Das Protestpotenzial des Christentums
Aufmüpfige Religion? Protestantismus und Protest
(Protestantisches Bildungszentrum Butenschoenhaus, 26./27. Juni 2015) Dr. Markus Sasse
Dr. Markus Sasse, Fachberater Ev. Religion an Gymnasien, IGS, Freie Waldorfschulen und Kollegs (Bezirk Pfalz), 2015.
http://rfb.bildung-rp.de/evangelische-religion.html/ mail an markus.sasse@beratung.bildung-rp.de
Inhalt
• Reformation als Protestbewegung
• Christianisierung und Protest
• Das frühe Christentum als Protestbewegung
• Die Jesusbewegung als Protestbewegung
• Auswertung und hermeneutischer Ausblick
Reformation als Protestbewegung
Lutherdenkmal vor der Stiftskirche in Landau
Luthers Protest gegen eine kirchliche Praxis
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Luther sieht sich in seiner Kritik als treuer Diener seiner Kirche.•
Die politischen Ereignisse machen aus einer innerkirchlichen Diskussion eine öffentliche Bewegung.•
Der Grund für die Entwicklung von der Kritik zum Protest ist die Verweigerung der Diskussion.•
Der Protest richtet sich gegen die Verweigerung der Diskussion.•
Der Protest mündet in eine Neuordnung von kirchlicher und weltlicher Macht.Luthers Predigtkanzel aus der Stadtkirche in Wittenberg, heute im Lutherhaus
Reformation als Systemwiederherstellung
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Die Schrift als Urkunde des Urchristentums ist der Maßstab des Protests.•
Die Erinnerung an die Ursprungssituation gibt die zentralen inhaltlichen Impulse für denProtest und für die Umgestaltung der Kirche.
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Luther identifiziert sich mit Paulus: „Von wem lasse ich mich beherrschen?“Lutherstube, Wartburg
Christianisierung und Protest
San Vitale, Ravenna / Konstantin, Museo Capitolini Rom / Santa Constanza, Rom / San Paolo, Rom
Christianisierung
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Bei der Christianisierung ging es nicht um die Institutionalisierung einerProtestbewegung, sondern um den staatlich geförderten Übertritt in eine exklusive Kultgemeinschaft.
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Bei der Herausbildung von Dogmen (Christologie und Trinität) ging es um kultische Bedürfnisse und nicht um inhaltliche Fragen. Kultische Fragen sind MachtfragenSan Clemente in Rom
Protest
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Die ersten Mönche (3. Jh) knüpfen an die Lebensweise Jesu an, zählen aber auch alttestamentliche Gestalten wie Abraham und Elia sowie Wanderapostel wie Paulus zu ihren Vorbildern.•
Sie protestieren gegen die Oberflächlichkeit der staatlichenChristianisierung und nehmen als radikale Bekenner die Rolle der Märtyrer ein (geistliche Elite).
•
Das frühe Mönchtum ist eine Massenbewegung von jungen Menschen.•
Es kommt zu einer Wiederbelebung der frühchristlichen Apokalyptik.Versuchungskloster bei Jericho
Das frühe Christentum als Protestbewegung
Frühchristlicher Sarkophag, Durchzug durchs Rote Meer, Musei Capitolini Rom
Paulus
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Für Paulus ist das „Christentum“ der Weg und das Mittel gegen die Macht der Sünde.•
Gesellschaftliche Verhältnisse sind nicht im Blickoder haben angesichts der vergehenden Welt nur eine geringe Relevanz (Doppelte Staatsbürgerschaft).
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Der Kosmos ist die Gemeinde als Abbildung des Gottesverhältnisses (kontrafaktische Parallelwelt).•
Die Gemeinde ist der verborgene Ort einer egalitären Lebensweise.Paulus von Lovis Corinth, Kunsthalle Mannheim
Transethnie
• Die stufenweise Auflösung der frühjüdischen Lebensweise ist kein Ausdruck von Protest.
• Spätere heilsgeschichtliche Interpretationen sind Reaktionen auf faktisch vollzogene bzw.
irreversible Trennungsprozesse.
• Die johanneische Gemeinde formuliert Protest gegen die Trennung.
• Es fehlen Identity Markers.
• Je stärker sich das Christentum verbreitet, desto mehr wird es zu einer Randgruppe.
