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Verborgenes Paradies

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Academic year: 2022

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Leser Romana

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Verborgenes Paradies

Wertimaginationen:

Die heilsame Kraft der seelisch-geistigen Bilder erleben

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Science (MSc)

im Rahmen des Universitätslehrganges Psychosoziale Beratung

Wissenschaftliche Begutachterin: Univ.-Doz.in DDr.in Barbara Friehs Praxisbetreuer: Mag. Dave Josef Karloff

Karl-Franzens-Universität Graz und UNI for LIFE

Neufeld, Juli 2020

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Vorwort

Früher habe ich viel über Freiheit und den Sinn des Lebens nachgedacht und wie es sich anfühlt, wirklich frei zu sein. Kognitiv konnte ich mir darauf keine zufriedenstel- lende Antwort geben. Die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung veränderte mein Le- ben und mein Lebensgefühl dank der Erfahrung meiner inneren Bilder nachhaltig. Mitt- lerweile ist die wertimaginative Arbeit ein wesentlicher Bestandteil in meinem Leben geworden. Sie lässt mich immer wieder staunen und ich bin dankbar, meine Klient*in- nen auf dem Weg in ihre heilsame und stärkende Welt begleiten zu dürfen. Sich selbst anzunehmen, ja, zu lieben und die eigene innere Wahrheit zu erkennen, sind beson- ders schöne und starke Momente, die ich mit den Klient*innen erleben darf. Welche Lebensveränderung wertimaginative Arbeit auslöst, zeigen die nun folgenden Worte einer Klientin, die ich über ein Jahr begleitet habe.

„Ein Bild von einem Traum hat meine einstige Lebenssituation klar dargestellt:

‚Ich wurde in einem hölzernen, vergitterten Leiterwagen durch ein mittelalterlich wirkendes Dorf gefahren. Ich hatte das Gefühl, zu meiner Hinrichtung zum Scheiterhaufen gebracht zu werden.

Ich spürte eine tiefe Traurigkeit und fühlte mich verraten. Pure Verzweiflung, Ausweg sah ich keinen. Mein Leben konnte ich nicht mehr bestimmen, es wurde bestimmt.’

Diese Fremdbestimmung habe ich auch in meinem damaligen Leben empfunden. Die

‚Baustellen’ waren zu diesem Zeitpunkt sehr groß und schienen zum Teil unlösbar. Mir war klar, dass ich diese Lebenssituation nicht mehr lange durchhalten konnte. An die- sem Punkt in meinem Leben, an dem die Verzweiflung schon fast unerträglich war, habe ich die Methode der Wanderung zu den inneren Bildern gefunden. Zugegebe- nermaßen hatte ich ein wenig Angst, denn ich war mir nicht sicher, was mir bei der Reise nach innen begegnen konnte. Heute bin ich überglücklich, mich diesen Heraus- forderungen gestellt zu haben.

‚Heute gehe ich aufrecht und erhobenen Hauptes über eine weite Landschaft.’

Zwischen diesen beiden extrem unterschiedlichen Bildern liegt der Weg der Wertori- entierten Persönlichkeitsbildung. In den regelmäßigen Sitzungen wurden aktuelle Be- findlichkeiten abgefragt und besprochen. Mithilfe des Enneagramms (der Lehre von den neun unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen des Menschen) konnte ich mich mit meinem Charakterbild auseinandersetzen. Damit sind meine Reaktionen verständ- licher und die Handlungen bewusster setzbar geworden.

Doch der eigentliche Höhepunkt war immer die Reise nach innen. Dabei habe ich die unterschiedlichsten Landschaften bereist und mir zuvor unbekannte Persönlichkeiten

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getroffen. Der Wahrheitsfinder, der Friedvolle oder die Heilerin sind Werte, die in den Imaginationen in menschlicher Gestalt auftreten. Diese Werte haben mir nicht nur Bot- schaften mit auf den Weg gegeben, sie haben mir ein Gefühl vermittelt. Diese Gefühle standen in Verbindung mit meinen Stärken und Möglichkeiten.

Noch nie zuvor bin ich mit einem Gold bestickten weißen Kleid durch einen barocken Spiegelsaal gegangen. Allein diese Erfahrung hat in mir etwas verändert und das hat sich folglich auch im Außen gezeigt.

Die Begegnungen mit Werten und das Wandern zu meinem Inneren gestalteten sich als sehr versöhnlich. Mithilfe der Wertimaginationen war es mir möglich, meinen per- sönlichen Wert zu erkennen. Dadurch konnte ich mein Selbstbewusstsein wieder kor- rigieren. Aufgrund dieser unglaublich starken Bilder, die ich in meiner inneren Welt erlebte, konnte ich mich innerlich aufrichten und das Ruder meines Lebens wieder übernehmen. Mit Klarheit und Stärke war es mir außerdem möglich, Verbindungen zu meinem Umfeld zu ändern. Die Kraft dieser inneren Bilder ist unvergessen und beglei- tet mich durch mein neues Leben. Diese Bilder sind nicht nur gesehen, sondern auch gefühlt und damit sehr intensiv spürbar. Es sind Erlebnisse, die mich fortwährend stär- ken und an die ich immer wieder gerne denke. Durch die Erinnerung daran kann ich stets Energie schöpfen.

