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(1)

DÄR AL-HARB, DÄR AL-ISLÄM UND DER KOLONIALISMUS

Von Rudolph Peters, Amsterdam

Das Vordringen des europäischen Kolonialismus in die islamische Welt im

19. Jahrhundert hatte für die Bevölkerung der kolonisierten Gebiete tiefgrei¬

fende Folgen, die sich auf vielerlei Ebenen manifestierten. Es verursachte

radikale wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche und demzufolge auch

ideologische und religiöse Veränderungen. Im Laufe der islamischen Geschich¬

te wird immer wieder deutlich, daß sich sozio-politische Strömungen in ein

religiöses Gewand kleiden, und daß die gesellschaftlichen und politischen Aus¬

einandersetzungen im religiösen Bereich ihren Ausdruck finden. Dieses Phä¬

nomen läßt sich in der islamischen Welt auch beim Widerstand gegen den Ko¬

lonialismus nachweisen: der Kampf gegen die kolonialen Unterdrücker wurde

religiös begründet und als djihäd verstanden, nämlich als der vom Islam sank¬

tionierte Krieg gegen die Ungläubigen. Bei dieser Begründung tauchte immer

wieder die Frage auf, ob das unter Kolonialverwaltung stehende Gebiet zum

Där al-Isläm oder zum Där al-Harb gerechnet werden müsse und die damit

eng verknüpfte Frage, ob die Muslime verpflichtet seien, das von den Ungläu¬

bigen besetzte Land zu verlassen. In diesem Vortrag soll untersucht werden,

welche Rolle die klassischen Theorien zur Frage, welche Gebiete zum Dar

al-Isläm und welche zum Där al-Harb gehören und unter welchen Bedingun¬

gen sich der Status eines bestimmten Gebietes wandeln kann (l) und die Theo¬

rien zur Auswanderung ( hid.jrah ) im frühen antikolonialen Kampf in Vorder¬

indien und Algerien gespielt haben.

Das erste Problem wird in den klassischen Fiqh -werken nicht sehr aus¬

führlich behandelt. In der Praxis war der Unterschied doch klar, man hatte

keine theoretische Begründung nötig. Där al-lsläm war das Gebiet, das un¬

ter islamischer Herrschaft stand und wo die Sharl"ah angewandt wurde, Där

al-Harb alle übrigen Gebiete. Die shafi^itischen Gelehrten erwähnen aller-

dings noch eine dritte Kategorie, Där al-"Ahd oder Där al-Sulh. Dies sind

Gebiete, in denen die Muslime mit den Ungläubigen Einwohnern einen Waffen¬

stillstand geschlossen haben, mit der Bedingung, daß die Ungläubigen die Ei¬

gentumsrechte über ihren Grund behalten, dafür aber eine von diesem Grund

erhobene Steuer bezahlen müssen. Diese Steuer heißt kharäd.i, gleicht aber

mehr der djizyah. da die Zahlungspflicht mit der Bekehrung erlischt (2). Die

anderen Schulen, die nur eine Dichotomie anerkennen, sind aber der Meinung,

daß das von den ShafiCiten Där al-SuH;i genannte Gebiet zum Där al-Isläm ge¬

höre, weil die Einwohner unter islamischer Herrschaft stehen; für sie ist ent¬

scheidend ob die Muslime eine Schutzherrschaft (Suzeränität) ausüben oder

nicht. Die islamische Schutzherrschaft zeigt sich in der Anwendung der Sha -

ri"ah ( id.irä°al?käm al-sharT"ah ) . aber über die Frage, in welchem Maß die

SharT"ah angewandt werden muß, besteht keine einheitliche Meinung. Einige

sind der Ansicht, daß es genüge, wenn die Muslime in diesen Gebieten sicher

seien, und wenn einige Vorschriften der Sharl"ah wie das Freitagsgebet und

(2)

die Feier islamischer Festtage beachtet würden. Andere sind der Meinung,

daß es zumindest einen islamischen Qädi geben müsse. Eine Theorie über die

Umwandlung von zum Där al-lsläm gehörende Gebiete in Där al-ljarb und

umgekehrt ist nur von den Hanafiten entwickelt worden. Abü Hanifah (gest.

767), nennt für den Ubergang von Där Isläm in Där Harb drei Voraussetzun¬

gen: a) die Gesetze der Ungläubigen müssen angewandt werden; b) das Ge¬

biet muß an das Där al-Harb grenzen; c) die primäre Sicherheit ( al-amän

al-awwal ) für Leben und Gut der Muslime und deren Schutzbefohlene ( Dhim -

mls ) muß fehlen, unabhängig davon, ob der neue Herrscher eine Sicherheits¬

garantie gibt oder nicht. Spätere Autoren sind der Ansicht, daß ein von Un¬

gläubigen erobertes Gebiet so lange Där Isläm bleibt wie die Muslime und

deren Schutzbefohlene sicher sind und die neue Gewalthaber einen islamischen

Qäji ernennen, der nach der Sharifah Recht sprechen kann. Die Lehre Abü

HanTfah's war jedoch innerhalb der hanafitischen Schule nicht unumstritten.