Jüdische Steingefäße, Israelmuseum
Verfolgung
• Die frühen Christen protestieren nicht gegen das Imperium.
• Befremdlich ist die Einheit von Religion und Ethik (vgl. Plinius an Trajan).
• Verfolgt werden sie wegen Kultverweigerung, die man als Ausdruck von Illoyalität interpretiert.
• Das öffentliche Leiden wird als Protest wahrgenommen.
• Bekennen heißt Dazugehören!
Teller mit Märtyrerin zwischen zwei Löwen, Nordafrika 4. Jh, Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz)
Die Jesusbewegung als Protestbewegung
Blick vom Berg Arbel auf die Ginnosarebene
Frühjüdische Voraussetzungen (1)
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Die Tora ist die schriftliche Fixierung einer normativen Lebensweise (Verfassung des Staates Juda)•
Geschichte – Kult – Recht – Ethik•
Heimat: Recht und Kult•
Diaspora: Ethik•
Prophetie und Apokalyptik als ProtestbewegungenSan Clemente in Rom
Frühjüdische Voraussetzungen (2)
• Der Makkabäerkrieg (167-141 v.Chr.) war ein priesterlicher Bürgerkrieg um die Einheit von Lebensweise und Kult.
• Märtyrertheologie (Auferstehungshoffnung) und Apokalyptik
• Dadurch dass Menschen für die Bewahrung ihrer Lebensweise gestorben sind, kommt es zur Aufwertung der frühjüdischen Normen.
Jüdisches Ritualbad vor den Tempelaufgängen / Steingefäße, Israelmuseum
Pharisäer und Sadduzäer
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Einheit von Religion und Ethik•
Übertragung von Kultkriterien auf die Ethik (Reinheit)•
Gesellschaft als Kultgemeinschaft mit erkennbarer Lebensweise (ethische Toraobservanz)•
Einheit von Kult und Nation•
Offenheit für hellenistischeLebensformen (außerhalb des Kultes)
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Volk/Nation als Kultgemeinschaft (kultische Toraobservanz)Unterschiedliche soziale Kontrolle
Pharisäer und Sadduzäer
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Individualität und „freier Wille“•
Lineares Zeitverständnis (Gericht)•
Auferstehung•
Schicksalsgläubigkeit•
Zirkuläres Zeitverständnis (Kult)•
Keine Auferstehung Jerusalem:unterschiedliche Modelle der Gottesherrschaft
Ossuarium, Israelmuseum / Inschrift (Schofar), Davidson Center, Jerusalem
Sozialer und politischer Kontext
• Galiläa ist erst seit 104/103 v.Chr. mehrheitlich
jüdisch durch Zwangsjudaisierung und Besiedelung aus Judäa.
• Unter Herodes (37-4 v.Chr.) wird Galiläa vernachlässigt.
• Enormer wirtschaftlicher Aufschwung unter Herodes Antipas (4 v.-39 n.Chr.): politische und wirtschaftliche Eliten vor Ort (Sepphoris, Tiberias)
• Religiöse Ausrichtung auf Jerusalem (unter römischer Kontrolle)
Ginnosarebene / Wohneinheit in Kapernaum
Die Krise der Krisendeutung
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Bornkamm: Krise der jüdischen Religion•
Theißen: Krise der jüdischen Gesellschaft•
Jesus war kein Prophet in schwerer Zeit.•
Das Bedürfnis nach Erneuerung und Umkehr (Johannes der Täufer) bildet den Anfang seines Ausstiegs aus den familiären Bindungen.Jesus: ohne Worte!
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Ein Lehrer und 12 Schüler•
Gebiet der verlorenen 10 Stämme•
Trennung von sozialen Bindungen•
Öffentlichkeit: Anhänger und Gegner; Frauen•
Symbolhandlungen: Speisungen, Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung•
Grenzüberschreitungen (geographisch und kultisch): Heilungen, MahlgemeinschaftBrotvermehrungskirche, Tabgha
Asozialität / Devianz
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Als heimatloser Aussteiger verkörpert Jesus seine Botschaft und repräsentiert die Herrschaft Gottes.•
Wurde Jesus wegen der Randgruppen zu einem Aussteiger? Oder ist der Ausstieg Ausdruck seines Gottesbildes? (Schekina, Menschensohn)•
Der Inhalt der Botschaft ist nicht unabhängig von der Art seiner Verkörperung.•
Jesus ist die Botschaft. Die besonders intensive Erfahrung der Einheit von Person und Botschaft ist der Ansatzpunkt für die Übertragung vonGottesaussagen und Inkarnationstheologien.