Ich danke meiner Mentorin, Romana Leser, aus ganzem Herzen für die liebevolle und respektvolle Begleitung durch meine Bilder. Ich habe mit ihrer Unterstützung ein Leben gewonnen, dass ich mir zuvor nicht einmal erträumen habe trauen.“

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Danksagung

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz besonders bei all jenen bedanken, die mich im Rahmen dieser Masterthesis begleitet und unterstützt haben.

Mein besonderer Dank geht an Univ.-Doz. DDr. Barbara Friehs, die meine Masterar- beit betreut und mir stets ein sehr wertvolles Feedback gegeben hat.

Darüber hinaus bedanke ich mich bei allen Expert*innen, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Die persönlichen Interviews mit Euch wurden in einer sehr einladenden und vertrauensvollen Atmosphäre geführt. Herzlichen Dank auch dafür.

Ein ganz besonderer Gewinn ist für mich, dass ich mich mit Euch auch im Hinblick auf zukünftige Kooperationen vernetzen konnte.

Ich danke außerdem allen meinen Klient*innen, die ich bisher begleiten durfte. Es ergaben sich in der WOP®-Arbeit sehr berührende und bewegende Momente, auf die ich dankbar zurückblicke und die mir aufzeigen, dass der Mensch größer ist als sein Problem. Es lässt mich erkennen, wie kostbar die WOP®-Arbeit ist. Dadurch wurde ich auch angeregt, mich diesem Thema zu widmen.

Mein Dank geht auch an die großen Denker*innen und Forscher*innen, die die Größe des Menschen und den menschlichen Geist als Dreh- und Angelpunkt gelingenden Lebens erkannt haben. Ich habe während meiner Exploration in großartige Bücher und Forschungsergebnisse Einblick bekommen. Dankbar erwähne ich auch meinen Lehrer Professor Dr. Uwe Böschemeyer, der einer dieser großen Forscher und Denker ist. Er hat mir mit seiner Entwicklung der WOP - und WIM-T- Arbeit und seiner Begeiste- rung ein gänzlich neues Bild des Menschen vermittelt. Ich hoffe, dass seine großarti- gen Erkenntnisse durch seine Schüler*innen weitere Verbreitung erfahren.

Überdies gilt mein Dank der Lektorin dieser Masterthesis. Sie hat mich hervorragend unterstützt.

Nicht zuletzt geht meine Danksagung an meine Familie, die mein Vorhaben, an die Universität zu gehen, tatkräftig unterstützt hat. Mein Mann und meine Kinder zeigten viel Verständnis hinsichtlich der arbeitssamen Wochenenden. Zusätzlich konnte ich meine Begeisterung, die ich im Laufe des Schreibens erfahren habe, immer wieder mitteilen. Dieses erzählende Aufbereiten hat zusätzlich eine weitere Vertiefung in mein Thema bewirkt.

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Abstract

Der Mensch und sein verborgenes Paradies sind Thema dieser vorliegenden Masterthesis. Gemeint ist das geistig Unbewusste, da es die Quelle der humanspezifischen Werte ist. Aus diesem Grund wird die Wirkung von Wertimaginationen im Menschen beforscht. Das Ergebnis zeigt auf, dass die Methodik der Wertimagination, wie es in der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung (WOP) oder in der Wertimaginativen Logotherapie (WIM-T) nach Uwe Böschemeyer Anwendung findet, ein aussichtsreicher und hoffnungsvoller Weg in der Beratung und Therapie ist. Die innere Welt des Menschen ist reich an Werten und Wertmöglichkeiten, die sich in Gestalten, Bildern und Symbolen zeigen. Werte sind Gründe für Sinnerfahrung und Sinnerkenntnis. Wertimaginationen ermöglichen einen Dialog zwischen dem Unbewusstem und Bewusstem, begleitet von einer starken lebensbejahenden Gefühlskraft. So kann die innere Weisheit des geistig Unbewussten bewusst erfahren werden. Auf diese Weise geschieht eine intensive emotionale Berührung, die nachhaltig eine positive Veränderung im Menschen hervorruft. Die Ergebnisse der Expert*inneninterviews verdeutlichen, dass Wertimaginationen den Menschen sehr tief berühren. Dies kommt in unterschiedlichen Ausdrucksweisen zum Vorschein und ist häufig auch auf körperlicher Ebene sichtbar. Diese tiefe Wertschöpfung, im geistig Unbewussten und durch die inneren Bilder erfahrbar, ist durch die starke emotionale Beteiligung nachhaltig und sehr kostbar.

