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Die europäische Übergangsgesellschaft im globalen Zusammenhang

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Die europäische Übergangsgesellschaft im globalen Zusammenhang .Jürgen Osterhammel

Das Konzept der "Übergangsgesellschaft" gehört zu den ganz wenigen Versuchen, einer gemeinsamen (mittel-)europäischen Erfahrung begriffiichen Ausdruck zu ver- leihen. Es setzt auf zwei Argmnentationsebenen an, indem es ein allgemeines Modell skizziert und zugleich jene regionalspezifischen Ausprägungen anerkennt und kon- trastiv hervorhebt, in denen allein die Grundzüge des Modells fiir Historiker erkenn- bar werden. Ein zweiter Vorzug des Konzepts besteht darin, dass es um einen thema- tischen Kern herum gebaut ist: die demographische Entwicklung, also einen theore- tisch gut modellierungstauglichen und dabei - zumindest fiir Europa - vergleichswei- se empirienah erforschbaren Bereich. Drittens leistet das Konzept den willkommenen Dienst, die Periodisierungsdebatte neu zu beleben oder vielleicht überhaupt erst wie- der zu eröffnen. Allzu kritiklos hat man sich mit der Vorstellung abgefunden, es gebe eine in sich abgerundete "frühe Neuzeit", der ein "langes" 19. Jahrhundert folge, das wiederum von einem "kurzen" 20. Jahrhundert abgelöst werde. Die Arbeitsteilung innerhalb der historischen Fachdisziplin folgt mittlerweile diesen Konventionen. Die Nachteile, die eine solche Zäsurhypostasierung mit sich bringt, liegen auf der Hand.

Zu ihnen gehölt das Verschwinden der Übergänge. Zwischen den orthodox akzep- tierten Großepochen nimmt man zwar kurze Scharnierperioden an - die napoleoni- sche Zeit oder den Ersten Weltkrieg -, die aber eigenen Expertengruppen überlassen bleiben und selten wirklich in längerfristige Abläufe eingeordnet werden. 1 Die "Über- gangsgesellschaft" dreht den Spieß hemm. Die Transfmmation selbst rückt in den Mittelpunkt des Interesses.

Gilt, was sich ftir Europa mit guten Gründen behaupten oder zumindest als einseh- bare Hypothese formulieren lässt, auch fiir andere Teile der Welt oder gar fur die Welt als ganze? Kann von einer "globalen Übergangsgesellschaft" gesprochen wer- den? Wie wäre sie im Einzelnen zu bestimmen? Auf wenigen Seiten werden diese Fragen hier nicht geklärt werden können. Um sie zu beantwmten, müsste die umfang- reiche Forschung zu vielen Teilen der Welt in zahlreichen Sprachen gesichtet und bewertet werden. Oft anch existiert diese Forschung noch nicht, oder sie geht von Fragestellungen aus, die den hier erörterten sehr fern stehen. Das Problem einer "glo- balen Übergangsgesellschaft" ist jedenfalls noch nicht gestellt worden - in einem präzisen Sinne allein schon deshalb nicht, weil Christof Dippers Konzept, einstweilen nur in deutscher Sprache veröffentlicht, die internationale Diskussion noch nicht er- reichen konnte. Es kann daher nicht von einer Debatte berichtet werden, und die fol- genden Bemerkungen tragen einen explorativen oder gar spekulativen Charakter.

1 Um Überschneidllllgen zu vermeiden, sei hier pauschal auf weiter gehende eigene Überlegungen zur Periodisierungsfrage verwiesen: Jürgen Osterhammel: In Search of a Nineteenth Century.

In: Bulletin oftheGerman 1-listorical Institute Washington 32 (2003), S. 9-28; ders.: Über die Periodisierung der neueren Geschichte. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissen- schaften: Berichte und Abhandlungen. Bd. 10. Berlin 2006, S. 45-64.

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-100971

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!. "Obel'f?angsgesel/schafi" als Typen-, Prozess- und Epochenbegriff'

Es ist ratsam, drei unterschiedliche Verwendungen des Begriffs der "Übergangsge- sellschaft" zu unterscheiden:

(a) Als typologischer Begriffentspringt er einer Unzufhedcnheit mit den üblichen makrosoziologischen Taxonomien, die meist Dichotomien sind: Ständegesellschafi/

Klassengesellschaft, feudale/kapitalistische Produktionsweise, Agrargesellschaft/In- dustriegesellschall, alteuropäische/moderne Gesellschaft, usw. Ausgehend von der kaum begriindungspflichtigen, da intuitiv plausiblen Annahme, dass selbst extrem beschleunigter sozialer Wandel gesellschallliehe Hierarchien nicht von heute auf morgen auf den Kopf stellt, wird die Vermutung formuliert, jene Prozesse, die einen distinkten gesellschaftlichen Zustand in einen anderen transformieren, ordneten sich zu einer Gesamtheit, die als abgrenzbare Zwischenform beschreibbar sei. Dallinter steht die alte, seit Adam Smith und Turgot als Schema innetweltlicher Geschichts- deultmg verftigbare Vorstellung von Entwicklungsstadien: Die Übergangsgesellschall wäre dann ein mittlerer, also ein dritterevolutionärer Zustand. Aus einem dyadischen wird ein triadisches Stadienmodell. Der Begriff der "Übergangsgesellschaft" plurali- siert sich: Es karm in der Geschichte mehrere oder gm viele solcher Phasen gesell- schaftlichen Umbaus gegeben haben. Gerneinsrun haben sie ihre Mittlerfunktion in- nerhalb langfristiger Abläufe.

"Übergar1gsgesellschaften" in einem allgemeineren Sinn beschleunigten sozialen Systemwandels oder gebündelter Innovationen finden sich daher zu allen Zeiten und in vielen Zivilisationen. Die zuerst von V. Gordon Childe formulierte, bis heute im Kern akzeptierte These von einer "Neolithischen Revolution", während der zwischen etwa 7500 und 5500 v.Chr. (die Datierungen schwanken) Ackerbau und Viehzucht entstar1den, weist auf einen solchen JHihen Transformationsschub hin. Einige Über- gangsgesellschallen-etwa die Zivilisationen in S. N. Eisenstadts "Achsenzeit"2 oder das christliche, das chinesische und das islamische "Hochmittelalter" - weisen jenes Minimum an Gemeinsamkeiten auf, das sie mit Gewinn vergleichbar machen würde.

Doch insgesamt wäre ein allumfhssender Begriffvon "Übergangsgesellschaft" in sei- ner zwar1gsläufigen Allgemeinheit sehr aussageschwach. Er wäre nur haltbar- und fiir konkretionsbesessene Historiker interessant, werm der emopäische Übergang von 1750-1850 als besondere Ausprägung einer Klasse von Fällen interpretiert werden könnte. Es müsste dann glaubhaft gemacht werden, dass sich der Übergang zur Mo- derne mehrfach in voneinander unabhängig verlaufenden Vorgängen vollzog. Radi- kale Vertreter der These von "multiple modernities" neigen zwar zu einer solchen Auffassung, haben sie aber nicht überzeugend begründen können.

(b) Versteht man "Übergar1gsgesellschafi" als Prozessbegriff; dann werden die Prozesse selbst wichtiger als der Versuch ihrer systemischen Zuordnung zueinander.

Die Betonung liegt dann eher auf "Übergang" als auf "Gesellschaft". Man wird von Bündeln unterschiedlicher Prozesse ausgehen, die nicht unbedingt in strikter Syn- cl!fonie verliefen und daher oft auch keine trennschar-fe Epochenbestimmung zulas- sen. Zu untersuchen wären zunächst die Transformationsdynamiken auf einzelnen Teilgebieten - der Demographie, der gesellschaftlichen Schichtung, der staatlichen

2 Vgl. S. N. Eisenstadt (Hrsg.): Kulturen der Achsenzeit 2 Bde. Frankfurt a. M. 1987w92.

Organisation usw. -·und erst in einem zweiten Schritt mögliche Verbindungen zwi- schen diesen einzelnen Prozessen. Formal gemeinsam ist ihnen allen nur, dass Wan- del ein neues und bedeutendes Ausmaß erreichte.

