eine Lieb- lingsideologie aufzubinden hat, stimmt ein, neulich zum Beispiel Herbert Wehner und jüngst der

„Orientierungsrahmen '85" auch 1 ).>

1) Die „Kritik" manchmal noch markanter:

noch in imperialistischer Mentalität erzo-

„Gerade die amerikanische Jugend, gen und darauf vorbereitet, mit ...

amerikanischem Way of Life, schließlich auch mit amerikanischen Bomben die Welt zu überziehen und zu vereinnah- men, ist nun statt zu einer weiteren Ex- pansion nach außen zu einer solchen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 40 vom 2. Oktober 1975 2773

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Aufsätze Notizen

„Fach" Psychotherapie

Die Wirksamkeit

Was nun aber über alle inneren und politischen Brüche hinweg dem „Fach" Zulauf bringt, ist außer einer schillernden Fassade — sei- ne Wirksamkeit. Die Wirksamkeit des Worts ist groß, und Selbstver- ständliches gilt, wenn es bewiesen ist. Die „analytischen" Schulen ha- ben den statistischen Beweis er- bracht, vielleicht sogar den beson- derer Wirksamkeit2 ) (Dührssen, Matussek). Zumindest haben sie, wenn auch ungewollt, gezeigt, wo- durch sie (vielleicht besonders) wir- ken.

Auf einige wenige, wenig spe- zifische, aber dennoch keineswegs selbstverständliche Punkte hin kon- vergieren ihre vielfach zerstritte- nen, gleichermaßen aber erfolgrei- chen Richtungen, und das sind: An- triebsfreundlichkeit, eine subtile,

einfühlende Aufmerksamkeit, viel Zeit und dazu vielleicht die Beach- tung der „Übertragung", jener Freudschen Theorie vom unbe- wußten Fortwirken frühkindlich er- worbener Erlebnisweisen und Ver- haltensformen, die wohl weitere Anerkennung gefunden hat (Smy-

nach innen aufgebrochen ... In sol- chen Situationen können emotionelle Konflikte entstehen, die sich als di- rekter Ausdruck änderungsbedürftiger sozialer Bedingungen analysieren las- sen, so daß die theoretische Interpre- tation wie die therapeutische Perspek- tive zu einer Überschreitung der inner- seelischen Kategorien auffordern ..."

(H. E. Richter in „Lernziel Solidarität").

Man denkt an Richters gutachterliche Unterstützung des Sozialistischen Pa- tientenkollektivs Heidelberg, dessen Ausläufer jüngst wieder die innersee-

lischen Kategorien überschritten — mit Bomben und MP-Salven in Stockholm.

Man denkt an Vietnam, Vereinnahmung und Expansion und eine neue, von Way of Life und Psychoanalyse ungetrübte Repression.

2) Bräutigam kommentiert: „Der Behand- lungserfolg ließ sich noch objektivieren und in seiner wirtschaftlichen Bedeu- tung aufzeigen. Der Krankenhausaufent- halt dieser 1004 Patienten lag im Durch- schnitt bei 5,3 Tagen im Jahr vor der Be- handlung, aber nur bei 0,78 Tagen nach Behandlung (mit Einschluß aller Be- handlungsabbrüche und ungebesserten Kranken); 2,5 Tage Krankenhausaufent- halt im Jahr ist der Durchschnitt der Versicherten, 4,3 Tage der Rentner im Jahr". — Die Zahlen sind jedoch von

keiner anderen Seite nachgeprüft.

thies). Weil sie dieses besondere Maß an Zuwendung mit sich brin- gen, das unter gewissen Bedingun- gen Freiräume zur Reifung und Heilung erschließt, und nicht etwa weil sie zur Gänze oder Hälfte rich- tig wären, deshalb und trotz der Gefahr, daß sie gleichzeitig die Wirklichkeit verzerren, sind die Doktrinen Freuds und anderer als Arbeitshypothesen wertvoll.