Wertimaginationen ermöglichen Identitätsfindung, da sie den Wesenskern, die Ursprünglichkeit des Menschen zum Vorschein bringen. Dadurch entsteht Selbstbestimmung. Der Mensch gelangt in seine Selbstwirksamkeit und erspürt seinen tiefen Seinsgrund. Die Folgen sind ein wahrhaftiges und kraftvolles Leben. Gleichzeitig wird der Mensch widerstandsfähiger und immer freier von äußeren Umständen. Dies erhöht auch die Lebenszufriedenheit nachhaltig.

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Abstract

The subject of this paper is the human being and their hidden paradise, meaning the spiritual unconscious, as it is the source of the values specific to humans. For this reason, the effect of value imaginations in humans is explored. The results show that the methodology of value imaginations, as applied in Value-Oriented Personality For- mation (WOP) or in Value-Imaginative Logotherapy (WIM-T) according to Uwe Böschemeyer, is a promising and hopeful path in counselling and therapy. The inner world of the human being is rich in values and their possibilities of value, which are reflected in figures, images and symbols. Values are reasons for sense experience and sense knowledge. Value imaginations enables a dialogue between the uncon- scious and conscious, accompanied by a strong life-affirming emotional power. The inner wisdom of the spiritually unconscious can thus be consciously experienced. That way, an intensive emotional connection takes place, causing a lasting positive change in the person. The results of the expert interviews clearly show that value imaginations touch people very deeply. This surfaces in different ways of expression and is often also visible on a physical level. This vast creation of value, which can be experienced in the mental unconscious and through the inner images, is lasting and very precious through the strong emotional involvement. Value imaginations make it possible to find identity, because they bring out the core of one’s being, the originality of the human being. This is how self-governance is created. The human being reaches self-efficacy and feels a deep reason for one’s being. The consequences are a true and powerful life. At the same time, the human being becomes more resilient and increasingly free from external circumstances, which also increases life satisfaction in the long term.

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ... 1

Abbildungsverzeichnis ... 4

I Einleitung ... 6

II Theoretischer Teil ... 11

1 Wunder Mensch ... 11

1.1 Menschenbild aus existenzanalytischer Sicht... 12

1.2 Aspekte des Menschen ... 15

1.2.1 Werte als Quelle ... 16

1.2.2 Sinnfrage und Sinnsuche ... 19

1.2.3 Verborgene Spiritualität ... 22

1.2.4 Faktor Resilienz ... 24

1.2.5 Typologien ... 27

1.2.5.1 Typus 1 (Reformer) ... 29

1.2.5.2 Typus 2 (Helfer) ... 30

1.2.5.3 Typus 3 (Erfolgsmensch) ... 30

1.2.5.4 Typus 4 (Romantiker) ... 31

1.2.5.5 Typus 5 (Beobachter) ... 32

1.2.5.6 Typus 6 (Loyaler) ... 33

1.2.5.7 Typus 7 (Glücksucher) ... 34

1.2.5.8 Typus 8 (Starker) ... 34

1.2.5.9 Typus 9 (Ursprünglicher) ... 35

2 Innere Welt des Menschen ... 38

2.1 Innere Bilder – Grundlage der Imaginationen ... 38

2.1.1 Träume ... 41

2.1.2 Symbole ... 44

2.2 Gehirn, Geist und Körper ... 49

2.2.1 Materie und Geist ... 49

2.2.2 Zellbiologische Grundlagen und neurowissenschaftliche Sichtweisen ... 52

2.2.3 Gehirnwellen als geistige Marker ... 54

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2.2.4 Macht der Gedanken und Überzeugungen ... 57

3 Erfahrung des geistig Unbewussten nach Böschemeyer ... 62

3.1 Wertimagination – Zentrum der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung nach Uwe Böschemeyer ... 63

3.1.1 Entwicklungen und Erfahrungen ... 65

3.1.2 Wertorientierte Persönlichkeitsbildung ... 68

3.1.3 Charakteristische Eigenschaften ... 70

3.1.4 Methodik und Ablauf ... 73

3.1.4.1 Verabredung des Ziels ... 75

3.1.4.2 Einleitung der Entspannung ... 75

3.1.4.3 Einstellung des Einstiegssymbols ... 75

3.1.4.4 Erwartung der Wertgestalt oder Wertgestalten ... 77

3.1.4.5 Begleitung in der Wertimagination ... 80

3.1.4.6 Nachgespräch ... 82

3.1.4.7 Verschriftlichung ... 82

3.1.5 Wertimaginative Führungshilfen ... 82

3.1.5.1 Verweilen bei den Symbolen ... 83

3.1.5.2 Vordergründigkeit des Erlebens ... 83

3.1.5.3 Weitung des Blickes ... 83

3.1.5.4 Mitte des Symbols ... 83

3.1.5.5 Auffälliges betrachten ... 84

3.1.5.6 Befragung des Symbols ... 84

3.1.5.7 Verdichtung des Symbols ... 84

3.1.5.8 Annahme von Herausforderungen ... 85

3.1.5.9 Durchschreiten der Dunkelheit... 85

3.1.5.10 Sehen durch die Wertgestalt... 86

3.2 Übersetzung ins Leben ... 86

3.2.1 Triasimagination ... 90

3.2.2 Transferimagination ... 92

3.3 Wertimaginative Logotherapie ... 93

III Empirischer Teil ... 95

4 Forschungsdesign ... 95

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4.1 Qualitatives Forschungsdesign ... 95