(c) Als EjxJChenbegrijfist "Übergangsgesellschaft" singulär. Es gab m!r (~inen ein- zigen Übergang von der frühen zur hohen Modeme. Er definiert eine Epoche flir Eu- ropa m1d hatte Auswirkungen aufTeile der nicht-europäischen Welt. Unwahrschein- lich ist, dass anderswo nahezu gleichzeitig und ohne starken europäischen Einfluss ein älmlicher Übergang stattfand. Auszugehen ist immer noch von der konventionel- len monogenetischen These, die "Modeme" sei nur einmal, nämlich im Okzident, entstanden, habe sich aber in ihrer weiteren Verbreitung über die Welt in mehreren, unterschiedlichen Zivilisationsmodellen ausgeprägt. Die Multiplizität der Moderne wäre dann eine der zweiten Generation, der lokalen Ausprägung gemeinsamer Ent- wicklungsimpulse unter Bedingungen der Globalisierung. Der Verlauf der Moderni- sierung müsste in Analogie zur anschaulicher vorstellbaren Entwicklung der indust- riellen Produktionsweise gedacht werden: Es gab nur eine "industrielle Revolution", nämlich die um 1780 lrreversibilität erreichende englische, aber bis zur Gegenwart viele regionale m1d nationale "Industrialisienmgen"3 Bei gnmdsätzlicher Bereit- schaft, Argumente gegen den europäischen Monopolanspruch auf frühe Modernität zur Kenntnis zu nehmen,' wird im Folgenden die Monogenesis der Moderne und die Einzigartigkeit der (mittel-)europäischen Übergangsgesellschall vorausgesetzt.

ll. Eifahrungsgeschichte

Noch vor dem Dippersehen Konzept der "Übergangsgesellschaft", das ftir große Teile der Welt noch nicht mit demographischer Substanz geflillt werden kann, schei- nen zwei weitbin gebräuchliche Epochenbegriffe weiter zu fuhren: "Sattelzeit" und

"Zeitalter der Revolutionen". Die "Sattelzeit" kann stmke Argumente flir sich geltend machen, lässt sie sich- flir Westeuropa (Deutschland eingeschlossen) -doch sow?hl aus analytisch-strukturellen Beobachtungen wie aus der Selbstauffassung der steh schriftlich artikulierenden Zeitgenossen begründen. Die von Reinhart Koselleck un- ternommenen und angeregten Untersuchungen zur Begriffs- und Wahrnehmungsge- schichte dürfen hier als schlüssig gelten. Die dru·aus herleitbare Epochenabgrenzung findet flir Europa in den historisch-ästhetischen Wissenschaften zusätzliche Unter- stützung. Heinz Schlaffer hat flir die deutsche Literatur die Vorstellung von einer he- roischen Epoche der deutschen Literatur als "Goetbezeit" wiederbelebt, die er als Triumph des Pfarrhauses deutet und zeitlich im Wesentlichen mit der literarischen

Vgl. PeterN. Steams: The Iudustrial Revolution in World Histmy. Boulder 1993; John Komlos:

Ein Überblick über die Konzeptionen der Industriellen Revolution. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 84 (1997), S. 461-511. Einige Historiker formulieren heute grundsätzliche Zweifel, die hier nicht diskutiert werden können, am Deuttmgsmodell der Ind~lStw

riellen Revolution, vgl. Clemens Wischermann/Anne Nieberding: Die institutionelle RevolutiOn.

Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Stuttgart 2004, S. 17-29.

4 Diese Diskussion ist neu eröffnet worden von Kenneth Pomeranz: The Great Divergence: China, Europe, and the Making ofthe Modern World Economy. Princeton 2000.

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Tätigkeit Goethes seit den "Leiden des jungen Werther" (1774) zusammenfallen lässt. 5 Ziemlich eindeutig ist der musikgeschichtliche Befund. Folgt man Charles Ro"

sen, dann tritt nach 1775 in Joseph Haydns Streichqumtctten und Symphonien eine neue musikalische Sprache hervor, die einen "klassischen Stil" begründet, der in den 1820er Jahren in Beethovens und Schuberts Spätwerk seine Vollendung und Trans"

zendierung findet.6 Möglicherweise ist "Romantik" die letzte ästhetische Epochenka"

tegorie, auf die man sich gesamteuropäisch und quer durch die Künste einigen kann (auch we1m die musikalische Romantik - bis zu Gustav Mahl er- die litermische und die der bildenden Kunst um viele Jahrzehnte überdauerte). Hinzu kommt, dass mit dem Tod Georg Wilhelm Friedrich Hegels 1831 und Jeremy Benthams 1832 zwei der einflussreichsten Richtungen der kontinentalen und der britischen Philosophie abbre"

chen bzw. epigonal verplätschem. Für die britische Kulturgeschichte insgesamt be"

giunt man sich auf einen Epochenrahmen 1776" 1832 zu einigen7

Solche ästhetisch"ideengeschichtlichen Epochenauffassungen, die auch aus einer fachhistorisch legitimierten Periodisierung nicht ausgeblendet werden können und sollen, sind jedoch interkultnrell kaum relevant und vennittelbar. Die Kultur" und Ideengeschichte liefert bislang keine Handhabe flir transkultnrelle Periodisierungen.

Es gibt keine chinesische "Romantik" und keinen islamischen "Idealismus", besten"

falls Analogien, die der überbrückenden Verdeutlichung dienen - so, wenn der be"

deutende chinesische Historiker und Geschichtsdenker Zhang Xuecheng (1738"1801) mit Giambattista Vico verglichen wird.8 Der Versuch des Islamwissenschaftlers Reinhm·d Schulze, im 18. Jal1rhundert Spuren einer autochthonen, also nicht von Eu"

ropa angeregten und ausgelösten, islamischen Aufklärung zu entdecken, erscheint dem Laien sympathisch und nicht implausibel -wie wir ja alles, was das selbst zuge"

schriebene Kreativitätsmonopol des Okzidents iu Zweifel sieht, 1nit Wohlwollen zu betrachten geneigt sind. Die Fachkritik hat der Schulze" These jedoch aus Gründen widersprochen, die nicht allein auf das Konto eines bomierten Orientalismus gehen.

Schulze hat sich, so scheint es, bisher nicht durchgesetzt. 9 Von einer japanischen

"Aufklärung" hat man nicht ftlr das 18. Jahrhundert gesprochen, sondern im Zusam- menhang mit dem Philosophen und Erzieher Fukuzawa Yukichi (1835"1901), von einer chinesischen erst mit Blick auf die Bewegung ftlr Neue Kultur der Jahre 1915 bis 1923.10

Vgl. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2002, S. 54 ff.

Schlaffer sieht das offenbar als ein "langes" 18. Jahrhundert.

6 Vgl. Charles Rosen: The Classical Style: Haydn, Mozart, Beethoven. London 1971, S. 47 u.

passim.

7 Vgl. lain McCalman (Hrsg.): The Romantic Age: British Culture 1776"1832. Oxford 1999.

8 Nur mit größter Vorsicht tut dies: David N. Nivison: The Life and Thought of Chang Hsüeh"

ch'eng (1738"1801). StMford 1966, S. 290"92.

9 VgL Reinhard Schulze: Das islamische achtzehnte Jahrhundert. Versuch einer historiographi- schen Kritik. In: Die Welt des Islams 30 (1990), S. 140-59, hier 155"59. Dagegen das rabulisti"

sehe Pamphlet: Bemd Radtke: Autochthone islamische Aufklärung im 18. Jahrhundert. Theore"

tischeund filologische Bemerkungen: Forlführung einer Debatte. Utrecht 2000.

10 Vgl. Cannen Blacker: The Japanese Enlightenment: A Study ofthe Writings ofFukuzawa Yuki- chi. Cambridge 1964; Vera Schwarcz: The Chinese Enlightenment: Intellectuals and the Legacy ofthe May Fourth Movement of 1919. Berkeley, Los Angel es, London 1986.