Seine Schüler Abü Yüsuf (gest. 798) und Muhammad al-Shaybäni (gest. 805)

akzeptieren nur seine erste Voraussetzung, nämlich die Anwendung der Ge¬

setze der Ungläubigen. Damit schließen sie sich der Meinung der anderen

Schulen an. Die Lehre Abü IJanTfah's hat sich aber innerhalb seiner Schule

durchgesetzt (3). Schließlich haben einige shafi^itische Juristen die Meinung

vertreten, daß Där Isläm niemals Där Harb werden könne. Wenn Ungläubige

islamisches Gebiet erobern, bleibt es de jure ( hukm^n j Där Isläm und kann

nur de facto ( gürat^" ) Där Harb genannt werden (4). Sie begründen diese

Ansicht mit dem Hadith "Der Islam ist überlegen und wird nicht übertrof¬

fen" (5).

Das zweite Problem, das sich im Zusammenhang mit dem antikolonialen

Kampf stellt, ist die Frage der Emigration (hidjrah) . Die Theorie lehrt, daß

Muslime unter bestimmten Voraussetzungen aus dem Där al-Ijarb ins Där al-

lsläm emigrieren müssen. Diese Vorschrift wird begründet mit K 4:97-100

und einigen Hadithen wie z.B. : "Ich habe nichts zu tun mit Muslimen die sich

unter den Heiden aufhalten" (6). Emigrieren muß, wer dazu im Stande ist und

wer seinen religiösen Pflichten nicht öffentlich nachkommen kann. Aber auch

wenn Muslime ihre Religion öffentlich ausüben können, bleibt die Emigration

empfehlenswert; dadurch wird der islamische Staat gestärkt und der Umgang

mit den Heiden unterbunden. Die Malikiten vertreten sogar die Meinung, daß

Auswanderung aus dem Där al-Harb unter allen Umständen erfolgen müsse,

während dagegen die Hanafiten der Ansicht sind, daß Emigration nicht unbe¬

dingt nötig sei. Letztere begründen ihre Meinung mit dem Hadith "Keine Emi¬

gration nach der Eroberung (von Mekka), aber Krieg und Entschlossenheit" (7).

Sie erkennen diesem Hadith Universalgültikeit zu, während die anderen Schu¬

len meinen, daß er nur für die Muslime galt, die in und um Mekka wohnten,

und die nach der Eroberung nicht mehr zur Emigration verpflichtet waren (8).

Ursprünglich bezog sich diese Forderung nur auf neubekehrte Muslime, die

außerhalb des Där al-lsläm lebten und dort zum Islam übergetreten waren.

Später wurde diese Interpretation aber auch auf Muslime angewandt, die in

den von Ungläubigen eroberten Gebieten wohnten.

Die britische East India Company breitete in Vorderindien von 1750 an

allmählich ihren Machtbereich durch Protektionsverträge, Annexierung und

Eroberung aus. 1765 übertrug der Mogulkaiser Shäh "Älam II den Briten die

Rechte auf die Einnahmen Bengalens, das vornehmlich von Muslimen bewohnt

war. Durch das von den Briten entwickelte Steuersystem (the Permanent

(3)

Settlement ) wurde die Klasse der muslimischen Feudalherren ( zamindar' s)

ruiniert, gleichzeitig verloren viele muslimische Bauern ihr Land und wurden

in die Lage landloser Lohnarbeiter versetzt. Da die East India Company ohne

Rücksicht auf die Folgen den Anbau der für die gewinnbringenden Produkte

stark förderte, wurde die Landwirtschaft in Bengalen weitgehend zerstört.

Auch die einheimische Handwerksindustrie kämpfte mit großen Schwierigkei¬

ten wegen der Einfuhr billiger industrieller Produkte. In anderen Teilen In¬

diens waren die Folgen der britischen Machtausbreitung vielleicht weniger

katastrophal, aber fast überall verkümmerte die Klasse muslimischer Feu¬

dalherren und erlitten die Händler in den Großstädten schwere Verluste durch

die Konkurrenz europäischer Händler. Dazu kam noch, daß die Muslime sich

den Hindus unterlegen fühlten, da diese den fremden Einflüssen aufgeschlos¬

sener gegenüber standen, eher geneigt waren, englisch zu lernen und deshalb

in der Verwaltung und im Militär stärker vertreten waren.