4.2 Erhebungsinstrument ... 98

4.2.1 Expert*inneninterview ... 100

4.2.2 Expert*in als Begriff... 100

4.3 Interview ... 102

4.3.1 Interviewdurchführung... 102

4.3.2 Stichprobe ... 102

4.3.3 Qualitative Auswertung ... 103

4.3.4 Interviewauswertung ... 107

5 Forschungsergebnisse ... 108

5.1 Expert*innenauswahl ... 109

5.2 Interviewleitfaden ... 112

5.3 Kategorien ... 113

5.3.1 Inanspruchnahme der WOP/WIM-T ... 114

5.3.2 Mehrwert durch Wertimaginationen ... 116

5.3.3 Wirkung der inneren Bilder ... 118

5.3.3.1 Nachhaltigkeit der Wirkung ... 120

5.3.3.2 Wirkung der Typus-spezifischen Bilder ... 121

5.3.3.3 Bezug Wertimaginationen und Träume ... 124

5.3.4 Wirkung der Wertgestalten ... 126

5.3.4.1 Wahl der Wertgestalten ... 128

5.3.4.2 Vorgabe der Wertimaginationsziele ... 130

5.3.4.3 Wertorientierte und problemorientierte Ziele ... 134

5.3.5 Veränderungen durch Wertimaginationen ... 136

5.3.6 Erkenntnisgewinn durch Wertimaginationen ... 141

5.3.7 Übersetzung ins Leben ... 144

5.3.8 Auswirkung auf die Spiritualität ... 147

5.3.9 Korrelation: Anzahl der Wertimaginationen und ihrer Wirkung .. 149

5.4 Persönliche Anmerkungen der Experten ... 151

IV Fazit und Ausblick ... 155

Literaturverzeichnis ... 157

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Dimensionalität menschlichen Lebens ... 18

Abbildung 2: Triasimagination ... 92

Abbildung 3: Beispiel eines Kategoriensystems ... 106

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Enneagramm ... 37

Tabelle 2: Hilfreiche Fragen zu Träumen ... 44

Tabelle 3: Symbole ... 47

Tabelle 4: Gehirnwellen, Frequenzbänder und Auswirkungen ... 56

Tabelle 5: Methodik der Wertimagination ... 74

Tabelle 6: Wertgestalten ... 78

Tabelle 7: Konkrete Führungshilfen in der Wertimagination ... 83

Tabelle 8: Wirkung von Wertimaginationen ... 88

Tabelle 9: Themenzentrierte Wertimaginationen ... 89

Tabelle 10: Abgrenzung qualitative und quantitative Forschung ... 96

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Abkürzungsverzeichnis

WOP Wertorientierte Persönlichkeit WIM-T Wertimaginative Logotherapie

GWePe Gesellschaft für Wertimagination und Persönlichkeitsbildung WIM Wertimagination

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0 I Einleitung

6

I Einleitung

„Menschen aber machen sich auf den Weg, um die Höhen der Berge zu bewundern, die gewaltigen Fluten des Meeres, die Kreisbewegungen der Gestirne, sich selbst lassen sie achtlos beiseite und staunen nicht“ (Augustinus o. J., zit. n. Huffington 2016, 175).

Augustinus gehörte zu den großen abendländischen Mystikern. Mit diesem Zitat weist er auf das Verborgene im Menschen hin. Seit jeher ist der Mensch auf der Suche nach dem Glück. Eine der zentralsten Fragen, die ihn beschäftigt, ist: Wie werde ich glücklich? Jeder Mensch strebt nach Glück und doch scheint es, dass es kein Erfolgsrezept für Glück gibt.

