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Und hinter der Liebe kein Paradies

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Academic year: 2022

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Und hinter der Liebe kein Paradies

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Das Schöne an Literatur ist, dass sie sich gegen Interpretationen nicht wehrt. Im Gegenteil. Klassiker ist, wie Italo Calvino meinte, wer nie aufgehört hat zu sagen, was er zu sagen hat. Boccaccio und sein Decameron gehören gewiß dazu. Jüngstes Beispiel: Kurt Flasch.

Er hat, in diesem Sinne, etwas Schönes getan: elf Liebesgeschichten ausgewählt, lesenswert neu ins Deutsche übertragen und nicht minder lesbar interpretiert. Es bestätigt sich, dass dieses Buch, allen Anzüglichkeiten zum Trotz, ein zutiefst moralisches Anliegen hatte. Flasch wird nicht müde nachzuweisen, dass sich bei Boccaccio hinter der Liebe kein Paradies mehr auftut.

Von ihrem Himmelsweg bei Dante bleibt ihr nicht viel mehr als eine “vielfarbige Phänomenologie”. Autor und Figuren sind zu transzendental Obdachlosen geworden. Amor kann zwar den Menschen zur höchsten Seelenkultur erheben; ihm aber nicht minder den Verstand rauben und zur Unnatur erniedrigen. Diese Liebe ohne Gott wird zugleich anfällig für Fortuna, und beide dieser Hauptagenten des Lebens müssen ihre “Systemlosigkeit” offenbaren.

Aber sollte das die - neue - Moral Boccaccio sein? Das Dilemma findet, nach Flasch, seine Auflösung in der letzten Novelle des Decameron, der berühmten Griselda-Geschichte. Sie ist ein klassisches Stück für sich, häufig nachgeschrieben und noch öfter interpretiert. Ein Markgraf wählt eine arme, junge Frau zu seiner Gemahlin, läßt sie vor versammeltem Hofstaat nackt ausziehen, fürstlich wieder einkleiden und heiratet sie. Doch dann beginnt er, sie einer Reihe von unmenschlichen Prüfungen zu unterziehen. Griselda erträgt sie mit unerträglicher

“Geduld”. Er findet ihr Verhalten “weise”. Darauf erneuert er ihre Hochzeit, und das böse Märchen endet mit einem empörenden happy-end. Kurt Flasch macht sich diese Geschichte zu eigen, indem er Griselda zunächst erneut entkleidet: entschlossen nimmt er ihr all die Gewänder ab, die bisherige Deutungsgenerationen über sie geworfen haben. Eine gute Gelegenheit im übrigen, den “Bildungsplunder” und seine “Spezialisten” mit Verachtung zu strafen; nicht ohne zugleich die “gedankliche Schwäche von Geisteswissenschaftlern” zu erwähnen; von “Literaturwissenschaftlern” ganz zu schweigen, in deren Händen Dichtung denkbar schlecht aufgehoben sei. Wo deren Haussegen wirklich hängt, daran läßt der Historiker der Philosophie keinen Zweifel: in der Philosophie. Der Zuschnitt für Griseldas neue Kleider wäre damit klar.

Erste Maßnahme: er erklärt Boccaccio zum Philosophen. Dafür gibt es Gründe. Literatur war begründungspflichtig gegenüber der einen Wahrheit der Theologie. Aber den Dichter deshalb ganz zum Denker zu machen? Griselda, “konsequent” und “stringent” genug ideengeschichtlich betrachtet, geht daraus als “Leitfigur der Stoa-Rezeption” hervor. Und die, die empörend widerstandslos alles erträgt, steigt auf zur “Heroin reiner Selbstbestimmung”!

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Wie aber kommt die Stoa in diese Griselda? Sie bringt ihre Haltung ja von Anfang an mit. Ist die Stoa also eine Naturveranlagung? Harte Religion einfacher Leute in schweren Zeiten? Oder ist es die Liebe zum Grafen, die sie alle seine Lieblosigkeiten ertragen läßt? Dann wäre ihre Liebe Zwang und Bann, keine reine Selbstbestimmung. Dieses würdige und ehrenvolle Gewand verdankt die Ungebildete mithin vor allem ihrem (philosophisch) gebildeten Betrachter. Wie jedes schöne Kleid hat auch dieses seinen (hohen) Preis. Zunächst: Boccaccio selbst wollte Philosoph nicht sein: “die Poeten sollten Philosophen so wenig wie möglich nachäffen” (“phylosophorum symias minime poetas esse”) - “vielmehr die Natur”!

Die ‘dunkle’ Poesie habe es gerade mit den unabsehbaren Wechselfällen des Lebens zu tun. Sie aber wollen immer neu besprochen sein: gerade so, wie die zehn Erzähler des Decameron es vormachen. Für sie ist Griselda keine “abstrakte Figur”. Sie gehört vielmehr in den Zusammenhang, der die erzählten Geschichten mit den Geschichtenerzählern verbindet.

Dort spielen nicht nur Griseldas Kleider, sondern ihre programmatische Nacktheit eine große Rolle. Denn auch die Erzählerinnen haben sich demonstrativ entkleidet und sich dabei einem neuen, brisanten Sinnbild von Nacktheit unterstellt, Venus. Boccaccio - nicht der Philosoph, der Mythologe - hat erklärt, was dies heißt: in der menschlichen Natur selbst, nicht jenseits, ist, im Prinzip (“Venus magna”), bereits alles angelegt, worauf sich eine menschengerechte Kultur berufen kann. Der skeptische Kulturfachmann Gualitieri überprüft dies an der Belastbarkeit des reinen Naturkindes Griselda. Umgekehrt aber kommt auch ihre gute Natur erst im Rahmen von Kultur richtig zur Geltung. Im Gästebuch der Griselda bliebe also durchaus noch Platz für weitere Eintragungen. Kleider machen, Kleider verbergen aber auch Leute.

i GIOVANNI BOCCACCIO: Kurt Flasch: Vernunft und Vergnügen. Liebesgedichte aus dem

Decameron. München (Beck) 2002.

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