Die Erfalmmgsgeschichte hilft möglicherweise weiter, aber nur darm, wenn mau nicht nach direkten Entsprechungen europäischer Wandlungsprozesse sucht, zumal solchen, die gleichzeitig abliefen. So finden sich offenbm· beim jetzigen Forschungs"

st~md in Asien keine Anhaltspunkte fiir eine Vcrzcitlichung der Wcltdcutungskatcgo- rien, wie sie Reinhmt Koseneck fiir Westeuropa diagnostiziert hat. Veränderungen dürften unmerklicher verlaufen sein, etwa- wie in China im frühen 19. Jal1rhundert -·

als eine Art von "Stimrnungsumschwung" oder Verdüsterung des "Lebensgefiihls"

innerhalb der kulturtragenden Elite. Es ist auch fraglich, ob sich das geschichtsphilo"

sophische Muster, das Koselleck als Kern des Epochenwechsels um 1800 sieht, an"

dernorts wiederfinden lässt: Das "Aufsprengen" eines Zeitkontinuums durch die ge"

waltsame Gegenwärtigkeil einer Revolution11 müsste fiir die nicht"europäischen Re"

volutionen der Zeit untersucht werden: vom Tupac"Amaru"Aufstand in Peru (1780/81) bis zum Dipouegoro-Krieg (oder "Java War") der Jahre 1825 bis 1830. Ob die plötzliche Invasion nicht"westlicher Länder- Bonapmtes Ägyptenexpedition von 1798, der Opiumkrieg gegen China l840A2 oder die "Öffimng" Japans 1853/54- in etwa vergleichbare Wirkungen auslöste, wäre zu prüfenn Zweifellos lebten millena"

rische Bewegungen und apokalyptisch predigende Propheten, wie sie an vielen Orten Asiens und Afrikas nach kolonialen Interventionen auftraten, von der Wahrnehmung des Einbmchs eines ganz Neuen in gewohnte Lebenskreise und konventionelle Zu"

km1ftserwartimgen. Aber Gleichheits" und Gerechtigkeitsutopien, wie sie dort meist vertreten werden, halten sich im Rahmen traditioneller Weltbilder.

IJI. Die langsame Weltrevolution der Industrialisierung

Die "Doppelrevolution" ist eher struktnrell fassbm· tmd weniger an ein kulturelles Ge"

samtklimainnerhalb bestimmter zivilisatorischer Einheiten gebunden. Ihre ökonomi"

sehe Hälfte, die "industrielle Revolution" war freilich erst in ihrer langfristigen Wir"

kung ein globales Ereignis. Die allgemeinste Interpretation, die ihr heute gegeben wird, ist eine umwelthistorische. Sie deutet die Industrielle Revolution als einen der menschheitsgeschichtlich ganz seltenen Wechsel von Energieregimes: den Übergang von der primären Nutzung von Biomasse zu derjenigen fossiler Energieträger. E. A.

Wrigley nemlt dies "the substitution of inorganic for organic inputs in most branches of industrial production".13 "Die Industrialisiemng wm· von der energetischen Seite her," schreibt Rolf"Peter Sieferle, "identisch mit einem fundamentalen Wandel des

11 Im Anschluss an Koselleck: Ernst Wolfgang Becker: Zeit der Revolution! Revolution der Zeit?

Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ara der Revolutionen 1789" 1848/49. Göttingen 1999, S.

14"16.

12 Immerhin gibt es zu Japan eine ausführliche Studie, die aber erst mit der Meiji-Zeit (1868) ein- setzt: Stefan Tanaka: New Times in Modem Japan. Princeton 2004.

13 E. A. Wrigley: People, Cities and Wealth. Oxford 1987, S. 10. Er spricht auch von der Ablösung eines "modemized organic system" durch ein "industrial inorganic system" (ebd., S. 12, ähnlich 45, 75, 78"80). Mit dieser Terminologie arbeitet ebenfalls Jack A. Goldstone: The Problem of the "Early Modem" World. In: Journal of the Economic and Social History of the Orient 41 (1998),

s.

249"84.

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Energiesystems, der sich im 19. Jahrhundert explosionsartig vollzog."14 Mit John R.

McNeill wäre allerdings der "explosionsartige" Verlauf anzuzweifeln: In seiner Sicht überwog die seit 1820 in signifikrultem Umfang genutzte fossile Energie in einer ge- schätzten globalen Gcsamtbilru1z erst um 1890.15 Andere Umwelthistoriker bevorzu- gen eine weitere Sicht und verbinden auf den Spuren ihres Klassikers Lewis Mum- ford die veränderte Energienutzung mit der Verbreitung der städtischen Lebensweise.

"[ ... ] the city itself," heißt es bei !an G. Simrnons, "represents an ahnosttotal Substi- tution of one set of eco-systems for another."16 Erst recht gelte dies ftir die im 19.

Jahrhundert aufkommende, durch Produktion und Verkehr industrialisierte Stadt.17 Skepsis ist allerdings gegenüber der Tendenz einiger Umwelthistoriker geboten, die Industrielle Revolution allgemein als Veränderung im Charakter energetischer "In- puts" zu deuten und ihren technologischen und kostensenkenden Aspekt zu unter- schätzen.18

Die weltgeschichtliche Bedeutung des europäischen Übergangs liegt zweifellos in der Industriellen Revolution, die zugleich eine radikale Veränderung der Produktiv- kräfte wie des Mensch-Natur-Verhältnisses implizierte und die Voraussetzung ftir neuartige Zivilisationsformen schuf. Dies heißt nun weder, dass alle Verändemngen innerhalb der Übergangsgesellschaft monokausal auf diesen einen Faktor zurückge- führt werden dürfen, noch, dass die Indusllielle Revolution als prima causa betrachtet werden kann, deren gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen sich ignorieren ließen. Blickt mru1 aber als fingierter Betrachter, jedenfalls in Westeuropa oder Nord- amerika, vom Standpunkt des Jahres 1850 auf die vorausgehenden einhundert Jahre zmück, dann zeigt sich, dass nichts die Welt mehr verändert hat als die Ausbreitung der Industrie in Produktion und Verkehr.

Von anderen Standorten aus eröffnen sich - in der Iangue duree - andere Aus- sichten. Erstens kann gefragt werden, wie dauerhaft der Übergang von einem vorin- dustriellen in ein industrielles Stadium der Menschheitsgeschichte überhaupt gewe- sen ist. Wo entstanden Industriegesellschaften und wie lange hielten sie sich? Legt man das klassische Fourastiesche Kriterium an und definiert eine industrielle Öko-

14 Rolf-Peter Sieferle: Perspektiven einer historischen Umweltforschtmg. In: ders. (Hrsg.): Fort- schritte der Natmzerstönmg. Frankfurt a. M. 1988, S. 307-76, hier 328. Ausführlich zu dem, was er "die große Transformation" nennt: ders.: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 125 ff. Grundliehe kulturvergleichende Unter- suchungen hat Paolo Malanima angestellt: Economia preindustriale. Mille anni: da! IX al XVlll secolo. Mailand 1995, S. 57-83.

15 John R. McNeill: Semething New tmder the Sun: An Environmental History of the Twentieth- Century World. New York, London 2000, S. 14.

16 I. G. Simmons: Environmental History: A Concise Introduction. Oxford, Cambridge, Mass.

1993, S. 28, auch S. 2. V gl. auch die ausführliche Beschreibtmg des ökologischen Übergangs in ders.: An Environmental History of Great Britain: From 10,000 Years Ago to the Present. Edin- bmgh 2001, Kap. 5-6.

17 Dass die großen Metropolen auch umweltgeschichtlich nicht nur lokal, sondern in ihren globa- len Wirkungen gesehen werden müssen, zeib>t am Beispiel Londons: Johnson Donald Hughes:

The Environmental History of the World: Hwnankind's Changing Role in the Community of Lifc. London, New York 2001, S. 119-27.

" s

o Joel Mokyr: Review Article: The Gre.:'lt Commdrum. In: Journal of Modem History 62 (1990), S. 78-88, hier 80.

nomie als eine solche, in welcher der Anteil des sekundären Sektors (Industrie und maschineller Bergbau) sowohl den des primären (Land- und Forstwirtschaft, Fische- rei) als auch den des tertiären Sektors (Dienstleistungen, einschließlich Verkehr) übertrifft, dann hat es überhaupt nur wenige industriebestimmte Volkswirtschaften gegebenund dies nur für kurze Zeit: Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts oder Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Die USA gingen, makroökonomisch gesehen, unmittelbar vom Primat der Landwirtschaft zum Primat der Dienstleistungen über.