Dies alles verstärkte die spezifisch islamische Prägung des anti-britischen

Widerstandes, der von den indischen Muslimen angeführt wurde. In der er¬

sten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerte sich dieser Kampf gegen die briti¬

sche Kononialherrschaft in puritanischen, vom Wahhabitentum beeinflußten (9)

politischen Strömungen. Die wichtigsten Gruppierungen waren die FaräMjI-

Bewegung in Bengalen und die Tariqa-i Muljammadiyya -Bewegung. deren An¬

hänger von den Briten " Wahabites " genannt wurden, obwohl sie keine organi¬

satorische Verbindung mit den Wahhabiten Zentralarabiens hatten. Die reli¬

giöse Triebfeder ihres Kampfes war die Uberzeugung daß Indien durch die bri¬

tische Fremdherrschaft Där Harb geworden sei und für den Islam zurücker¬

obert werden müsse. Bereits 1803 hatte der Gelehrte Shäh "Abd al-"Aziz

(1746-1824), Sohn des berühmten Theologen Shäh WalT Alläh in einer Fatwä

dargelegt, daß Indien Där Harb sei, da die Ungläubigen die faktische Herr¬

schaft besäßen und die Verwaltung, die Steuererhebung und die Bestrafung

von Verbrechen gemäß den Gesetzen der Ungläubigen ausgeübt würden (lO).

Daß Shäh "Abd al-"AzIz bezüglich der Herrschaft der Maräthä' s, der hindu¬

istischen Fürsten, denen der Mogulkaiser früher unterstand, nicht dieselbe

Ansicht vertreten hat, kann nicht theologisch begründet werden (ll) und be¬

weist deutlich seine anti-britische politische Gesinnung. Ähnliches Fatwäs

wurden von Hadjdji SharTCat Alläh (1781-1840) erteilt, dem Führer der Fa-

rä'i?;i -Bewegung (12) und von Shäh lsmä"Tl Shahid (gest. 1831) und Shäh "Abd

al-Hayy (gest. 1828) der eine Schwiegersohn und der andere Neffe von Shäh

"Abd aI-"AzTz, zwei Gelehrte die sich der Tarlqa-i Muhammadiyya angeschlos¬

sen hatten (l3). Sayyid Ahmad Barelvi (1786-1831), der Führer der Tariqa-i

Muhammadiyya zog daraus den Schluß, daß die Briten zwar bekämpft werden

müßten, daß dieser Kampf jedoch von einem sicheren, außerhalb der briti¬

schen Einflußsphäre liegenden Gebiet aus geführt werden sollte. Deshalb rief

er zur Emigration aus dem Där al-Harb auf und begründete sein strategi¬

sches Konzept mit der klassischen islamischen Lehre von der Emigration

( hidjrah ) als religiöser Pflicht (l4).

Nach dem von den Briten niedergeschlagenen Aufstand des Jahres 1857,

sahen die Muslime der oberen Schichten ein, daß nur durch die Zusammen¬

arbeit mit den Briten ihre eigenen Interessen gesichert werden konnten. Die¬

se Muslime, die in Sayyid Ahmad Khän (1817-1898) ihren ideologischen An¬

führer fanden, wollten ihre Loyalität gegenüber der Kolonialmacht beweisen.

Dabei kam ihnen die Zweideutigkeit der klassischen juristischen Texte zu Hilfe.

(4)

Viele Fatwä s aus dieser Zeit betonen, daß die Briten die Religionsfreiheit

schützten und die Anwendung der Shari"ah zuließen, sodaß Indien folglich als

Där-Isläm angesehen werden müsse. Die Briten sollten daher nicht bekämpft

werden; sie seien außerdem durch Verträge legitimierte Gewalthaber. Selbst

wenn diese Argumentation nicht akzeptiert würde, widerspräche doch jeder

Widerstand den Gesetzen der Shar!"ah, da die britische Macht weit überlegen

sei und ein solcher Kampf keine Aussicht auf Erfolg haben könne. Mit derar¬

tigen Fatwäs und Abhandlungen (l5) versuchte diese Gruppe von Muslimen

den Briten zu beweisen, daß der Islam die britische Fremdherrschaft nicht

grundsätzlich ablehne und daß die Muslime treue und loyale Untertanen des

britischen Imperiums sein könnten. In dieser Zeit wurden auch die Muftis

in Mekka um ihr Urteil über die Lage Vorderindiens gefragt. Ihnen wurde die

Sache leichter gemacht, indem die Frage eingeschränkt formuliert wurde: ob

Indien unter der britischen Herrschaft Där Harb oder Där Isläm sei. Auf die¬

se Frage konnten sie ohne mit den Texten der Fiqh -Bücher in Konflikt zu kom¬

men, antworten daß Indien zum Där al-lsläm gerechnet werden müsse. Wä¬

ren sie aber gefragt worden, ob die indischen Muslime zum Kampf gegen die

Briten verpflichtet seien, hätten die Antworten ihnen sicher mehr Schwierig¬

keiten gemacht. Die durch die Sharl"ah festgelegte Antwort ist klar und ein¬

deutig: jeder Angriff von Ungläubigen auf islamisches Gebiet muß abgewehrt

werden, gleichgültig ob das eroberte Gebiet Där Harb wird oder nicht. Mit

einer ironischen Auslegung des Gesetzes hätten sich in diesem FeiII die mek¬

kanischen Muftis den Zorn der Orthodoxie zugezogen; mit einer Antwort die

zum Widerstand gegen die Briten aufgerufen hätte, wären sie mit den osma¬

nischen Behörden in Konflikt gekommen, da zu dieser Zeit die Beziehungen

zwischen Großbritannien und der Pforte ziemlich gut waren (16). Jedenfalls

war die Ansicht, daß Indien Där Isläm sei und daß die Briten nicht bekämpft

werden sollten die herrschende Meinung der muslimischen Bourgeoisie bis zu

den Balkankriegen (1912-14). Dann erst kamen neue fundamentalistische und

nationalistische Strömungen auf, die das Verhältnis zu den Briten in neuem

Licht sahen (l7).