So gesehen, sagt Gorer (zitiert nach Waelder) dankbar anerkann- te, gleichwohl teilweise sich schon verkehrende Wahrheit: „Haupt- sächlich durch seinen überall sich unmerklich verbreitenden Einfluß hat Freud unsere Haltung gegen- über Kindern, der Kinderpflege, der Erziehung, gegenüber den Kranken, den Verbrechern, den Geistesgestörten tiefgehend verän- dert. Weil Freud gelebt und gear- beitet hat, werden die Schwachen und die Unglücklichen oft mit einer Sanftmut und Barmherzigkeit be- handelt, die eine der wenigen Ver- änderungen irr Gefühlsklima unse- res Jahrhunderts darstellen, deren man sich nicht zu schämen braucht."

Und wenn Freud dies alles oder nur einiges davon (manche sehen immer noch das Verdienst eher an- derswo, etwa bei jenem Jesus von Nazareth, den das „Fach" wieder mehr als Stifter „ekklesiogener Neurosen" kennt) nur dadurch be- wirkt hätte, daß er ein therapeu- tisch wirksames Maß anhaltender, antriebsfreundlicher, aufmerksa- mer und das Erleben der Kindheit einbeziehender Zuwendung ab- steckte (andere „ausschlaggeben- de Merkmale der Psychotherapie"

hat auch Matussek bislang nicht ausgewiesen), so wäre Freuds Ver- dienst um nichts geringer, und manche Verstiegenheit in der von ihm begründeten Bewegung ver- diente Nachsicht. Vielleicht bedarf die Idee der Menschlichkeit zum Überdauern eines Stückes Ideolo- gie, so oft diese sie auch schon er- drückt hat.

Von Installierung

Sonnen- und Schattenseite der Psychotherapie stoßen aufeinan-

der, sobald es um ihre Installierung geht. So haben die Zusatzabkom-

men von 1967 und 1971, mit denen die Krankenkassen in die Lei- stungspflicht für „analytische" Psy- chotherapie eingetreten sind, diese vielfach erst einmal ermöglicht — eine Regelung, die als Fortschritt einzigartig in der Welt steht (Wink- ler). Sie haben andererseits aber die Psychotherapie mit der Vielfalt ihrer Methoden und mit ihren not- wendigen Abstufungen aus der (si- cher oft begrenzten) Selbstver- ständlichkeit ärztlichen, speziell psychiatrischen Wirkens hinausge- drängt.

Der Begriff Psychotherapie wur- de „analytisch" usurpiert. Die

„kleinen", gleichwohl häufig sehr wohl ausreichenden Psychothera- pien, die im ärztlichen Alltag sich summierend Kraft und Zeit ver- brauchen, sind nun tatsächlich kleingemacht. Ihnen gegenüber verweist ein „Fach" auf den stati- stischen (letztlich immer noch frag- würdigen) Erfolgsnachweis und tut, als verdanke es diesen einer über- legenen Wissenschaftlichkeit und nicht dem schlichten Umstand, daß sich eine begrenzte Zahl langfristig Behandelter vergleichsweise leicht katamnestisch kontrollieren läßt.

Vom Prinzip, nach dem es angetre- ten ist, rückt das „Fach" dann auch rasch ab. Da werden Kurzver- fahren propagiert und die Grup- penpsychotherapie, für die kein vergleichbarer Erfolgsnachweis mehr vorliegt, ist bereits in die Gebührenordnung eingebracht Manchmal gilt Selbstverständli- ches, selbst wenn es nicht bewie- sen ist. Als Gruppenpsychothe- rapie firmieren „Fachvertreter", wenn sie Regie führen, auch man- ches, worüber sie sonst die Nase rümpfen, zum Beispiel „Märchen- spiel", „Pantomime", „Hausparla- ment" oder das „Ferienlager"

(Heigl-Evers und Heigl).