Diese Masterthesis soll zur Erkenntnis beitragen, dass das Geheimnis gelingenden Lebens tief in jedem Menschen verborgen ist. Alleinige Rationalität führt zur Selbst- entfremdung, gleichbedeutend mit dem Verlust der inneren Heimat. In sich gebor- gen zu sein, ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Erst wenn dieses Bedürfnis in uns befriedigt ist, sind wir in der Lage es weiterzugeben. So ist es auch mit der Liebe, der Freiheit, der Hoffnung, der Zuversicht, der Verantwortung, der Güte und allen anderen menschlichen Werten. Jedoch darf der Mensch nicht auf seine Rati- onalität reduziert werden. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie schreibt, dass der Mensch Abschied nehmen muss von der Idee, er sei zerleg- und reparierbar (vgl. Hüther 2012, 87). Zu groß ist der Mensch, um sich mit dieser Reduktion des Mensch-Seins zufriedengeben zu müssen. Um das Leben zu einem Kunstwerk wer- den zu lassen, muss die Erkenntnis reifen, dass ein sinnerfülltes und glückliches Leben die Einheit von Rationalität und Emotionalität braucht. Dabei ist der Geist die gestaltende Kraft menschlichen Lebens. Seine Macht liegt darin, dass er die lebens- bejahenden Gefühlskräfte aktiviert. Hier liegt auch die heilsame Kraft der Verände- rung.

Der Titel der Masterthesis „Das verborgene Paradies“ bezieht sich auf die geistige Dimension (Viktor Frankl) des Menschen, erfahrbar durch Wertimaginationen nach Uwe Böschemeyer, die über die reine Vorstellungskraft von Bildern hinausgeht. Die vom unbewussten Geist ausgebildeten Bilder führen direkt ins Zentrum des

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0 I Einleitung

7 Mensch-Seins. Böschemeyer spricht von bewussten Wanderungen zum unbewuss- ten Geist, der Quelle der Wertgefühlskräfte, die primär die spezifisch humanen Werte als Ziel haben (vgl. Böschemeyer 2013a, 45).

Wertimaginationen sind im Rahmen der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung (WOP) oder der Wertimaginativen Logotherapie (WIM-T) nach Uwe Böschemeyer neben dem existenziellen Gespräch und dem wertorientiert interpretierten Enneagramm eine reale Möglichkeit, Glück und Zufriedenheit im Leben zu finden. Sie setzen dort an, wo der Mensch letztendlich unverletzbar ist.

Die Arbeit mit den Wertimaginationen ist dadurch charakterisiert, dass sich die humanspezifischen Werte in personifizierter Form, als Gestalt, zeigen. Dadurch findet eine unmittelbare Beziehung statt, die starke Gefühlskräfte in der imaginierenden Person auslösen können. Imaginand*innen sind Personen, die bei geschlossenen Augen in das geistig Unbewusste (innere Welt) in Begleitung und unter Anleitung von Mentor*innen für WOPoder WIM-Therapeut*innen wandern.

Die Autorin dieser Masterthesis ist als Mentorin für Wertorientierte Persönlichkeits- bildung - WOP tätig. Sie erkennt in den Wertimaginationen ein großes Potenzial hinsichtlich Ressourcenschöpfung und Steigerung der Widerstandfähigkeit. Leben ist Kunst, die verstanden werden muss, um widerstandfähig und glücklich zu sein.

Gerald Hüther spricht gegenwärtig von einer begeisterungslosen Gesellschaft. Die seelisch-geistigen Bilder können dazu beitragen, dass der Mensch seine Verant- wortung erkennt und seine Beziehung mit der zu ihm gehörenden, verborgenen Freiheit und Verantwortlichkeit aufnimmt. Dadurch wird er ins Zentrum seiner Le- bensbegeisterung geführt. Die gefühlte Erkenntnis der verborgenen, inneren Frei- heit ist die Voraussetzung für Sinnerfahrung. Die Arbeit mit den seelisch-geistigen Bildern ist eine kreative, schöpferische und emotionale Arbeit, die die Wurzeln der Bewusstheit, den unbewussten Geist, berührt und dadurch Sinnerfahrung ermög- licht. Wertimaginationen ermöglichen eine schrittweise Überwindung der Ambiva- lenz und erhöhen das Selbstwertgefühl durch Selbsterfahrung und Selbsterkennt- nis.

Die Masterarbeit soll zur Erkenntnis beitragen, dass der Mensch ein Wunder ist und dieses Wunder nicht durch äußere Annahmen geschmälert werden darf. Darüber

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0 I Einleitung

8 hinaus soll die Größe des Menschen mit all den verborgenen Möglichkeiten aufge- zeigt werden, denn die geistige menschliche Größe ist die Quelle gelingenden Le- bens.

Beginnt der Mensch erst einmal über den eigenen, inneren Reichtum und die darin verborgenen Möglichkeiten zu staunen, dann wird er dieses Staunen auch in die äußere Welt bringen und seine geistige Kraft spüren. Jeder kann Vorbild werden in der gegenwärtigen Welt, die einen massiven Mangel an Staunen und Begeisterung aufweist. Im Vordergrund der imaginativen, wertorientierten Arbeit steht die phäno- menologische Betrachtung des inneren Bildes oder Symbols. Die begriffliche Deu- tung eines Symbols kann ergänzend zum besseren Verständnis beitragen.

Das folgende Zitat veranschaulicht das Wesen der Wertimaginationen. „Sag es mir, und ich werde es vergessen. Zeig es mir, und ich werde mich daran erinnern. Be- teilige mich, und ich werde es verstehen“ (Lao Tse o. J., zit. n. Böschemeyer 2013a, 5).