Die französische Eroberung Algeriens trug einen grunsätzlich anderen Cha¬

rakter als die britische Kolonisation Indiens. Während die Briten ihre Gewalt

allmählich und nur in Ausnahmefällen mit militärischen Mitteln ausbreiteten,

war die Eroberung Algeriens ein ausschließlich militärisches Unternehmen.

1830 besiegte die französische Armee den türkischen Herrscher und besetzte

die Küstenstädte Algeriens. In diesen Städten ertrug man gelassen die franzö¬

sische Besetzung, Widerstand wurde nur von den Stämmen des Hinterlandes

geleistet, die sich auch vorher schon öfters der türkischen Herrschaft ent¬

zogen hatten. Der Widerstand organisierte sich hauptsächlich in religiösen

Orden ( j;uruq ), unter denen der Qädiriyyah -Orden vom Anfang an eine bedeu¬

tende Rolle spielte (l8). 1832 riefen die westalgerischen Stämme "Abd al-

Qädir ibn Muhiyy al-DIn (1808-1883) zum Emir der Stammeskonföderation

aus, der den Kampf gegen die Franzosen anführen sollte. "Abd al-Qädir ge¬

hörte zum Qädiriyyah -Orden. Zusammen mit seinem Vater hatte er einige

Jahre zuvor (zwischen 1827 und 1829) die Hadjdj vollbracht und war während

der Reise in Kontakt mit dem Wahhabismus gekommen und von dieser Lehre

stark beeindruckt worden. Im Kampf gegen die Franzosen verstand er es, in

gewisser Weise den Partikularismus der algerischen Stämme zu überwinden.

Das verbindende Element war für ihn der Islam; seine Anziehungskraft wurde

(5)

noch verstärkt durch die islamfeindliche Politik der Franzosen in den besetz¬

ten Gebieten, die sich in der Umwandlung von Moscheen in Kirchen und der

Zerstörung islamischer Friedhöfe manifestierte. "Abd al-Qädir war immer

bestrebt, sein politisches und militärisches Tun in Übereinstimmung mit der

Shari"ah zu bringen. Davon zeugen seine Briefe, in denen er ausländische

Religionsgelehrte um Gutachten bittet, in denen ihm ausgelegt wird, was der

Islam in Bezug auf besitmmte Aspekte des von ihm geführten Krieges und sei¬

nes Verhältnisses zu den ihm feindlich gesinnten Stämmen vorschreibt (l9).

Die Frage, ob der von den Franzosen besetzte Teil Algeriens Där Harb oder

Där Isläm sei, spielte dabei kaum eine Rolle. Die Lage war allerdings auch

viel eindeutiger als in Indien, wo die muslimischen Fürsten großenteils ihren

Thron behalten hatten und die Machtausbreitung der Briten eher durch Pro¬

tektionsverträge als durch direkte Eroberung verwirklicht wurde. Außerdem

gab es in der in Indien vorherrschenden hanafitischen Schule verschiedene The¬

orien, während die in Algerien vertretene malikitische Lehre eindeutig war.

Die von "Abd al-Qädir angefragten Fatwäs setzen alle voraus, daß das von

den Franzosen besetzte Gebiet Där Harb sei und dass die Franzosen bekämpft

werden müßten. In der Politik "Abd al-Qädirs spielt die Theorie der Emigra-

gration eine viel wichtigere Rolle, da durch massives Überlaufen der von den

Franzosen unterworfenen Stämme seine Macht gestärkt wurde. Mit Ausnahme

einer einzigen Fatwä behandeln alle die Frage, ob unter nicht-islamischer

Verwaltung stehende Muslime zur Emigration verpflichtet seien. "Abd al-Qä¬

dir selbst verfasste im Jahre 1843 eine Abhandlung zu diesem Thema (20).