Zweitens erfasste die Industrialisienmg innerhalb einer maximal bis ca. 1850 an- gesetzten Zeit der "Übergangsgesellschaft" nur wenige Teile der Welt. In national signifikanter Weise (es gab daneben einige regionale Nischen früher Industrie) hatte die Industrialisierung außer Großbritannien bis dahin nur drei Länder erreicht, die Paul Bairoch "les pays precocement industrialises" nennt: Belgien, Frankreich und die Schweiz (wo Wasserkraft die hauptsächlich genutzte Energiequelle war)19 Für den Nordosten der USA, Deutschland und Böhmen lässt sich um 1850 vom begin- nenden Iake-off im Sinne W. W. Rostows sprechen. Eisenbahnnetze von mehr als 3000 km Länge gab es damals nur in Großbritannien, Deutschland und Frankreich20 Selbst flir Italien (mit 620 km Eisenbalmen im Jahre 1850) gilt: "At the time of the unification of Italy, industry, thou~h not totally absent from the scene, was none the less of marginal importance [ ... ]." 1

Dies trifft ebenso auf alle übrigen Länder Euro- pas, auch die einst handelskapitalistisch so erfolgreichen Niederlande, zu. In Russ- land, das 1913 vor Frankreich die drittgrößte Wirtschaftsmacht Europas war, gab es vor den 1880er Jahren nur zaghafte Ansätze zu industrieller Entwickllll1g.22 Als erstes außerokzidentales Land trat Japan um 1885 in das Stadium der Industrialisiemng ein.23 Um 1850 war der allergrößte Teil der Weltbevölkerung von der Industrialisie- rung noch unberührt.

Drittens: Trotzdem wagen historische Statistiker wie Pani Bairoch und der vor- sichtigere Angus Maddison die SchätzUllg, dass sich bereits im 18. Jahrhundert ein

"global rift"24 geöffuet habe, also ein immer größer werdender Abstand im Pro-Kopf- Einkommen zwischen den reichsten Ländern Europas und den traditionell wohlha- bendsten Gebieten Asiens (etwa dem Yangzi-Delta, Südchina, Japan, Bengalen).

19 Paul Bairoch: Victoires et deboires. Bd. 3, Paris 1997, S. 390.

·m Jörg Fisch: Buropazwischen Wachstum und Gleichheit 1850-1914. Stuttgart 2002, S. 246 (Abb.

II).

21 Vera Zamagni: The Economic HistOiy ofltaly, 1860-1990. Oxford 1993, S. 75.

22 Daten bei Nicolas Spulber: Russia's Economic Transitions: From Late Tsarism to the New Mil- lenium. Cambridge 2003, S. 86-89.

23 Vgl. R. W. Goldsmith: Ihe Financial Development of Japan, 1868-1977. New Haven 1983, S.

35-70.

24 So der Titel eines sonst weniger beeindruckenden Buches: Leften S. Stavrianos: Global Rift:

The Third World Comes of Age. New York 1981. David S. Landes, aus einer ganz anderen Richtung kommend als der Dependenztheoretiker Stavrianos, formuliert es so: "Paradox: the In- dustrial Revolution brought the world closer together, made it smaller and more homogenous.

But the srune revolution rragmented the globe by estranging winners and Iosers. It begat mul- tiple worlds." (The Wealth 'md Poverty ofNations: Why Some are so Rich ~md Some so Poor.

New York 1998, S. 195).

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Maddison sieht 1820 - das (ungefahre) Datum, das bei McNeill, Wrigley u. a. den Durchbruch des neuen Energieregimes markiert - als einen großen Wendepunkt in der ökonomischen Entwicklung der Welt:

"From the year 1000 to 1820 the advancc in per capita incomc was a slow cmwl--- the wor!d average rose about 50 per cent. Most of the growth went to accomodate a fourfold increase in population. Since 1820, world development has been much more dynamic. Per capita in- come rose more than eightfold, population more lhan 11vefold."25

Der Abstand zwischen der reichsten und der ärmsten Region der Erde benug um 1820 3:1,1913 warerauf9:1 gewachsen, 1950 auf15:1, 1998lagerbei 19:1.26Die Übergangsperiode 1un 1800 bedeutete also den Übergang von weltweit und "inter- kulturell" nicht allzu unterschiedlichen Lebensstandards und Lebenschancen zu einer extremen, sich tendenziell innner weiter verstärkenden Kluft zwischen den Wohlha- benden und Abgesicherten und den Armen und Ungeschützten. Während die durch- schnittliche Lebenserwartung (bei der Geburt) der Weltbevölkerung seit 1820 insge- samt von unter 30 Jahren auf heute 66 gestiegen ist und Niedrigeinkommensländer wie Indien, wo die Lebenserwartung heute bei 60 Jahren liegt, relativ größere Fort- schritte gemacht haben als Westeuropa, haben sich auch nach diesem Indikator die Extremwerte auseinanderentwickelt 81 Jahre fiir Japan, 35 bis 37 Jahre flir Zim- babwe oder Mozambique.27 Die "globale Spaltung" ("global rift", "great diver- gence") ist, weltgeschichtlich gesehen, vielleicht das wichtigste Erbe der Übergangs- zeit.

IV. Von der politischen Doppelrevolution zur Tripelrevolution

Unter der politischen Dimension der "Doppelrevolution" versteht man den Umbau der Legitimation und Organisation von Herrschaft bei gewaltsamer Entmachtung tra- ditionaler Herrschaftsn·äger. Er tliht1e die neuen Sn·ukturen einer "Zivi/gesellschaft"

auf der Grundlage der Ideen von staatsbürgerlicher Gleichheit und Regierung mit der Zustimmung der Regierten ("govemment by cousent") herbei. Dieser angestrebte Endzustand war aber arn Ende der Übergangsperiode nur in einer verschwindend kleinen Zahl von Ländem eneicht und dies selbst in einem postrevolutionären Mus- terland wie den Vereinigten Staaten von Amerika um den Preis des Ausschlusses der nicht aus Europa stammenden Bevölkerung. In großen Teilen der Welt bestmtden bis über den Ersten Weltkrieg hinaus Snukturen nicht rechenschaftspflichtiger Hen- schaftsausübung fort, sei es in Form nur leicht modemisierter traditionaler Monar- chien oder in Gestalt autokratischer Kolonialsysteme. Ähnlich wie im Fall der Indust- rialisierung, gab die Übergangsperiode auf dem Gebiet politischer Ordnung zwar prinzipiell universalisierbare Impulse, ohne aber deren zügige allgemeine Durchset- zung zu gewährleisten. Sogar flir Frankreich lässt sich behaupten, die revolutionäre Phase seiner Geschichte sei erst mit der Konsolidienmg der lll. Republik in den spä-

n Angus Maddison: The World Economy: A Millennial Perspective. Paris 2001, S. 17.

26 Ebd., S. 126 (Tabelle 3~lb).

27 Ebd., S. 30 (Tabelle 1-5a). Zur Diskussion von Verlauf und Ursachen der "health transition" vgl.

Jarnes C. Riley: Rising Life Expectancy. Cambridge: 2001, bes. S. 32 ff.

ten 1870er Jahren zum Abschluss gekonunen. Zur politischen Seite der "Doppelre- volution" gehört auch die Entstehung von Nationalismus und Nationalstaatsidealen.

Zu Beginn der Überg,mgsperiode kann man davon fast nirgendwo sprechen, um 1850 waren große Teile zmnindest Europas davon erfasst.