Expliziter Protest gegen Deutungsmonopole
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Exorzismen und Mahlfeiern als Protest gegen die Ausgrenzung von Randgruppen.•
Programmatisches Fehlen von Berührungsängsten.•
In diesem Sinne ist Jesus ein Sozialrevolutionär. Es geht um eine gerechte Gesellschaft aus der Sicht Gottes (Gotteskindschaft).•
Jesus wird von seinen Gegnern zum Staatsfeind gemacht, damit sie nicht anerkennen müssen, dass sich Jesu Protest auf ein offensichtliches Problem bezieht.Impliziter Protest gegen eine gottlose Globalisierung
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Machtdelegation•
Entsakralisierung von weltlicher Macht•
Jesus bietet Ansätze zu einem Ausgleich von machtpolitischen und göttlichen Interessen. Dies führt zur Entpolitisierung der Christologie.•
Der zentrale Streitpunkt ist das Verhältnis von Religion und Ethik: Von wem stammen die Lebensregeln? Wird die herrschende Elite ihrerheilspädagogischen Rolle (Erwählung) gerecht?
Steingefäße und lokale Keramik, Israelmuseum
Auswertung und hermeneutischer Ausblick
Erinnerung und Protest
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Das Christentum bezieht sein Protestpotenzial aus der Erinnerung.•
Jesu Protest richtet sich gegen nachrangige Klassifizierungen von Menschen und die daraus entstehenden Folgen.•
Die Herrschaft Gottes kennt keine Differenzierungen: Dabei Sein ist alles!•
Judentum und Christentum haben ein grundsätzlich misstrauisches Verhältnis zu menschlichen Machtansprüchen.Kompetenz und Potenzial
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Die Protestkompetenz des Christentum besteht darin, über den Weg der Erinnerung das Protestpotenzial aktivieren zu können – aber auch, es nicht aktivieren zu müssen.•
Erinnerung ist nur über den Weg der Auslegung möglich. Das Konstruieren von historischer Plausibilität ist ein notwendiger Schritt vor der Anwendung (Protest).•
Der Protest ist für die Botschaft da – nicht umgekehrt.Zur Weiterarbeit …
• Walter Dietrich / Moises Mayordomo: Widerstand / Martyrium, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 649-652.
• Martin Ebner: Face to face-Widerstand im Sinn der Gottesherrschaft. Jesu Wahrnehmung seines sozialen Umfeldes im Spiegel seiner Beispielgeschichten, in: EC 1 (2010), 406-440.
• Johanna Erzberger / Carsten Jochum-Bortfeld: Soziale Bewegungen, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 530-533.
• Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Wiegandt (Hrg.): Die Anfänge des Christentums, Frankfurt/Main 2009.
• Dale B. Martin: Jesus in Jerusalem. Armed and Not Dangerous, in: JStNT 37 (2014), 3-24.
• Karl-Heinrich Ostmeyer: Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, in: ZNW 96 (2005), 147-170.
• Marius Reiser: Der unbequeme Jesus (BThSt 122), Neukirchen-Vluyn22012.
• Markus Sasse: Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels. Historische Ereignisse, Archäologie, Sozialgeschichte, Religions- und Geistesgeschichte, Neukirchen-Vluyn 2004 / 22009.
• Markus Sasse: „Die Welt ist nicht genug!“ – die frühen Christen als Weltbürger?, in: Brennpunkt Gemeinde 3/2014, 102-105.
• Stefan Schreiber: Der politische Jesus. Die Jesusbewegung zwischen Gottesherrschaft und Imperium Romanum, in: MThZ 64 (2013), 174-194.
• Ekkehard W. Stegemann: Jesu Stellung im Judentum seiner Zeit, in: Wolfgang Stegemann /Bruce J. Malina / Gerd Theißen (Hrg.): Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart, Berlin, Köln 2002, 237-245.
• Gerd Theißen: Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung (1997), in: Ders.: Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung (FRLANT 202), Göttingen 2003, 169-193.
• http://whgonline.de/pages/projekte/religion/historischer-jesus.php(Themenseite „Historischer Jesus“ mit ausführlichen Literaturverzeichnissen und Linktipps)