Aus einem vordergründigen Vorteil des Effizienznachweises ist ein ansehnlicher Hornorarvorteil ge- worden, und dieser wiederum hat Theorie und Ritual der „analyti-

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Aufsätze • Notizen

„Fach" Psychotherapie

schen" Schulen in einer Weise sanktioniert, daß deren Ansprüch- lichkeit und über sie hinaus eine Besserwisserei, Schwülstigkeit und Schaumschlägerei ebenfalls zur Einzigartigkeit herangewachsen sind. Der „Facharzt für Psychothe- rapie" würde die Entwicklung noch forcieren und die Sektierer jegli- cher Couleur ermuntern, in der Me- dizin sich auszubreiten. Nach ihrer Gebührenordnung 3) hätten ihnen die Ärzte auch ihre Facharztordnung hingestreckt.

Gewiß gibt es großen Bedarf an Psychotherapie, vielleicht auch an

„analytischer". Hier aber auch die meisten Unbekannten. Über Zah- len, Mittel und Behandlungsziele divergieren bereits die schulischen Auffassungen kraß, die ungläubigen noch krasser. Freuds „Übermaß an neurotischem Elend" steht wie kaum anderes Dogmen und Erfin- dungen offen und wie zu den Ta- gen Mesmers („De planetarum in- fluxu" — ähnliches nun in der Süd- deutschen Zeitung) der Scharlata- nerie, auch der politischen. — Und dennoch liegt hier ein brennen- des Problem des Gesundheitswe- sens.

3) Die Leistungen von Analytikern (Be- handlungsdauer 50 Minuten) von Nerven- ärzten (Behandlungsdauer 20 Minuten) und von sonstigen Ärzten (Beratungs- dauer offen) sind im Verhältnis (und in DM) 45 : 10 : 3 bewertet (BMÄ 758:2500:1). Erstere vielfach nun die Lautesten, die letzteren eine (angeb- liche) „Drei-Minuten-Medizin" auch noch zum Vorwurf machen.

Manchmal möchte man die „Fachvertre- ter" dennoch fast ermuntern. Wäre etwa

„die Schizophrenie eine rein oder vor- wiegend körperliche Erkrankung mit au- tonomen somatischen Verlaufsgesetzen"

— dafürsprechende Gründe werden durch keine Abwertung („Konservati- vismus in der Schizophreniediagnose") entkräftet —, so wären „psychotherapie- artige Anstrengungen" noch keineswegs

„inkonsequent" oder „widersinnig", wie Matussek und Triebel, gestützt auf 44 Behandlungsfälle, meinen. Wie soll denn Psychotherapie wirken, wenn nicht auf neuronale Prozesse, letztlich wir- kungsverwandt mit Psychopharmacis, in der Einzeldosierung schwächer, oft (viel) zu schwach, dafür manchmal ge- zielter und anhaltender wirksam. Psy- choanalytiker suchten und fänden, so sagt ein kritisches Wort, selbstver- steckte Eier. Jedenfalls stolpern sie manchmal über selbstaufgebaute Hür- den.

Gleich ob die Befreiung von Angst, Hemmungen, Fehlverhaltensweisen und sonstigen menschlichen Unvoll- kommenheiten möglich oder nur wünschenswert ist, bleibt zumin- dest ihre Ermäßigung dort, wo sie menschliches Leben vergällen, ei- ne ernsthafte und dringende Auf- gabe und Psychotherapie hierbei unersetzbar, auch wenn sie selbst

„zur Zeit noch lebhaft im Fluß"

(und zum politischen Mißbrauch vielleicht sogar zu lebhaft) ist.

— Seele und Gehirn —

Gewiß können Theorien der Psy- chotherapie vielen Berufsgruppen zustatten kommen. Niemand aber erlangt durch sie die höhere Wahr- heit vom Menschen oder das Recht, sich mit uneinlösbaren Ver- sprechungen begehrt zu machen.