Trotz mancher Ähnlichkeiten, besonders in der Langfristigkeil von Wirkungen, sind die Zusammenhänge räumlich abbildbaxer Interaktionen auf dem Felde der poli- tischen Revolution komplizierter und in einen größeren Radius eingeschrieben als bei der Geschichte der Industrialisierung. Ein simples Modell der Ausstrahlung von ei- nem Entstehungsherd aus und der regional differenzierten Rezeption und Umsetzung der empfangenen Anstöße genügt nicht. Ereignisgeschichtlich gesehen, handelt es sich bei der Revolutionsperiode um eine Verkettung von Wirkungen und Gegenwir- kungen im atlantischen Raum. Dieser Raum war während der frühen Neuzeit durch Krieg, Kolonisation, Migration, Sklavenhandel und Warensn·öme dicht integriert worden28 Durch den Siebenjährigen Krieg hatte diese Integration eine neue politi- sche und militärische Qualität erreicht. Fred Anderson hat dies in einem bedeutenden Werk genuin atlantischer Geschichte, das preußische Husm·en und Cherokee-India- ner, französische Festungsbaumeister und pennsylvanische Landspekulanten in einen einzigen narrativen Teppich einwebt, anschaulich gezeigt." Auf diesen C'J111Ildlagen etablim1er Interaktion konnte sich jener atlantische Revolutionsprozess entfalten, als dessen Beginn sich die nordmnerikanischen Reaktionen auf die britische Stamp Act von 1765, die folgenreichste gesetzgebefische Maßnahme in der Kolonialgescllichte des 18. Jahrhunderts, deuten lassen.30 Bereits vor einem halben Jal1rhundert hatten Robert R. Palmer und Jacques Godechot die amerikanische und die französische Re- volution nicht nur als strukturell vergleichbare, soudem als real zusammenhängende Großereignisse gedeutet. 31 Die wichtigsten Thesen der beiden Historiker, so urteilt

28 V gl. Bernard Bailyn: Atlantic Histmy: Concept and Contours. Cambridge, Mass. 2005; Horst Pietschmann (Hrsg.): Atlantic History: History of the Atlantic System 1580-1830. Göttingen 2002; David Aimitage/Michael J. Braddick (Hrsg.): The British Atlanlic World, 1500-1800. Ba- singstoke 2002; Franktin W. Knight/Peggy K. Liss (Hrsg.): Atlantic Port Cities: Economy, Culture, !Uld Society in lhe Atlantic World, 1650-1850. Knoxville, Tenn. 1991; Eliga H. Gould/

Peter S. Onuf (Hrsg.): Empire and Nation: The Arnerican Revolution in the Atlantic World.

Saltimore 2005. WlUldervoll konkret sind Peter Linebaugh/Marcus Rediker: The ManyMHeaded Hydra: Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History ofthe Revolutionary Atlantic. Bos- ton 2000, sowie Joseph Roach: Cities of the Death: Circmn-Atlantic Performance. New York 1996. Vgl. auch lhomas Fröschl: Atlantische Geschichte- ein Forschungskonzept In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 3 (2003), S. 3-9.

29 Fred Anderson: Crucible ofWar: The Seven Years' War and the Fate ofEmpire in British North America, 1754-1766. New York 2000; daneben William R Nester: The Great Frontier War:

Britain, France, and the Imperial Stmggle for North America, 1607-1755. Westport, Ct. 2000.

30 So, einen Konsens der Literatur formulierend, Gordon S. Wood: The Americ1m Revolution: A History. NewYork 2002, S. 30.

31 Zuerst auf dem Internationalen Historikerkongress in Rom 1955, dmm in umfangreichen Wer- ken: Robert R. Palmer: The Age of the Democratic Revolution: A Political History of Europe and America, 1760-1800. 2 Bde. Princeton 1959-64; Jacques Gorleehot Les revolutions 1770- 1799. Paris 1963.

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Wolfg,mg Schmale, sind "unverändert tragflUüg".32 Neuere Weiterfiihnmgen dieser Ansätze betonen vor allem drei Aspekte: erstens die Fülle persönlicher und institutio- neller Kontakte zwischen den revolutionären bzw. postrevolutionären Gesellschaften Frankreichs und der USA,33 zweitens die außen"· und kolonialpolitischen Zwangsla- gen, in welche die Regierung des späten Ancien Regime hinein geraten war und die teilweise ihr Verhalten in der Revolutionskrise bestimmten,34 und drittens die Entste- hung einer revolutionären Situation im karibischen Gravitationszentrum des "black Atlantic"35 Die 1791 beginnende Revolution in der Zuckerkolonie Saint-Domingue, die 1804 zur Gründung des unabhängigen Staates Haiti fiihrte, muss als die dritte und zugleich gewalttätigste und gesellschaftlich radikalste unter den atlantischen Revolu- tionen in ein Gesamtbild des Obergangs einbezogen werden36 Wann man diese Epo- che der politischen Revolution endenlassen will, bietet Stofi flir lange Diskussionen.

1830-32 mit der Julirevolution und ihren gesamteuropäischen Wirkungen, der briti- schen Reformbill, die auf der Insel das Ende des politischen Aueion Regime besie- gelte, und dem Obertritt der USA von der patrizischen Politik der Gründergeneration (der Zeit der "early Repnblic") zur "Jacksonian democracy" populistischen Zu- schnitts wäre ein besonders gut begründbares Zäsurdatum Eine solche mit der übli- chen Periodisienmg der Übergangsperiode deckungsgleiche Zeiteinheit schlösse auch die napoleonische Reichsbildung ein37 Diese wiederum hatte eine bedeutendere Weltwirkung. als. die Französische Revolution irn enger~n Sinne, die überhaup

8

t erst durch die nuhtär1sche Expanswn Jense~ts von Frankreich furbulenzen auslöste. Von globaler Wirkung war das empire-building Napoleons in vierfacher Hinsicht:

(a) Bonapartes Invasion Ägyptens im Jahre 1798 stürzte nicht nur das dort seit dem Mittelalter herrschende Marnlukenregime, soudem erschütterte damit auch das politische System und die politische Kultur der Suzeränitätsmacht, des Osmanischen

32 Wolfgang Schmale: Vor 40 Jahren: Jacques Gorleehot und die "Revolution occidentale". In:

Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 3 (2003), S. 145-48, hier 146.

33 Vgl. Roger G. Kennedy: Orders from France: The Americans and the French in a Revolutionaty World, 1780-1820. New York 1989.

34 V gl. Jeremy J. Whiteman: Reform, Revolution and French Global Policy, 1787-1791. Aldershot 2003; Bailey Stone: Reinterpreting the French Revolution: A Global-Historical Perspective.

Crunbridge 2002.

35 Vgl. Srinivas Aravamudan: Tropicopolitans: Colonialism and Agency 1688-1804. Durham, London 1999. Der Ausdruck geht zurtick auf Paul Gilroy: The Black Atlantic: Modemity and Double Consciousness. Cambridge, Mass. 1993.

36 Vgl. Laureut Dubois: Aveogers ofthe New World: 'Ibe Story ofthe Haitian Revolution. Catn- bridge, Mass. 2004; ders./John D. Garrigus: Slave Revolution in the Caribbean, 1789-1804: A Brief History with Documents. Boston 2006; Frank! in W. Knight: The Haiti an Revolution. In:

American Historical Review 105 (2001), S. 103-15.

37 Über den imperialen Charakter des napoleonischen Projekts vgl. Stuart J. Woolf Napoleon's Integration ofEurope. London, New York 1991; Michael Broers: Europe under Napoleon 1799- 1815. London 1996; Annie Jourdan: I!empire de Napoleon. Paris 2000; Alexander Grab: Na- poleon and the Transformation of Europe, Basingstoke 2003; zu seinen militärischen Aspekten Owen Connelly: The Wars ofthe French Revolution and Napoleon, 1792-1815. London 2006.

38 Vgl. Joseph Klaits/Michael H. Haltzel (Hrsg.): The Global Ramifications of the French Revolu- tion. Crunbridge 1994.

Reiches.39 Wie Bernard Lewis argumentiert hat, konnte die Französische Revolution als erste europäische Ideenbewegung in der islamischen Welt ein Echo finden, weil sie sich "in purely non-religious terms" ausdrückte und deshalb nicht unweigerlich als Frontalangriff auf die herrschende Religion betracht0t werden musste.40 Bonapar- tes Handstreich hatte - nach Kriegen mit dem Zarenreich - abermals die Schwäche der Hohen Pforte offenbart und wurde nun zum Auslöser erster Reformen unter Sul- tan Mahmud !I. (r. 1808-39). Eine neue Gesamtdarstelltm~ spricht daher von einem osmanischen "long nineteenth century" von 1798 bis 1922. 1

(b) Der Zusammenbruch des spanischen Ancien Regime 1808 als Folge der fi·an- zösischen Invasion und der sie begleitenden Aufstär1de löste unmittelbar die Emanzi- pationsbewegungen in Hispanoamerika aus. Als die Monarchie plötzlich nicht mehr existierte, mussten die kreolischen Eliten das entstandene Vakuum so schnell wie möglich flillen, um radikaleren Volksbewegungen zuvorzukommen42 Die britische Evakuierung des portugiesischen Hofes nach Brasilien (1807) setzte auch dort einen (schwächer revolutionären) Prozess politischer Autonomisierung in Gang.43 Napo- leon, der Zertrümmerer alter Ordnungen, steht also arn Anfang nahezu der gesamten modernen Geschichte Lateinarnerikas. Nicht die Bekräftigung imperialer Macht wie im Nordamerika der 1770er Jahre, soudem ihr Fehlen löste hier die große Krise der Sattelzeit aus44

(c) Im Schatten einer realen oder einer propagandistisch übertriebenen französi- schen Bedrohtmg sicherten sich die Briten die Herrschaft über die strategisch und wirtschaftlich wichtigsten Teile Indiens sowie über die bis dalün niederländischen Kolonien Ceylon und Siidafhka (die Kapkolonie), vorübergehend (1811-19) sogar über Java. Erstmals suchten sie den diplomatischen Kontakt mit China (MacarttJey- Gesandtschaft 1793) und Persien. Der britisch-französische Weltkrieg der Jahre 1793 bis 1815 legte den Grundstein zum "Second British Empire" und zur globalen See- herrschaft Großbritanniens."'