Über diese Frage hat es heftige Auseinandersetzungen gegeben zwischen den

Gelehrten, die unter französischer Verwaltung geblieben waren und die die

Meinung vertraten, daß die Emigration keine religiöse Pflicht sei und den Ge¬

lehrten, die entgegengesetzter Ansicht waren (2l). Da die malikitische Schule

nur eine Meinung kannte, kann man annehmen, daß die erste Gruppe von Ge¬

lehrten zur hanafitischen Schule gehörte, die bezeichnender Weise die Schule

der türkischen Herrscherklasse war. In seiner Abhandlung greift "Abd al-Qä¬

dir in heftig polemisierendem Ton in die Diskussion ein, wofür das folgende

Zitat als Beispiel gelten soll:

"Ich habe gehört, daß jene Dummköpfe, die ohne Wissenschaft zu be¬

sitzen, Fatwäs erteilen und deshalb irren und irreführen, und auf

die die Worte des Propheten: 'Es wird für den Menschen eine Zeit

kommen, in der ihre Gelehrten mehr stinken als das Aas eines

Esels' anwendbar ist, daß diejenigen für ihre Meinung, daß Emi¬

gration keine religiöse Pflicht sei als Argument anführen den Hadith:

'Keine Emigration nach der Eroberung (von Mekka)' . Dieser

Hadith kann aber nicht als Beweis gelten" (22).

Die Fatwäs und "Abd al-Qädirs Abhandlung betonen alle oft unter Anführung

von Prezedenzfällen aus der Zeit des islamischen Rückzuges aus Spanien, daß

die Emigration aus dem Gebiet der Ungläubigen für die Muslime eine bindende

Pflicht sei von der man nur in Fällen absoluter Unmöglichkeit, z.B. wenn man

blind ist und keinen Begleiter finden kann oder so krank ist, daß man nicht

mehr reisen kann, entbunden werden kann. Viele folgten dem Aufruf zur Emi¬

gration (23). Es gab sogar im Lager von "Abd al-Qädir eine große Gruppe,

die wieder auswandern wollte, weil sie sich an das schlichte, karge Leben

nicht gewöhnen konnte (24).

(6)

Auch nach den Sieg des französischen Heeres über "Abd al-Qädir und sei¬

ner erzwungenen Ubergabe blieb der Geist des Widerstandes und des djihäd

noch unter den Algeriern lebendig. Hungersnot, Epidemien und der von den

Franzosen begangene Landraub brachten das Volk noch verschiedentlich in

Aufstand gegen die Unterdrücker. Erst 1871, nach der Unterdrückung der

Rebellion in der Kabylei, hatte Frankreich Algerien fest in seiner Gewalt.

Die algerischen Muslime waren gezwungen in einem Lande zu leben, in dem

die politischen Strukturen nur dem Interesse der colons dienten und in dem

das Erziehungswesen bewußt die arabisch-islamische Identität unterdrückte.

Die militärische Überlegenheit der Franzosen machte jeglichen weiteren Wi¬

derstand unmöglich. Wirtschaftliche Krisen und die Uberzeugung daß es Mus¬

limen verboten sei, unter der Verwaltung der Ungläubigen zu leben, brachten

viele dazu sich dem islamischen Gebot der Emigration zu unterwerfen und

aus zu wandern, vor allem nach Marokko, Tunesien und Syrien, wo "Abd al-

Qädir sich nach seiner Freilassung aus französischer Gefangenschft nieder¬

gelassen hatte. 1893, nach einer Hungersnot im Gebiet um Constantine, nahm

der Auszug algerischer Muslimen nach Syrien für die Franzosen beunruhigende

Ausmasse an. Die Kolonialverwaltung, die hier hauptsächlich die Wirkung

der painislamischen Propagande des osmanischen Sultans sah, wollte der Emi¬

gration gebieten (25). Um ihre Maßnahme auch religiös unterbauen zu können,

wandte sich der Generalgouverneur, Jules Cambon, an die mekkanischen Muf ¬

tis mit der Bitte um Fatwäs in dieser Angelegenheit. Wie vor zwanzig Jahren,

als sie über die Lage in Indien befragt wurden, gaben die mekkanischen Mufti s

auch jetzt keine eindeutige, auf die Lage in Algerien bezogene Antwort. Sie ga¬

ben sich damit zufrieden, die diesbezüglichen Texte der älteren Juristen zu

zitieren. Einig waren sie sich darüber, daß Muslime zur Emigration ver¬

pflichtet sind wenn sie ihre religiösen Pflichten nicht öffentlich erfüllen kön¬

nen. Sie enthielten sich jedoch jeglicher Beurteilung der Lage in Algerien (26).

Die Fatwäs wurden in Algerien verbreitet und die Zahl der Auswanderer nahm

ab; da sich aber zur gleichen Zeit die wirtschaftliche Lage besserte (27), ist

es unmöglich zu sagen, ob die Fatwäs allein den Rückgang der Abwanderung

bewirkt haben.

Am Beispiel Indiens und Algeriens habe ich zu erläutern versucht, welche

Rolle der Islam im frühen Widerstand gegen die Kolonialmächte gespielt hat.