Gewiß ist ein Training auf dem Bo- den der Theorien nützlich, denn es fördert Geduld, Antriebsfreundlich- keit, Aufmerksamkeit und das Wohl des werdenden Therapeuten. Aber alle Lehranalyse und Supervision garantieren im Wissenschaftlichen vielleicht Linientreue, sonst jedoch keinen Vorsprung. Gewiß können Institutionen den Menschen und dem Fach (mit oder ohne Gänse- füßchen) zugute kommen, psycho- therapeutische Institute zum Bei- spiel an Universitäten (die Geistes- wissenschaften ja beherbergen) oder vielfältige Beratungsstellen.

Aber der Steuerzahler darf all- mählich fordern, daß man wissen- schaftlich-potemkinsche Dörfer ihm erspart.

Gewiß hat sich die Psychotherapie teilweise neben der Psychiatrie ent- wickelt. Was aber die größere Schuld daran trägt, die Intransi- genz dieser oder die zänkischen bis abstrusen Auswüchse jener, steht dahin. Auch waren es immer noch zum größten Teil Psychiater, die sich psychotherapeutisch betä- tigten und die daraus, wenn auch kaum konkretes Wissen 4 ), so doch oft brillante (öfters auch banale) Ar- beitshypothesen schöpften und in die ärztliche Disziplin vom Seeli- schen einbrachten, die unteilbar

und notwendig Bereiche aus Na- tur und Geist umfaßt und Psychia- trie heißt.

Vom tröstenden Zuspruch bis zum langwierigen Freudschen Aufar- beiten frühkindlicher Reminiszen- zen, von der Methodik also weithin unabhängig, war und ist diese Tä- tigkeit kein der Medizin, der Psychiatrie „benachbartes Gebiet"

(Bräutigam für die psychiatrische Fachgesellschaft DGPN), sondern ihr integraler Teil. Gleichwohl ist sie ärztlich nicht per se, sondern ist es dadurch, daß hinter ihr ausreichende ärztliche Erfahrung steht, die alles Reflektieren, Spe- kulieren absichert und, wenn nö- tig, abfängt.

Die Notwendigkeit der psychophy- sischen Synopsis begründet auch das Delegationsverfahren für den nichtärztlichen Psychotherapeuten 5).

Seine Tätigkeit wird semantisch abzugrenzen sein, in Analogie zur

4) „Woher kommt die Neurose, was ist ihr letztes, was ihr besonderes Motiv?

Nach jahrzehntelangen analytischen Be- mühungen erhebt sich dieses Problem vor uns, unangetastet wie zu Anfang".

(Freud 1926).

5) Mit ihnen, den (nichtärztlichen) „Tie- fenpsychologen" stürmen nun die Psychologen insgesamt, diese mit an Universitäten einstudierten Hypothe- sen, jene mit zusätzlich an privaten Instituten einstudierten Hypothesen, von den organischen Grundlagen see-

lischen Seins und Krankseins alle aber gleich weit entfernt, gegen das ärztli- che „Behandlungsmonopol" an. In ihrer „therapeutischen" Effizienz un- ausgewiesen und oft genug um einen Nachweis nicht einmal bemüht (An- sprüche und Privatlogik jedoch von ei- nem Staatsexamen ableitend), werden sie die geforderte Berechtigung zur uneingeschränkten, vollverantwortlichen Krankenheilbehandlung links zwar am allerwenigsten erhalten. Außer minder- verantwortlicher „Team-Berechtigung", der gegenüber das ungeliebte (aus- baufähige) Delegationsverfahren immer noch sehr liberale Züge trägt, gibt's da wohl nichts.

Gegen die Gleichheit aber kann sich die Freiheit nur behaupten, wenn sie Besseres als Gleichheit bietet. Die Nachfrage nach psychologischen Lei- stungen (an Beratungsstellen) zeigt, was Psychologen eigenverantwortlich tun können: Gesunde (die deshalb und wegen „Therapien" nicht zu „psychisch Kranken" werden sollen) in vielfältigen entwicklungs- und situationsbedingten Lebensschwierigkeiten beraten. Für solch verantwortungsvolle Beratungs- tätigkeit bei den Psychologen befriedi-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 2. Oktober 1975 2775

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Aufsätze - Notizen

„Fach" Psychotherapie

priesterlichen „Seelsorge" etwa als „Psychopädie" (Derbolowsky), wer .n die ärztliche Letztverantwor- tung hier weiter ausgehöhlt wird.