(d) Als Napoleon, nicht zuletzt durch den unbezwingbaren Sklavenaufstand iu Haiti von seinen imperialen Plänen fiir die Neue Welt abgebracht, 1803 die riesigen

39 Vgl. Henry Laurens: L'Expedition d'Egypte 1798-1801. Paris 1989.

40 Bernard Lewis: The Emergence ofModern Turkey. Oxford 19682, S. 54.

11 Donald Quataert: '11w Ottoman Empire, 1700-1922. Cambridge 2000, S. 54. Kreiser nimmt ein

"Refonn-Jahrhundert 1808-1908" an: Klaus Kreiser: Der osmanische Staat 1300-1922. Mün- chen 2001, S. 36 ff.

42 John Lynch: The Spanish American Revolutions 1808-1826. New York, London 19862, S. 23.

43 Walther L. Bernecker/Horst Pietschmann/Rüdiger Zoller: Kleine Geschichte Brmiiliens. Frank- furt a. M. 2000, S. 127 ff

44 John H. Elliott: Empires ofthe Atlantic World: Britain and Spain in America, 1492-1830. New Haven 2006, S. 374.

45 Vgl. Michael Duffy: World-Wide War aod British Expansion, 1793-1815. In: P. J. Marshall (Hrsg.): 'Ibe Oxford Histmy ofthe British Empire. Bd. 2: 1he Eighteenth Century. Oxford, New York 1998, S. 184-207. Vgl. als Fallstudie über den durch Napoleon ausgelösten präventiven Imperialismus der Briten: Stig Förster: Die mächtigen Diener der East India Compm1y. Ursa- chen und Hintergründe der britischen Expansionspolitik in Südasien, 1793-1819. Stuttgart 1992;

vgl. auch ders.: Der Weltklieg 1792-1815. Bewaffnete Konflikte und Revolutionen in der Welt- gesellschaft. In: Jost Dülffer (Hrsg.): Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800-1814. Münster, Harnburg 1995, S. 17 ff.

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französischen Besitztmgen in Nordamerika -- das so genannte Louisiana - den USA anbot und Präsident Thomas Jef1erson zugriff(Louisiana Purchase), verdoppelte sich über Nacht das Staatsgebiet der Vereinigten Staaten, das nun bis zum Mississippi

. l . d " l . 1 1' . l . kl 1 . 46 retc 1te: eme er 10 genre1c 1sten geopo lttsG ten Entw•c ungen <.er Neuzett.

Das machtpolitische Gravitationszentrum der Übergangsperiode war der Welt- krieg von 1793-1815 (mit seinem Nebenschauplatz des britisch-ametikanischen Krieges 1812-14). Er wurde aufvier Kontinenten ausgetragen und griffüberall in be- stehende politische Verhältnisse ein. In der Neuen Welt (Südanterika, Haiti) beende- te, in der Alten Welt stabilisierte oder expandierte (Indien) er koloniale Herrschaft.

Die auf dem Wiener Kongress gefhndene Friedenslösung bewährte sich während der folgenden Jahrzehnte in Europa,47 ließ aber periphere (Balkan, "orientalische Frage") und überseeische Konfliktherde ungeregelt. Außerhalb der Großen Napoleonischen Unruhe, einem globalen Zusammenhang politischer und militärischer Kräfte, ver- harrten China, Japan, Zentralasien, das kontinentale Südostasien, Ozeanien und das tropische Afrika. Australien wurde als britische Strafkolonie erschlossen. Mit der Ankunft der First Fleet 1788 begann sein "langes" 19. Jahrhundert und damit seine dokumentierte Geschichte.

Von der hier umrissenen Perspektive aus erscheint die Doppelrevolution nun als

"Tripelrevolution". Denn das Zeitalter der Industriellen Revolution und der atlanti- schen Politischen Revolution war zugleich, wie Clu"istopher Bayly itl zahlreichen Veröffentlichungen argumentiert hat, "the fust age of global imperialism" 48 Dieser Imperialismus war selbstverständlich mehr als bloß das "Naturereignis" Napoleon Bonaparte samt der Reaktionen, die es provozierte. Er hatte seine Wurzeln in der Reorganisation des britischen Staates als "fiscal-militaty state" mit einer neuartigen Kapazität zur Mobilisierung außenpolitisch einsetzbru·er Ressourcen49 sowie in älte- ren, doch nun in die Nähe der Realisierbarkeil gerückten Vorstellungen von imperia- ler Welthen-schaft. Die Umorganisation europäischer Staatsapparate während der Übergangsperiode, ob nuo in Groflbritannien oder Frankreich, Preußen oder dem ebenfalls (unter Kathatina II.) imperial ausgreifenden Russland, wurde nicht nur durch die innere Dynamik des Herrschens tmd Vetwaltens bestimmt, sondern auch durch die Notwendigkeit, in beispiellosem Umfang Mittel flir eine Kriegftihrung von potentiell globaler Reichweite aufzubtingen. Manche der dabei angewandten Metho- den fanden Verwendung bei mehr als einer KriegsparteL So war es den Briten gelun-

46 Das Standardwerk bleibt Alexander De Conde: This Affair of Louisiana. New York 1976.

47 Im Sinne von Paul W. Schroedec The Transformation of European Politics 1763~1848. Oxford 1994.

48 Vgl. C. A. Bayly: Imperial Meridian: The British Empire and the World 1780-1830. London, New York 1989; ders.: The Birth of the Modem World 1780-1914. Oxford 2004; ders.: The First Age of Global Imperialism, c. 1760-1830. In: Journal of Imperial rutd Commonwealth History 25 (1997), S. 28-47; ders.: 11te British and lndigenous Peoples, 1760-1860: Power, Per- ception and Identity. In: Martin J. DalUlton/Rick Haiperu (Hrsg.): Empire and Others: British Encotmters with Indigenous Peoples, 1600-1850. Philadephia 1999, S. 19-41; ders.: "Archaic"

and "Modern" GlobaJization in the Ew·asian and AfricM Arena, c. 1750-1850, in: A G.

Hopkins (Hrsg.): Globalization in World Histmy. London 2002, S. 47-73.

49 Die grundlegende Analyse stammt von Jolm Brewer: The Sinews of Power: War, Money and the English State, 1688-1783. NewYork 1989.

gen, Indien weitgehend mit indischen Truppen (Sepoys) zu erobem,50 ein Verfhhren, das Napoleon spätestens mit seiner multinational zusammengesetzten Gnmde Armee kopierte: Nicht nur Franzosen, sondern auch Soldaten aus dem eroberten Europa sollten den Zaren in die Knie zwingen.

V Querverbindungen und agrarische Parallelpfade

Christof Dippers Konzept der Übergangsgesellschaft ist um ein demographisch-sozi- algeschichtliches Kernru·gument herum gebaut. Es bezieht sich auf interne Wand- lungskräfte und sucht nicht nach großräumigen Kontexten, etwa Fernmigration oder internationalen Märkten. Auch setzt es als Anknüpfungspm1kt fiir eine weiterfith- rende Kritik die herkömmlichen historiographischen Schemata voraus, etwa das Mo- dell des Übergattgs von der Stände- zur Klassengesellschaft oder die scharle Unter- scheiduog zwischen Guts- und Grnndhenschaft. Die aus der Sicht von Europaltistori- kem durchaus legitime Frage, ob es eine solche Übergangsgesellschaft auch in "Au- ßereuropa" gegeben habe, lässt sich pauschal damit beantworten, dass derlei Deu- tungsschemata dort weniger etabliert sind und weniger gut greifen als fiir Europa und damit auch das Konzept der Übergattgsgesellschaft bereits im Stadium der Hypothe- sengenerierung mancher Veränderung bedarf. Man muss sich nur einmal die großen Unterschiede zwischen den Agrarverfassungen in Frankreich, England und Russland um 1780 oder auch noch 1830 vergegenwärtigen, tun die Tatsache ermessen zu kön- nen, dass die Varianzbreite in "Außereuropa" noch um ein Vielfaches größer ist.