Das erste Kapitel bezieht sich auf das Menschenbild aus existenzanalytischer Sicht.

Dabei werden wesentliche Aspekte des Menschseins aufgezeigt. Der Mensch ist ein auf Sinn ausgerichtetes Wesen. Daher ist die Erfahrung von Sinn im Leben eine Daseinsbedingung. Sinn erfahren bedeutet, den Geist erwachen zu lassen und den Glauben daran zu wahren, dass Vordergründiges nicht Realität werden und das Leben bestimmen muss. Wert- und Sinnerfahrung beziehen sich auf das verbor- gene Paradies, das in jedem Menschen verwurzelt ist und eine reale Möglichkeit im Leben werden kann. Hierbei spielt der unbewusste Geist eine wesentliche Rolle.

Der Typus oder Charakter wird nach dem Enneagramm und aus wertorientierter Sicht dargestellt, da er die Sinnfindung bei Unkenntnis erschweren kann oder sich als scheinbar unüberwindbare Barriere erweist. Wertorientiert interpretiert stellt der Typus daher einen wesentlichen Teil in der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung WOP® und Wertimaginativen Logotherapie WIM-T® nach Böschemeyer dar.

Das zweite Kapitel befasst sich mit der inneren Welt des Menschen, die durch Träume und Imaginationen zugänglich wird. Die inneren Bilder und Symbole sind die Grundlage aller Imaginationstechniken. Zugleich sind die Frage nach den Zu-

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0 I Einleitung

9 sammenhängen von Materie, Geist und Wissenschaft sowie die Wirkung des Geis- tes auf neurobiologischer und zellbiologischer Ebene von wesentlicher Bedeutung.

Dabei werden wissenschaftliche neue Erkenntnisse aufgezeigt. Denn die neuesten Entdeckungen sowohl der Physik als auch der Zellforschung zeigen eine Verbin- dung zwischen Geist und Wissenschaft (Lipton 2018, 243).

Das anschließende dritte Kapitel bezieht sich auf die Erfahrung des geistig Unbe- wussten durch die Methodik der Wertimagination, dargestellt nach Uwe Bö- schemeyer. Wertimaginationen sind das Zentrum der WOP und WIM-T. Gleich- zeitig werden die ersten Entwicklungen, die charakteristischen Eigenschaften sowie die Methodik der wertimaginativen Arbeit beleuchtet.

Im empirischen Teil, der mit dem vierten Kapitel eingeleitet wird, rückt die Beschrei- bung des qualitativen Forschungsdesigns in den Mittelpunkt. Konkret bezieht es sich auf die ausgewählte Forschungsmethode und beleuchtet darüber hinaus das Instrument der Erhebung und Fakten zum Interview.

Erst im fünften Kapitel werden die Forschungsergebnisse dieser Masterarbeit auf- gezeigt. Diese wurden auf Basis von 19 durchgeführten Interviews mit Expert*innen erhoben und kategorisiert. Dabei wird die Wirkung der Wertimaginationen im Men- schen genau beforscht. Die Exploration beinhaltet darüber hinaus den Mehrwert, die Nachhaltigkeit, Veränderungen, Erkenntnisse und Übersetzung ins konkrete Le- ben durch Wertimaginationen. Die Tiefe sowie die Möglichkeiten und die Autonomie werden vordergründig unter Beweis gestellt.

Das Ziel der Masterthesis ist, die Forschungsfrage „Wie wirken Wertimaginationen im Menschen?“ zu explorieren. Jede Wirkung im Menschen zeigt eine Auswirkung im Außen. Folgende These wird dabei erhoben: „Das verborgene Paradies, das durch Wertimaginationen erfahren werden kann, stellt in jedem Menschen eine wahrhaftige und heilsame Lebensmöglichkeit dar.“

Die Masterthesis soll auf Basis dieser Erkenntnisse dazu beitragen, dass bewusste Wanderungen in die innere Welt eine heilsame menschliche Ressource darstellen, da sie zur schrittweisen Überwindung der Ambivalenz beitragen und folglich eine

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0 I Einleitung

10 andere Sicht auf sich selbst und die Welt erlauben. Die Wirksamkeit zeigt sich so- wohl in der Prävention als auch im Kontext Beratung und Therapie.

Falls im Verlauf der Masterthesis aus Versehen nur eine Form des Geschlechts gewählt wurde, spricht es ohne Bewertung, alle Menschen gleichermaßen an.

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0 II Theoretischer Teil

11

II Theoretischer Teil

1 Wunder Mensch

„Wunder gibt es viele. Der Wunder größtes ist der Mensch“ (Aristoteles o. J., zit. n.

Heyse/Erpenbeck/Ortmann 2010, 13).