Primäre Ursachen des Widerstandes waren wirtschaftliche und gesellschaft¬

liche Faktoren: große Teile der einheimischen Bevölkerung wurden in ihrer

Existenz bedroht. DaB der Kampf jedoch stark religiös geprägt war, lag da¬

rein, daß in einer Zeit, in der die Begriffe Nation und Nationalismus noch

nicht existierten, der Islam das einzige Element war, das die Bevölkerung

verbEind und aktivierte und außerdem die Opposition gegen die christliche,

koloniale Macht motivieren konnte. Es ist auffällig, daß die wichtigsten Wi¬

derstandsbewegungen stark vom Wahhabismus beeinflußt waren. Wahrschein¬

lich konnte gerade diese puritanische Richtung, die den Islam rein erhalten

wollte, sich gegen alle Erneuerungen sträubte und dementsprechend scharf

gegen die Ungläubigkeit reagierte, in dieser Periode am besten das ideolo¬

gische Konzept für den anti-kolonialen Kampf liefern.

Anmerkungen

1. Sekundärliteratur zu den Theorien über Där al-Isläm und Där al-Harb :

A. Abel. Där al-Harb . In: E.I.2, II, S. 126, Ders. Där al-Isläm. In:

(7)

E.I.2, s. 127 Ö.N. Bilmen. Hukuk! islamiyye ve tst'lahäti f'khiyye

kamusu. 6 Bde. Istanbul; Istanbul Üniversitesi Hukuk Fakültesi: 1949-52,

III, S. 394-6; H. inalcik. Där al-"Ahd. E.1.2, s. 116. Majid Khadduri.

War and Peace in the Law of Islam . Baltimore: The John Hopkins Press,

1955, S. 155-7; Hans Kruse. Islamische Völkerrechtslehre. Der Staats-

vertrag bei den Hanafiten des 5./6. Jahrhunderts d.H. (ll./l2. Jh.n.

Chr.). Dis.. Göttingen; 1953, S. 58-63; F. Lj/kkegaard. Islamic Taxa¬

tion in the Classic Period . Copenhagen: Branner og Kerch, 1950,, S.

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Dr. Kairo: Mustafa al-BäbT al-Halabi, 1386 d.H./l966 n.Chr., S. 138.

3. Muhammad ibn Ahmad al-SarakhsT. Sharti Kitäb al-Siyar al-KabTr li-

Mubammad ibn al-Hasan al-Shaybänl . 5 Bde. Ed. Saläh al-DTn al-Mu-

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al-anhur sharb multaqä al-abbur . 2 Bde. Istanbul; Där al-"Ämirah li-al-

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mubtär "alä al-Durr al-Mukhtär sharh Tanwir al-Abgär . 5 Bde. Büläq:

Där al-Tibä"ah al-Amiriyyah, 1299 d.H., III, S. 349-50; Abü Bakr ibn

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druck, Teheran: 1968), 1, 466.

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al-Haythaml) sharb al-Minhädj li-AbT Zakariyä' Yahyä al-NawawT. 8 Bde.

Mekka: al-Matba'ah al-MTriyyah, 1304-5 d.H. (1886-8 n.Chr .), VIII, S.

62.

5. BukhärT: djanä'iz 79.

6. Abü Däwüd: djihäd 95; Nasä'i: qasämah 27.

7. BukhärT: djihäd 1, 27, Tmän 41. sayd 10, maghäzT 35; Muslim: imärah 85.

86; Abü Däwüd: djihäd 2; TirmidhT: siyar 32; Nasä'T: bay"ah 15 .

8. Abü Bakr ibn "All al-RäzT al-Djassäs. Ahkäm al-Qur'än. Ed. Muhammad

al-Sädiq QamhäwT. 2. Dr. 5. Bde. Kairo: Där al-Mushaf, o.J. IV, S.

262; Äbü Bakr Muhammad ibn "Abd Alläh Ibn al-"Arabi. Abkam al-Qur'än .

Ed. "All Muhammad al-BadjäwT. 4 Bde. Kairo: "isä al-BäbT al-HalabT,

1387 d.H./l967 n.Chr., II, S. 876; Abü al-WalTd Muhammad Ibn Rushd

(der Großvater). Kitäb al-Muqaddamät . 2 Bde. Kairo: Matba"at al-Sa-

"ädah, 1325 d.H./1907 n.Chr., II, S. 285; al-ShirwänT, o.e. VIII, S.

62-3; Abü Muhammad "Abd Alläh ibn Ahmad Ibn Qudämah. al-MughnT

sharb Mukhtagar al-KhiraqT . Ed. Tähä Muhammad al-ZaynT. 10. Bde.

Kairo: Maktabat al-Qähirah, 1388-9 d.H./1968-9 n.Chr ., IX, S. 293-5.

9. Die Führer der antibritischen Bewegungen haben fast alle einige Zeit in

Arabien zugebracht, wo sie mit dem Wahhabismus in Kontakt kamen. Der

wahhabitische Einfluß zeigt sich auch deutlieh in den von ihnen erteilten

Fatwäs , die darlegen, daB das Freitagsgebet in dem von ihnen als Där

(8)

al-Harb angesehenen Indien ungültig sei. Diese Meinung stimmt nicht über¬

ein mit der in Vorderindien verbreiteten hanafitischen Schule. Cf. Ibn

"ÄbidTn, o.e. 1, S. 589, 594.