Da es kaum etwas Lokaleres und lokal Spezifischeres gibt als ländliche Sozialver- hältnisse, helfen die Ansätze der "global history" hier wenig. Selbstverständlich - viele Autoren der Aufklärung haben das überschwänglich kommentiert - war der Erdball um 1800 dichter "vemetzt" als ein Jaltrhundert zuvor, wenn auch eher in quantitativer als in qualitativer Hinsicht, da die wichtigsten Hattdels- und Migrations- routen ähnlich schon um 1700 bestanden hatten. Am Ende unserer Epoche machte sich aber bereits das Dampfschiff, eines der großen Globalisierungsinstrumente des 19. Jahrhuoderts, interkontinental bemerkbru·: Seit 1835 fuhren Dampfer auf dem Euplu·at, seit 1838 verkehrten sie im Linienverkehr über den Atlantik hinweg, seit 1850 regelmäßig zwischen Buropa und China51 Auch manche kulturelle Distanz ver- ringerte sich. Zum Beispiel wurde 1784 in Kalkutta die Asiatic Society ofBengal als eine Art von Filiale der europäischen Aufklärung gegründet. Europäische Gelehtte arbeiteten dort in enger Verbindtmg mit einheimischen ,,Pandits" an der Wiederbele- bung der altindischen Sanskritkultnr. In Japatl, das bis 1854 ein formell abgeschlos- senes Land blieb, studierte man in erheblichem Umfang europäische Bücher und ver- schmolz das Gelesene mit eigenen intellektuellen Bestrebungen. 52 Solche Kontakte

50 Seema Alavi: The Sepoysand the Company: Tradition and Transition in Northem India 1770- 1830. Oxford 1999.

51 Peter J. Hugill: World Trade since 1431: Geography, Techno1ogy, and Capitalism. Baltimore, London 1993, S. 126-27.

52 Zu beiden Fällen (mit Hinweisen auf die ältere Literatur): Klaus Schlichtmann: The West, Ben- ga! Renaissance and Japanese Enlightenment: A Critical Inquiry into the History of the Organi-

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hatten jedoch einstweilen nur schwache Auswirkungen auf gesellschaftliche Ordnun- gen. So bleibt f\ir die Dippersehe Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität von ländlichen Sozialordnungen nur die Möglichkeit einiger punktueller Kommentare. 53

Einen dramatischen Epochenbruch von noch größerer existentieller Radikalität als die Bauernbefrehmg westlich der Elbe bedeutet überall der Fall von Systemen der Plantagensklaverei. Solche extrem brutalen, zugleich aber auch in ihrer oft ausge- prägten Weltmarktorientierung modernen Systeme verschwanden nach 1792 in Haiti,

1833/38 im britischen Empire (außet·halb des separat beh~mdelten Indien, wo die Ge- richte 1843 angewiesen wurden, Ansprtiche aus Sklavenbesitz zu ignorieren), 1848 in der verbliebenen französischen Karibik, 1861 in Russland, wo die Leibeigenschaft auch noch in ihrer Spätphase eine große strukturelle Nähe zur Sklaverei zeigte. 54 1864/65 in den USA, 1886 auf der zu Spanien gehörenden Insel Kuba, schließlich 1888 im unabhängigen Brasilien, das sich gleichzeitig von einem Kaiserreich in eine Republik verwandelte. Die Abolitionsprozesse waren fast überall plötzliche revolu- tionäre Einschnitte: Mit einem einzigen Dekret konnte sich die Lage von Millionen von Menschen ändern. Danach jedoch entstanden wabre "Übergangsgesellschaften"

im Sinne eines allmählichen Wechsels in einen anderen Systemzustand. Der Weg ftihrte zu Kleinbauemwittschaften, share cropping, gelegentlich zur Belebung dorf- gemeinschaftlicher Auffangstrukturen. Selten ging ein System großbetrieblicher Sklavenwirtschaft in eine ähnlich großbetriebliche kapitalistische Landwirtschaft über. Oft- besonders in der Karibik - verband sich das Ende der Sklaverei mit einem Rückzug von den Exportmärkten - zuweilen mit der Folge langfristiger sozialöko- nomischer Schwäche IUld Instabilität, wie etwa bis heute in Haiti. 55 Mit der Planta- gensklaverei verschwand eine typisch frühneuzeitliche, aber keineswegs in ökonomi- schem Sinne archaische Institution. Nirgends auf der Welt gab es größere Diskonti- nuitäten in der ländlichen Sozialordnung während der Übergangsphase zur Hochmo- derne als dort, wo die Plantagensklaverei durch Revolution, Krieg oder staatlichen Reformwillen beseitigt wurde.

Einen völlig anderen Entwicklungspfad als den von Christof Dipper f\ir Mittet- europa beschriebenen findet man am anderen Ende Eurasiens in der umfangreichsten

sation of the Wor!d around 1800. In: Stephan Conennann/Jan Kusber (Hrsg.): Studia Eurasia- tica. Kieler Festschrift für Hermann Kulke zum 65. Geburtstag. Hamburg, S. 411-35. Einen Überblick über die interkulturellen Kontakte der frühen Neuzeit gibt Geoffrey C. Gunn: First Globalization: The Eurasian Exchange, 1500-1800. Lanham 2003.

53 Für die europäische Ausgangslage vgl. ChristofDipper: Ordersand Classes: Eighteenth-Century Society tmder Pressure. In: Timothy C. W. Blanning (Hrsg.): Tite Eighteenth Century: Europe 1688-1815. Oxford 2000, S. 52-90, hier 58-67.

54 Vgl. Peter Kolchin: Unfree Labor: American Slavery and Russian Serfdom. Cambridge, Mass.

1987.

55 Studien über die wichtigsten Fälle bei Howard Temperley (Hrsg.): AHer Slavery: Emancipation and its DiscontenK London, Portland, Or. 2000; Frederick Cooper/Thomas C. Holt/Rebecca J.

Scott: Beyond Slavery: Explorations of Race, Labor, and CHizenship in Postemancipation So~

cieties. Chapel Hill, London 2000. Vgl. auch die vergleichenden Überlegungen bei Michael L.

Bush: Servitude in Modem Times. Cambridge 2000, S. 177-99, sowie·- bei diesem Autor stets komparativ - bei Seymour Drescher: The Mighty Experiment: Free Labor versus Slavery in British Emancipation. Oxford 2002.

Agrarökonomie von allen, der chinesischen. Noch grundsätzlicher unterscheidet er sich von der Transfonnation sklavereibasierter Ordnungen. Für China bedeuten die Jahre zwischen ca. 1770 und 1830 insofern eine distinkte Phase, als sich in dieser Zeitspanne Krisenerscheinungen kumul.ierten) die auf nahezu allen Gebieten des ge··

sellschaftlichen, politischen und sogar kulturellen Lebens zu einem Verlust an Leis- tungsflihigkeit und Lebensqualität fiihrten. "Niedergang" ist dafiir der passende Be- griff. Jedoch ist die Forschllllg noch nicht so weit, auch auf dem Gebiet der ländli- chen Sozialgeschichte diesen Prozess speziell ftir diese Jahrzehnte genau rekonstmie- ren zu können. Das Gesamtbild im langfristigen Verlaufindes ist eiuigemmßen klar.

In ganz China gab es um die Mitte des 18. Jaluhunderts keine landwittschaftliche Sklaverei und kein Äquivalent zur osteuropäischen Gutsherrschaft. Die bäuerlichen Produzenten waren persönlich frei, mit keinen "feudalen" Pflichten belastet und daran gewöhnt, Vertragsbeziehungen einzugehen und ftir Märkte zu produzieren.