Die „psychogene" Lähmung, die eine myatrophische Lateralsklero- se war, die „neurotischen Lernstö- rungen", die sich im EEG als An- fallsäquivalent erwiesen, die „re- aktive" Depression, die psycho- therapeutisch an-, psychopharma- kologisch aber (und billiger) aus- kuriert wurde, sind zur Psychothe- rapie empfohlene Beispiele aus der Praxis, die sich sicher auch umge- kehrt stellen, einer Behandlung der Seele ohne Gehirn und am Physi- schen vorbei jedoch entgegenste- hen.

Gewiß war und ist andererseits die geisteswissenschaftliche Erweite- rung ärztlicher Aus- und Weiterbil- dungsgänge, besonders des psych- iatrischen, erforderlich. Wichtige Anregungen und Begriffe wachsen dem Arzt auch von psychologi- scher und soziologischer Seite zu.

Möglicherweise wird er aber zumin- dest nach derzeitigem Stand dieser Wissenschaften auch morgen mehr als ihnen seinem Herzen folgen müssen, wenn es ums Menschliche geht. Die „direkt-humanitäre Ver- sorgung" wird (entgegen Häfners Ansicht) auch niemals Speziali- stensache sein, weder „fachpsy- chotherapeutische" noch „sozial- psychiatrische" noch sonstwie aufgeblähte, sondern wird die vor- nehmste Pflicht aller bleiben, die sich (etwa als Ärzte) um Menschen sorgen. Und noch eines:

— zur Integration —

Medizin mit ihren immanenten menschlich-psychotherapeutischen Anliegen steht, wenn es um Wis- senschaft geht, (zumindest ein we- nig) vorrangig auf dem Boden der Naturwissenschaft. Auf dieser ba-

gende Arbeitsbedingungen zu schaf- fen erscheint notwendig und möglich.

Das Problem der „parasitären Sinnpro- duktion" hat im übrigen nunmehr Schelsky („Die Arbeit tun die anderen") grundsätzlich zur Diskussion gestellt.

sieren auch im seelenärztlichen Be- reich die vitalen Indikationen, auf ihr die Möglichkeit der schnellsten, stärksten Hilfe 6). Es gibt Fachkom- petenzen, die von Naturwissen- schaft unberührt sind.Fachärztliche Kompetenz solchen Zuschnitts aber gibt es seit Vesal und Para- celsus nicht. Einen Facharzt für Psychotherapie gibt es ebensowe- nig wie einen Facharzt für Theolo- gie, für Philosophie oder für eine andere Geisteswissenschaft, so- sehr auch diese die Seelen stärken und eine Aufwertung vertrügen.

Teuer und mühselig ist die Ausbil- dung in ihnen allemal. Der „Fach- arzt für Psychotherapie" bleibt ein Widerspruch in sich, selbst wenn er von ärztlichen Fachgesellschaf- ten (mit und ohne Gänsefüßchen) und sogar vom Vorstand des Be- rufsverbandes deutscher Nerven- ärzte nunmehr gutgeheißen wird.

Die Studienreform hat den Weg im Grunde bereits vorgezeichnet.

Er führt aus dem Elfenbeinturm

„fachlicher" Esoterik heraus zur weiteren Integration der Psycho- therapie in Medizin und Psychiatrie.

Zum notwendig-nüchternen Enga- gement erscheint diese, von der Neurologie, die sie zur Logik zwang, weithin bereits getrennt und weithin selbst wieder Ideolo- gien, der „Sozialreligion" (Schels- ky) verfallen, derzeit zwar wenig disponiert.