10. M. Mujeeb. The Indian Muslims. 2. Dr. London: Allen & Unwin, 1969,

S. 390-1. Muhammad Abdul Bari, The politics of Sayyid Ahmed Barelvi .

Isl. Cult. XXXI (1957) S. 156-64.

11. P.M. Holt, Ann K.S. Lambton & Bernard Lewis. The Cambridge History of

Islam . 2 Bde. Cambridge: Cambridge University Press, 1970, II, S. 73.

Auch der Inder al-TahänawT meint, daß in jener Zeit Indien als Där Isläm

angesehen werden müsse. Er schrieb um 1745: "Vorsichtshalber wird

dieses Land als Där al-lsläm wa-al-Muslimin betrachtet, obwohl es den

Verfluchten gehört und diese Teufel offenbar die Herrschaft ausüben".

(al-TahänawT, o.e., 1, S. 466). Cf. W.W. Hunter. The Indian Musalmans.

Are they Bound in Conscience to Rebel against the Queen ? London: Trübner

& Cy. 1871, S. 133-4.

12. Mujeeb, o.e. 391; Qeyamuddin Ahmad. The Wahabi Movement in India .

Calcutta: Mukhopadhyay, 1966, S. 88.

13. Hunter, o.e. S. 140.

14. Ahmad, o.e. S. 217, 325, 340; Hunter, o.e. S. 70.

15. Mujeeb, o.e. S. 399; Hunter, o.e. S. 112, 121 ff. 214-5; Syed Ahmad

Khan Bahadur. Review on Dr. Hunter's Indian Musulmans . Benares:

Medical Hall Press, 1872, passim ; Abdur Rahim. The Principles of

Muhammadan Jurisprudence. 2. Dr. Lahore: All Pakistan Legal Decisions,

1963. S. 395-7.

16. Die Texte dieser Fatwäs . bei Hunter, o.e. 213-4; Ahmad Khan, Review,

S. 1, II; weiter noch: C. Snouck Hurgronje. De Atjehers. 2. Bde. Batavia/

Leiden: Landsdrukkerij/E . J . Brill. 1894, 11, S. 387-8.

17. Mujeeb, o.e. S. 400.

18. Cf. Ahmed Nadir. Les ordres religieuses et la conquete francaise ( 1830 -

1851) . Rev. Alg. des Sc. Jur. econ. et pol. IX No. 4 (Dez. 1972) S. 819-

73.

19. Mir sind die folgenden Briefe und Antworten bekannt:

1) Ein Brief aus dem Jahre 1837 an den marokkanischen Sultan mit der

Bitte, von seinen Gelehrten eine Fatwä erteilen zu lassen hinsichtlich

einiger spezifischer Fragen. Die Fatwä wurde verfaßt vom Shaykh al-

Islam al-Hasan "Ali ibn "Abd al-Saläm al-Tasüli. Text des Briefes

und der Fatwä in: Muhammad ibn "Abd al-Qädir al-Djazä'irT. Tuhfat al-

zä'ir fi ta'rTkh al-Djazä'ir wa-al-amir "Abd al-Qädir . 2. Dr. Kmt. und

Anm. v. Mamdüh Haqqi. Beirut: Dar al-Yaqazah al-"Arabiyyah, 1964, S.

316-29. Franz. übers.: E. Miehaux-Bellaire. Traduction de la Fetoua

du Faqih Sidi "Ali Et Tsouli contenant le "Souäl" du Hädj Abdelqäder ben

Mahi Ed Dln et la response. Archives Marocaines 11 (1907), S. 116-28,

395-454; 15 (1909), S, 158-84.

2) Im selben Jahre ergeht die Bitte um eine Fatwä an ägyptische Gelehrte

Cf. Tul;fat al-zä'ir , S. 329. Der Verfasser der Tul^fah. der Sohn "Abd

al-Qädirs, behauptet, die Antwort nieht gesehen zu haben. Diese ist jedoeh

in der Fatwä-Sammlung des ägyptischen malikitischen Gelehrten Muham¬

mad "Ulaysh (1802-1881) erhalten. Cf. Muhammad "lUaysh. Fath al-"all

al-mälik fl al-fatwä "alä madhhab al-imäm Mälik. 2 Bde. Kairo: Matba"at

al-Taqaddum al-"ilmiyyah, 1319 d.H., 1, S. 313-28.

(9)

3) Ein Brief aus dem Jahr 1840, an den QäjT von Fes, mit der Bitte um

eine Fatwä über den Krieg und die gesetzliche Lage der mit den Franzo¬

sen kollaborierenden Stämme. Text in: Tutifat al-zä'ir , S. 384-93.