Überspitzt gesagt: Der chinesische Bauer hätte sich in einem westdeutschen Landwirt eher wiedererkannt als in einem russischen Leibeigenen. Eine zweite Grundtatsache war ein um 1700 beginnendes beinahe ex~onentielles Bevölkerungswachstum, das bereits Thomas Robert Maltbus faszinierte. 6 Eine dritte Besonderheit lag in der Be- deutllllg, die der chinesische Staat- auch im 18. Jaltrhmtdert in höherem Grade als jedes Ancien Regime in Europa - der Wohlfalnt der bäuerlichen Bevölkerung bei- maß. 57 Philip Huang, der die bisher überzeugendste Analyse vorgelegt bat, erkennt in Nordchina einen sich vom späten 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erstrecken- den Prozess, den er als soziale Differenzierung ohne wirtschaftliches Wachstum unter Bedingungen fortgesetzter Bevölkerungszunaltme kellllzeichnet. 58 Hauptquelle so- zial ökonomischer Dynamik war die Kommerzialisierung, die durch Chinas verstärk- ten Kontakt mit der Weltwirtschaft seit der Mitte des 19. Jaluhunderts intensiviert, jedoch keineswegs hervorgerufen wurde. 59 Die beiden Hauptformen der Kommerzia-

lisierung fiihrten indessen in Sackgassen. Zum einen bereitete die kleinbäuerliche Hausindustrie ("Prolo-Industrie")- meist in Form der Kultivierung und Verarbeitung von Baumwolle- keineswegs einem Industriekapitalismus den Weg, sondern trat als dessen kostengünstiger, sich zäh behauptender Rivale auf. Zum anderen bildeten die wenigen "managerial farms", die es in einem Meer von Parzellenbauern gab, keine Ansatzpunkte zu einer generellen kapitalistischen Entwicklung in der Landwirtschaft.

56 Vgl. James Z. Lee/Wang Feng: One Quarter ofHumanity: Malthusian Mythology and Chinese Realities, 1700-2000. Cambridge, Mass. 1999, S. 27 f

57 Vgl. Alexander B. Woodside: Ch'ien-lung Reign. ln: Willard J. Peterson (Hrsg.): The Cam- bridge History ofChina. Bd. 9/1: The Ch'ing Empire to 1800. Cambridge 2002, S. 230-309, hier 305-8, vgl. auch als Untersuchung einer charakteristischen "agrarpolitischen" Institution: Pierre- Etienne Will/R. Bin Wong: Nourish the People: The State Civilian Grana1y System in China 1650-1850. Ann Arbor 1991.

58 Philip C. Huang: The Peasant Economy and Social Change in North China. Strn1ford 1985, S.

201, 216, 309. Zu den durch stärkere Kommerzialisierung, weiter verbreitete Pachtverhällnisse und ökologische Vorteile geprägten Entwicklung in Mittel- und Südchina vgl. ders.: The Pea- S!mt Family and Rural Development in the Yangzi Delta, 1350-1988. Stanford 1990.

~9 Zum erheblichen Ausmaß der Kommerzialisierung und Monetarisierung der chinesischen Wirt··

schaftim 18. Jahrhundert vgl. William T. Rowe: Social Stability and Social Chrn1ge. In: Peter- son (Hrsg.): Cambridge History. S. 473-562, hier 512-15.

(9)

Diese Betriebe "reicher Rauem" mit Lohnarbeitskräften wirtschafteten zwar rechne·

risch produktiver als die kleinen Fmnilieneinheiten und erbrachten höhere Renditen als die reine Landverpachtung durch "Grundherren", erlagen aber längerfi'istig einem doppelten Druck: Einerseits konnten sie niemals die Kosten des Faktors 1\rbeitskraft so weit gegen Null drücken wie der sieh potentiell grenzenlos selbst ausbeutende und vom Imperativ des Überlebens bestimmte Familienbetrieb. Andererseits galt generell,

"[that] wealth and power derived fi"om sourcesoutside of agrieulture"."0

Die hohe vertikale Mobilität der chinesischen Gesellschaft - also paradoxerweise ein gemeinhin als "modern" betrachtetes Merkmal - erleichterte dem erfolgreichen

"managerial farmer" den Aufstieg in die Sphären des Grundbesitzer-Absentismus, des Handels und der Politik. Während "managerial fanning" instabil und ephemer blieb, setzte sich im Bereich der kleinbäuerlichen Fmnilienwirtschaft der Prozess der

"Involution" fort Mit wechselnden Kombinationen von Überlebensstrategien - In- tensivierung der Eigenlandbestellung und des Hausgewerbes, Lohnm·beit, Zupach- tung -· nutzte die Mehrheit der Landbevölkerung ihre wichtigste Ressource: nahezu unbegrenzt verfiigbare Arbeitskraft. Das Resultat war, wie Huang begrifflich etwas unscharf sagt, "semi-proletarization" großer Teile der nordchinesischen Bauemsehaft.

In solchen Dörferu, in denen eine relativ homogene Struktur selbstwirtschaftender Kleineigentümer durch eine atomisierte Menge von Halbproletariem ersetzt wurde, verlor die ländliche Gemeinschaft ihren defensiven Zusammenhalt und stand zuneh- mend schutzlos einem Staat (und den von diesem gedeckten "örtlichen Tyrannen") gegenüber, der im fi"ühen 20. Jahrhundert seinen Steuerdruck auf die Landbevölke- rung verstärkte. Dieser "involutive" Prozess setzte sich über 200 Jahre hinweg fort und wurde erst durch die kotmnunistische Landrevolution der 1950er Jahre abgebro- chen61 Eine "Übergangsgesellschaft" gab es eigentlich nicht, weil die Revolution die Verhältnisse innerhalb weniger Jahre drastisch veränderte.

Zahlreiche andere Pfade des agrm·ischen Übergangs ließen sich herauspräparieren:

das AuJkommen von "farming" in Nordrunerika unter Bedingungen von "fi"ee Iabor", die über das chinesische Maß hinansgehende Kommerzialisienmg der Kleinbaneru- wirtschaft innerhalb "feudaler" Sozialbeziehungen im späten Tokngawa-Japan, die Unterwerfung der indischen Lmtdwirtschaft unter die Bedürfnisse des kolonialen Steuerstaates nach 1793 oder der Aufbau eines weltrnarktorientietten Exportsektors in Ägypten unter einem rudimentären einheimischen Entwicklungsregime seit den 1820er Jahren.62 In keinem dieser Fälle findet sich das Modell der mitteleuropäischen

60 Huang, Peasant Econorny, S. 178.

61 V gl. auch die Darstelhmg einer agrarischen "Involution" unter kolonialen Bedingungen bei Clif- ford Geertz: Agricultural Involution: The Processes of Ecological Change in Indonesia. Berkew ley, Los Angeles, London 1963.

62 Die elementare Literatur: John T. Schlebecker: Whereby We Thrive: A History of American Farming, 1607-1972. Ames, Iowa 1972, sowie die marxistische Gesamtinterpretation eines

"Übergangs" in Antebellwn-Amerika: Allan KulikoiT: The Agrarian Origins of Arnerican Ca- pitalism. Charlottesville, London 1992; Furushima Toshio: The Viilage and Agriculture During the Edo Period. In: John Whitney Hall (Hrsg.): The Cambridge History of Japan. Bd. 4: Early Modem Japan. Cambridge 1991, S. 478-518; ein weniger rosiges Bild allerdings bei Stephen Vlastos: Peasant Protests and Uprisings in Tokugawa Japan. Berkeley, Los Angeles, London 1986: David Ludden: An Agrarian History of South Asia. Cambridge 1999; Michael Mann:

Überg~mgsgesellschaft wieder. Sie war in der ·rat ein Sonderwcg, einer von vielen Sonderwegen in eine Moderne, die sieh uns heute ebenfalls als "multipel" und viel- gestaltig darstellt.

Bengalen im Umbruch. Die Herausbildung des britischen Kolonialstaates 1754-1793. Stuttgart 2000, bes. 368 ff.; Ehud R. Toledano: Social and Economic Change in the "Long Nineteenth Century". In: M. W. Daly (Hrsg.): "Ihe Cambridge History ofEgypt. Bd. 2: Modem Egypt, from 1517 to the End ofthe Twentieth Century. Cambridge 1998, S. 253-84.

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