Ziel dieses Kapitels ist es, das Menschenbild aus existenzanalytischer Sicht darzu- stellen. Diese Sichtweise legt die Größe des Menschen sowie den unheimlich großen Reichtum dar, den er in sich birgt.

In der Liebe zeigt sich das Wunder Mensch am eindrücklichsten. Es ist ein mensch- liches Phänomen, das sich nicht auf ein subhumanes Ereignis reduzieren lässt. Liebe ist die Beziehung von Mensch zu Mensch. Der liebende Mensch erkennt den anderen in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Liebe ist daher ein geistiger Akt. (vgl. Frankl 2007, 182 f.)

Den Menschen zu beschreiben würde im Grunde nichts anderes bedeuten, als das Meer ganz übersehen zu wollen. Steht der Mensch vor der gewaltigen Größe des Meeres, dann sieht er nur einen kleinen Ausschnitt. Selbst der menschliche Körper ist noch nicht ganz erforscht, geschweige denn die Seele und der Geist. (vgl. Bö- schemeyer 2014, 55)

Der Mensch besteht aus etwa 50 Billionen Zellen, die eine kooperative Gemeinschaft bilden. Der Zellbiologe Bruce H. Lipton erkennt in seinen Forschungen, dass der Mensch nicht das Opfer seiner Gene ist, sondern Meister seines Lebens. Demnach bestimmen der Glaube und die Anschauungen das Denken, Fühlen und Handeln. In der „Neuen Biologie“ geht es nicht mehr um Vererbung, Kondition, angeboren oder erworben, sondern vielmehr um den Geist, der alles übersteigt. (vgl. Lipton 2018, 22 ff.)

Salcher spricht an, dass Technik und Wissenschaft die Welt verändern. Wie dieser Fortschritt sich gestaltet, hängt jedoch maßgeblich mit der inneren Welt des Men- schen zusammen. (vgl. Salcher 2013, 15)

Khalil Gibran beschreibt das Wesen des Menschen im folgenden Text sehr ein- drucksvoll. Der Mensch ist ein Wunder und ein tiefes Geheimnis.

„Der Schatz in eurem tiefsten Inneren möchte eurem Auge sichtbar werden. Doch wieget nicht euren unbekannten Schatz auf einer Waage; und erforschet nicht die Tiefe eures Wissens (...).

Denn das Ich ist ein Meer ohne Maß und Grenzen. Saget nicht: Ich habe die Wahrheit gefunden.

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1 Wunder Mensch

12

Saget lieber: Ich habe eine Wahrheit gefunden. Saget nicht: Ich habe den Pfad der Seele ent- deckt, saget lieber: Ich habe die Seele getroffen, auf meinem Pfade wandelnd. (...) Die Seele entfaltet sich gleich einer Lotusblume, aus Blütenblättern ohne Zahl.“ (Khalil Gibran 1983, zit. n.

Böschemeyer 2014, 56)

Grundlage der Masterthesis ist das Menschenbild der Logotherapie und Existenz- analyse nach Viktor E. Frankl, da es die Grundlage der Methodik der Wertimagination ist und sich daraus entwickelt hat.

1.1 Menschenbild aus existenzanalytischer Sicht

Frankl versteht den Menschen dreidimensional. Das Sein wird auf körperlicher, see- lischer oder psychischer und geistiger Ebene gelebt. Dies bedeutet, dass der Mensch eine Einheit von Körper, Seele und Geist ist. Dabei wird diese Theorie von Frankl analog zur Dreidimensionalität des Raumes dargestellt. Die drei Dimensionen des Menschen durchdringen einander so, wie es die drei Dimensionen Länge, Breite und Höhe im Raum tun. Dabei erhebt sich die noetische (= geistige) Dimension über das Psychophysikum. Deshalb versteht sich die Logotherapie als „geistige Therapie“.

Die somatische Ebene beschreibt die körperlichen Erscheinungen. Dazu gehören alle biologisch-physiologischen, physikalischen und chemischen Prozesse im Orga- nismus. Die psychische oder seelische Ebene hingegen ist, vereinfacht gesagt, die Ebene der Empfindungen, der Triebhaftigkeit und Prägungen. Die Psyche lässt den Menschen empfinden, fühlen und erleben. Erst in der noetischen Ebene rückt der Geist, die sogenannte geistige oder dritte Dimension des Menschen, in den Mittel- punkt. Ist dem Menschen dieses großartige menschliche Phänomen bewusst, dann bekommt er Klarheit darüber, dass er die Freiheit hat, sich gegenüber seiner Körper- lichkeit und Befindlichkeit einzustellen. In der geistigen Dimension wird er der Gestal- ter seines Lebens. (vgl. Lukas 2006, 20 f.)