4) Ein Brief, geschrieben um 1846 an den ägyptischen Gelehrten "lUaysh

mit der Bitte um eine Fatwä über den Verrat des marokkanischen Sultans.

Text in: Tubfat al-zä'ir , S. 471-80; "lllaysh, Fath, I. 328-34.

20. Text in: Tutifat al-zä'ir , S. 411-23.

21. "lllaysh, Fatb , I, S. 313; M.B. Vincent. Etudes sur la loi musulmane

( rit de Malik ) Legislation criminelle. Paris: Joubert, 1842, S. 123-4.

22. Tuhfat al-zä'ir , S. 316.

23. Charles-Robert Ageron. Les Algeriens Musulmans et la France (1871-1919)

2 Bde. Paris: Presses Universitaires de France, 1968, 11, S. 1080.

24. "lllaysh, Fatlj , I, 320.

25. Ageron, o.e., II, S. 1080-2.

26. Octave Depont & Xavier Coppolani . Les Confreries Religieuses Musulmanes .

Alger: Adolphe Jourdan, 1897, S. 33-7.

27. Ageron, o.e., II, S. 1082.

(10)
(11)

DER MODERNE ALLTAG IM SPIEGEL HANBALITISCHER FETWAS

AUS AR-RIYÄp

Von Gerd-Rüdiger Puin, Scheidt

Grundlage für die vorliegende Untersuchung sind insgesamt 675 Fetwas aus

der Zeit zwischen Mai 1965 und Juni 1974, die in der wöchentlich in ar-Riyäd

erscheinenden Zeitung "ad-Da"wa" auf einer besonderen Seite veröffentlicht worden sind. In fast allen Fällen ist ihr Autor "Abd Alläh b. "Uqail l), der

seit 1951/52 hohe richterliche Ämter in Zentralarabien bekleidet. Zwar hat

die Zeitung hin und wieder auch andere Fetwas veröffentlicht - etwa so spek¬

takuläre wie von Ibn Bäz über das geozentrische Weltbild - , doch seien diese

aus methodischen Gründen beiseite gelassen.

In Fetwa-Sammlungen liegt uns wertvolles Material für die Beurteilung kul¬

turgeschichtlicher Situationen vor 2), insofern nämlich, als die Muftis auf

die jeweiligen Anliegen ihrer Zeit reagiert haben, daß also bereits aus

der Natur und dem Gewicht der Anfragen Schlüsse gezogen werden können.

Eine solchermaßen saubere "Versuchsanordnung", die auch in den Augen ei¬

nes Soziologen bestehen könnte, ist freilich nur in den Akten des Muftis kon¬

serviert. Sobald dieser seine Entscheidungen zusammenfassend publiziert,

wird er eine Auswahl treffen müssen, an systematischen, theologischen, zeit¬

kritischen, stilistischen und vielen anderen Kriterien ausgerichtet, das heißt,

die uns gedruckt vorliegenden Sammlungen besitzen nicht mehr die frische

Authentizität des zugrunde liegenden Materials. Hier liegt ein starkes Argu¬

ment für die langjährige Zeitungsanalyse, da der Zugang zu den Akten kaum

möglich und mit einer umfassenden Veröffentlichung ohnehin nicht zu rech¬

nen ist. Unklärbar scheint freilich die Relevanz der Eindrücke, denen sich

der Leser zeitgenössischer Fetwas aussetzt. Man muß unterstellen, daß die

Fragen an die Dar al-Iftä' aus den frommen, in religiösen Dingen interessier¬

ten Kreisen stammen, allenfalls also für diesen vergleichsweise kleinen Teil

der Bevölkerung repräsentativ sein können. Die Rolle dieser Minderheit für

die Meinungsbildung, für die tatsächliche und potentielle Politik muß man zwar

ernst nehmen, jedoch bleibt die Einschätzung ihres Stellenwertes gewagt. Im

übrigen fehlen uns, was Saudi-Arabien betrifft, Anhaltspunkte für die tatsäch¬

liche Bedeutung (etwa in vor Gericht verhandelten Fällen) solcher Rechtsgut¬

achten, so daß eine Analyse bestenfalls erreichen kann, daß die aktuellen Fra¬

gen, Ängste und Zweifel einer frommen Minderheit zu Wort kommen. Stimmt

man dem Ansatz zu, so erhebt sich das Problem der Darstellung, liegen uns

doch zunächst Einzelentscheidungen vor, die den Forscher (schon wegen der

in ihnen genannten Quellen und Autoritäten) dazu verleiten, sich im Detail zu

verlieren, eher die historische Tiefe auszuloten als das sich aus ihnen erge¬

bende Gesamtbild zu zeichnen. Wer auf diesem Gebiet den religionsgeschicht¬

lichen Aspekt in den Vordergrund stellt, muß von den Fetwas enttäuscht sein,

denn sie können selten mehr bieten als das schon von früher bekannte und nur

in Ausnahmefällen scheint eine rechtsgeschichtliche oder theologische Durch-

Referenzen