Dennoch steigt sie — sie hat keine Wahl — jetzt mit allem Ernst und allem Nachdruck in den psycho- therapeutischen Aufgabenbereich ein. Sie prüft, was an den verschie- denen Verfahren rational und brauchbar ist, und praktiziert es und macht den angehenden Arzt, zumindest aber den Psychiater, eo ipso zum Psychotherapeuten.

Wenn die Psychiatrie schon der Vorwurf trifft, sie habe die Psy- chotherapie, Teil ihrer selbst, lange vernachlässigt, so kann sie jetzt endgültig der Verantwortung nicht ausweichen.

Während eine neue Ärztegene- ration bereits in vorklinischen Semestern lernt, klaren Kopf im

geisteswissenschaftlichen Theo- riendschungel zu bewahren, kann sie die „kleine Psychiatrie" (Bräuti- gam) und Psychosomatik, die Psy- chotherapie, die ihrer Hilfe bedürf- tigen Menschen und die Gemein- schaft der Krankenversicherten nicht einer „Fachkompetenz" von Dogmatikern, wenn nicht Phanta- sten überlassen. Umgekehrt ist der Psychotherapie mit der Integration in Medizin und Psychiatrie wie kaum zuvor die Chance eröffnet, auf dem Boden der Ratio und ra- tionell ihre Heilkraft zu entfalten und vorhandener Not zu begeg- nen.

— oder Irrationalität

Die „Änderung der Wirklichkeit Schritt um Schritt" (Regierungs- erklärung 1973) geht aber andere Wege. Bereits (und wieder) ein Jahr nach Beginn der neuen Ära kam für psychisch Kranke eine einschneidende Neuregelung — das Bundeszentral reg istergesetz, das sie mit Kriminellen gleich- setzt.

Im Parlament nun Gesetzentwürfe zur Änderung der Reichsversiche- rungsordnung, zur Einschränkung der Niederlassungsfreiheit und des Sicherstellungsauftrages, zur ärzt- lichen Zwangsfortbildung. Zur Be- ratung oder zum Beschluß stehen ferner an ein neues Arzneimittel-

6) Das Problem ist in der Psychotherapie oft schon diskutiert worden, etwa 1929 auf dem 4. Kongreß der AÄGP, die damals noch keine „Fachgesellschaft"

sein wollte: „So viele hochgeschätzte Psychiater und Neurologen unserer Ge- sellschaft angehören, so sind wir doch keine Gesellschaft von Psychiatern, Neurologen oder auch Psychoanalyti- kern, sondern eine allgemeine ärztli- che Gesellschaft, die unter dem Leit- gedanken steht, daß wir es bei den von uns behandelten lebendigen Men schen mit einer leib-seelischen Einheit zu tun haben ... (C. Haeberlin, Nau- heim) . . . Durch die nach Erkenntnis, nach Wahrheit ringenden Ärzte geht der Wunsch nach einer Verknüpfung mit Psychologie, Philosophie und Ethik. Die Gefahr besteht, daß die Me- dizin, wie vor hundert Jahren, abirrt in das Mystische, Spekulative. Unser Bemühen muß sein, nie den Zusam- menhang zu verlieren mit dem nüch- ternen naturwissenschaftlichen Wis- sen . . . (E. Röper, Hamburg).

(7)

Aufsätze • Notizen

Die Frage nach Aktivitäten in Tro- penmedizin hat verschiedene Aspekte. Wörtlich bedeutet sie Me- dizin bestimmter Gebiete (Zonen, Gürtel) der Erde, also nicht nur der warmen Länder der Erde. Da sich die meisten Krankheiten aber in warmen Ländern abspielen, etwa solchen, die den Schwülezonen (J.

Grober, 1960, Gesundheitstaschen- buch für die warmen Länder, Ber- lin) entsprechen, von wo sie gele- gentlich seuchenhaft in die gemä- ßigten Breiten züngeln, hat sich das Wort „Tropen" mit dem Begriff der warmen Länder identifiziert.

