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granat apfel 3|2015HOBBY & FREIZEIT Lesegeschichte
urch ganz Deutschland war ich ge- radelt, von Süden nach Norden, über Passau, Regensburg nach Nürnberg und durch den Harz. Nun wurde das Land eben und weit, und bald sollte ich etwas sehen, von dem ich schon viel gehört und noch mehr gelesen hat- te: die Heide. Wer so viele Jahre im Gebirge zugebracht hat wie ich, der kann sich ebenes, flaches Land kaum mehr wirklich vorstellen.
In Hannover hatten mir Freunde eine Fa- milie empfohlen, die mich mit nützlichem Rat versehen würde für eine möglichst ergiebige Fahrt durch die Heide. Das Haus lag mitten in der Stadt; dort angelangt, legte ich mein Rad an die Kette und stieg in den zweiten Stock hinauf. Ich traf niemanden an. Als ich aber wieder auf die Straße trat, war auch mein Rad nicht mehr da, und es brauchte eine ganze Weile, bis sich in meinem Gehirn der Gedanke Platz schaffen konnte: Das Rad ist weg! Und nicht nur das Rad, sondern auch alles, was sich darauf befand: der Schlafsack, der Ruck- sack mit allem Inhalt, das Zelt – alles. Ich hatte nicht bedacht, dass man auf dem Lande mitsamt seiner Habe zehnmal sicherer ist als in einer großen Stadt. Ich ging zur Polizei und melde- te den Diebstahl, dann ging ich zur Zeitung.
Der Mann am Schalter, dem ich mein Unglück schilderte, meinte, ich solle doch einen Bericht darüber schreiben, den würde er für mich in der nächsten Aus- gabe unterbringen. Ich setzte mich also an einen Tisch und schrieb müde und niederge- schlagen von jenem österreichischen Lehrer, der eine Studienreise nach Schweden machen wollte und dem nun sein Rad mitsamt aller Habe gestohlen worden war, und fügte eine Beschreibung meines „Dromedars“ und auch meiner Person bei. Ich schloss mit einer ge-
radezu flehentlichen Bitte um Hilfe zur Wie- dererlangung des mir so teuren Weggefährten.
Als ich den Text abgab, reichte mir der Mann vier Mark zum Schalter heraus – als Honorar für meinen Bericht. Die Polizei führte mich ins Leihhaus; unzählige versetzte Räder wa- ren dort – mein „Dromedar“ war nicht dabei.
Einmal wurde ich ans Telefon gerufen, und ein Mann schrie wütend in den Hörer, er habe den Dieb fahren gesehen; wütend war er, weil er nicht gewusst hatte, dass es sich um den Dieb handelte. Die Anteilnahme war also allenthalben groß, brachte mir aber mein Rad nicht wieder. Schließlich rief man mich an, am Rand der Stadt wäre allerhand gefun- den worden, das meinen Beschreibungen ent- spräche. Ich eilte dorthin; hinter einem Zaun lagen mein Schlafsack, die Zeltblätter und verstreute Papiere. Alles andere war weg und blieb auch weiterhin verschwunden.
Billiges Rad gesucht
Mittlerweile hatte ich um ein billiges Rad inseriert, und es waren nicht wenige Reakti- onen darauf eingetroffen. Doch all die Ange- bote waren zu teuer. In einer der Zuschriften fand sich zwar keine Preisangabe, jedoch die Schrift gefiel mir. So beschloss ich hinzuge- hen. Es war eine vornehme Straße und ein so vornehmes Haus, dass ich – der ich alles andere eher denn vornehm aussah – zöger- te, einzutreten. Aber vielleicht war es ein Bediensteter des Hauses, der ein Rad zu ver- kaufen hatte. Ich läutete unsicher, und gleich darauf stand ich in einem für meine Begriffe unglaublich luxuriösen Vorzimmer. Sofort fiel mein Blick auf ein wie neu aussehendes Rad, herrlich vernickelt und mit blitzenden Spei- chen. Das war wohl der Ersatz für das alte Rad, das man mir zu verkaufen gedachte. Ein sehr gut gekleideter, freundlicher Herr trat ein, betrachtete mich interessiert, wechselte einige nette Worte und fragte mich schließlich, wie
Nicht nur das Rad war weg, sondern auch alles, was sich darauf befand: der
Schlafsack, der Rucksack, das Zelt – alles.