Es gibt Krankheiten, die auf warme Länder beschränkt bleiben (Malaria, Gelbfieber, Schlafkrank- heit, Bilharzia, Frambösie), an- dere, die seuchenhaft aus Tro- penherden ausbrechen (Virosen, Cholera) und solche, die Kosmopo- liten sind (Mykosen, Tuberkulose und Lepra sowie zahlreiche Parasi- tosen und freilich alle, welche die allgemeine Pathologie angehen, wie Krebskrankheiten, Fehlernäh- rungsfolgen und gynäkologische Probleme).

„P. R."-Arbeit für Tropenmedizin So darf man des ehemaligen Chefs des Tropeninstitutes Hamburg, Professor Dr. med. Peter Mühlens' Wort verstehen, das er auf seinen Vortragsreisen durch Deutschlands Universitäten dem ärztlichen Nach- wuchs zurief: „Was Sie bis zum Staatsexamen kennen lernten, war ein Fünftel der Krankheiten. Im

Tropenkurs lernen Sie die übrigen vier Fünftel kennen!" Mühlens' PR- Arbeit hat viele approbierte Ärzte (Approbation war und ist Vorbedin- gung), so auch den Berichterstat- ter, zu Adepten der Tropenmedizin gemacht. Den Abschluß des Lehr- gangs bildeten und bilden heute noch eine Prüfung und ein „Diplom für exotische Pathologie, medizini- sche Parasitologie, Tropen- und Schiffskrankheiten".

Der jetzige Chef des Tropenkran- kenhauses, Professor Dr. med.

Werner Mohr, ist in Mühlens' Fuß- stapfen getreten und hat sich vor allem durch Ärztefortbildung und Hinweis auf die Notwendigkeit auch der Ärzte unseres Landes, sich mit Tropenmedizin, wenn auch nur mit dem „Darandenken" gele- gentlich unklarer Fieber oder son- stiger Erscheinungen bei Gastar- beitern oder Heimkehrern aus war- men Ländern (Urlaubsreisende!) zu beschäftigen, werbend einge- setzt.

„DTG"

Ein Aktivfaktor ist auch die 1962 er- folgte Wiedergründung (I. Phase 1907 bis etwa 1943) der „Deut- schen Tropenmedizinischen Ge- sellschaft e. V." durch den Schüler des Tropeninstitutes, Malariologen, Chemotherapeuten und Ordinarius für Hygiene an der ehemaligen Me- dizinischen Akademie Düsseldorf, Professor Dr. med. Walter Kikuth.

Es konnte festgestellt werden, daß sich die Vertreter des Massenpu-

„Fach” Psychotherapie

gesetz, ein Gesetz für nichtärztli- che Heilberufe und für nichtärztli- che Psychotherapeuten. Ihrer psychiatrischen „Sachverständigen- kommission" hat die Bundesregie- rung noch eine psychotherapeu- tisch-psychoanalytische hinzugetan

(Leiter: Professor H. E. Richter), als wäre jene Enquete von An- fang an noch nicht einseitig und politisch präjudiziert genug ge- wesen.

Ambulante psychiatrische „Be- handlungszentren" („Behand- lungsdienste"), „Modelleinrichtun- gen" zur vorstationären Diagno- stik und zur nachstationären The- rapie allgemein öffnen — der „Wi- dersinn" von Herbert Wehner an- erkannt — bereits die Tore, als hätte es Deutsche Ärztetage, auch den von 1974, nie gegeben. Re- den, Argumente hier auch dies- mal, während es dort klar ge- nug um Klassenkampf geht. Und so schickt sich in der deutschen Medizin am Ende des 20. Jahrhun- derts auch die erklärte Irrationali- tät an, zum Fach und zum Prinzip zu werden.

Literatur beim Sonderdruck

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Friedrich Weinberger 813 Starnberg

Ludwigstraße 3 a

GESCHICHTE DER MEDIZIN

Deutsche Aktivitäten in der Tropenmedizin

75 Jahre Tropeninstitut Hamburg (8. bis 10. Oktober 1975)

Bernhard Knoche

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 2. Oktober 1975 2779

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