Glück im Unglück
VON ALOIS GRASMAYR
D
Lesegeschichte
mir das Rad gefi ele. Ich fand es wenig feinfühlig, einem bestohlenen armen Teufel ein so schönes Rad zu zei- gen. Ob ich es denn nicht haben wollte? Das schö- ne neue Rad? Ich hätte doch kaum etwas Geld und wollte weiter nach Schweden, stotterte ich und dachte dabei, wie wenig sich doch reiche Leute in die Möglichkei- ten eines Unbemittelten hineindenken können.
„Aber Sie haben ja noch gar nicht gefragt, was es kos- tet“, meinte mein Gegenüber und
sah mich belustigt an, „so fragen Sie doch!“, drängte er. Ich konnte nicht begreifen, wo rauf er hinauswollte, fragte aber nun gehorsam nach dem Preis. „Das Rad kostet zehn Mark“, sagte der Mann. „Ich fahre nach Amerika und brauche es nicht; geben Sie mir die zehn Mark!“
Fassungslos und ganz mechanisch zog ich das bisschen Geld aus der Tasche, der Mann hob das Rad vom Ständer, drückte es mir in die Hand und schob mich mitsamt meinem neuen Besitz freundlich zur Tür hinaus.
Immer noch fassungslos stand ich mit dem fast neuen, erstklassigen Rad unten auf der Straße, und fassungslos schob ich es noch ein paar Häuserblocks weiter, bis ich mich endlich so weit sammelte, auf das wie vom Himmel gefallene Wunder aufzusteigen. All- mählich aber machte sich in mir reine Freude breit, die nur durch den Umstand getrübt wurde, dass ich in meiner gänzlichen Verwir- rung nicht einmal dem Mann gedankt hatte für seine Großherzigkeit, dem bestohlenen steirischen Dorfschullehrer ein schönes neues Rad zu schenken.
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Fotos: mediagram/Fotolia.com, Enzinger
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LEHRER, HOTELIER, SCHRIFTSTELLER
Alois Grasmayr
Alois Grasmayr wurde 1876 als Bauernkind in Hohenzell bei Ried im Innkreis geboren.
Nach seinem Studium an der Lehrerbildungsanstalt Salzburg wirkte er als Volksschullehrer und Schulleiter. 1913 trat durch die Verehelichung mit Magda Mautner-Markhof eine bedeutsame Wende ein: Grasmayr erwarb in der Stadt Salzburg zwei Hotels, zwei Gasthöfe, ein Bauerngut bei Elsbethen und ein Schlösschen auf dem Mönchsberg, das er zur Grasmayr-Villa mit dem markanten Planetenturm ausbauen ließ. Seinen geliebten Beruf als Schulmeister tauschte er mit dem des Großunternehmers. Mit dem Wohlstand kamen aber bald Schicksalsschläge:
Geldsorgen, Plünderungen, der frühe Tod der Gattin und der beiden Söhne, die Inhaftierung wegen „Wehrkraftzersetzung“, die Konfi skation eines Großteils seines Besitzes und die
Vernichtung druckreifer Manuskripte bei einer Bombardierung. Trotzdem war Grasmayr weiterhin philosophisch und literarisch höchst ambitioniert. Sein Hauptwerk ist das in Mundart verfasste „Faustbüchl“, in dem er eine äußerst bemerkenswerte Deutung von Goethes
„Faust“ gab. Der weise, belesene und weit gereiste Lehrer, Hotelier und Schriftsteller starb vor 60 Jahren, am 11. März 1955. Erst 35 Jahre nach seinem Tod erschien die Autobiographie
„Vom Reichtum der Armut“, die einen faszinierenden Einblick in das ungewöhnliche Leben des Autors gibt.
Der Text stammt aus dem Buch Vom Reichtum der Armut.
Eine Autobiographie von Alois Grasmayr, hrsg. von Johann N. Aigner und Franz Paul Enzinger.
Textredaktion Reinhard Schmid.
Verlag der Salzburger Druckerei, Salzburg 1990 (nur noch antiquarisch erhältlich).