In den frühen Schriften von Frankl findet man zur geistigen Dimension folgende Aus- sage: „(...), daß es in einem verantwortungsbewußten Leben nicht immer nur auf ein schöpferisches Verwirklichen von Werten ankommt oder auf ein Sicherfüllen im Erle- ben (Kunst-, Naturgenuß), sondern daß es noch eine letzte Kategorie von Wertmög- lichkeiten gibt, die wir ganz allgemein Einstellungswerte nennen wollen“ (Frankl 2005, 15).

Es gibt neben der ontologischen Mannigfaltigkeit des Seins, somatisch, psychisch und noetisch, die anthropologische Ganzheit und Einheit des Menschen. Übersteigt

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1 Wunder Mensch

13 der Mensch in der noetischen Dimension sich selbst, dann erhebt er sich über sein Psychophysikum und betritt den eigentlich menschlichen Raum. (vgl. Biller/De Lour- des Stiegeler 2008, 212)

Dementsprechend weist Böschemeyer darauf hin, dass Körper, Seele und Geist eine Einheit bilden, jedoch in ihrem Ausdruck unterschiedlich sind. Trotzdem bringt jede Dimension für sich das Menschliche zum Ausdruck. Körper und Seele sind im Grunde die lebendige Basis im Menschen, obwohl der Mensch durch sie Begrenztheit erfährt, die den Geist zur Antwort herausfordert. Böschemeyer bezeichnet den menschlichen Trieb als Gegenpol des Geistes und betont sogleich, dass beide einander bedürfen.

Doch ist die Lenkung des Triebes durch den Geist wichtig, um die Schubkraft des Triebes sinnvoll zu nützen. Erst die geistige Einsicht ist Voraussetzung für Sinnerfah- rung. Der menschliche Geist lässt sich nicht begründen. Er bedarf einer Erfahrung.

Die tiefste Sinnerfahrung ist nur jenen Menschen möglich, die dem Grund der Seele, dem unbewussten Geist, begegnen. Dies zeigt sich in erstaunlicher Weise nicht nur in Wertimaginationen, sondern auch in Träumen. Böschemeyer sieht das Leben als großes Netzwerk. Die darin verstrickten Elemente beeinflussen sich gegenseitig. Aus diesem Grund ist es wichtig, über den individuellen Horizont hinauszublicken. Denn nur dann ist es dem Menschen möglich, sein individuelles Sein zu begreifen und die- ses auch zu verantworten. Demnach ist Herzensbildung und nicht die Ausbildung des Verstandes Grundlage sinnorientierten Lebens. (vgl. Böschemeyer 2014a, 63 ff.) Ausführungen und Ansichten, die den Menschen begründen wollen, beschreiben ihn nicht annähernd, da die lebendige Person vielschichtiger ist. Diese Modelle würden sich nämlich nur auf psychologische und körperliche Abläufe im Menschen beziehen.

Daher beschreiben sie nur „etwas“, das den Menschen betrifft und reduzieren ihn auf dieses Etwas. Folglich wird das „Jemand“ in der Person unterschätzt und das Sub- personale tritt in den Vordergrund. Um dem an sich freien und verantwortlichen Men- schen gerecht zu werden, braucht es eine Theorie, die keine Sammlung von „nur“

psychologischen Aspekten ist. Demnach kann ein Menschenbild, das den Menschen in seiner Großartigkeit und Individualität aufzeigen möchte, nicht dort enden, wo das Subpersonale in den Mittelpunkt rückt, nicht aber der Mensch als geistiges Wesen.

(vgl. Batthyány 2017, 143)

Frankl weist darauf hin, dass der Unterschied zur Psychoanalyse darin liegt, dass

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1 Wunder Mensch

14 Psychoanalytiker Triebhaftes vordergründig betrachten. In der Existenzanalyse hin- gegen soll etwas Wichtiges andere Bewusstheit erlangen, nämlich das Geistige im Menschen. Geist erfährt der Mensch dann, wenn er sich seines Verantwortlichseins bewusst wird. Dadurch wird er sich selbst bewusst und kommt zu sich. (vgl. Frankl 2010, 13)

Nach Frankls erster These ist die Person ein Individuum und unteilbar trotz seiner drei Dimensionen. Freud verwendete den Begriff Seele für die Entdeckung der Psy- che, wobei er dem unsterblichen Anteil im Menschen nach damaligem theologischem Verständnis keine Bedeutung beimaß. Erst Frankl verlieh dem abhanden gekomme- nen Aspekt im Menschen Ausdruck und bezeichnete ihn als geistige Dimension. (vgl.

Schechner/Zürner 2011, 33)

Dieses Menschenbild hat in der Logotherapie und Existenzanalyse nach wie vor Be- deutung.

Die körperliche Dimension hat der Mensch mit allen anderen Lebewesen gemein. Bis zu einem gewissen Grad teilt der Mensch die psychische zweite Dimension mit dem Tier. Obwohl der Intellekt in der herkömmlichen Sprache mit Geist bezeichnet wird, ist er wie die Emotionen der zweiten Dimension zugeordnet, da sich die Kognition auf das Gehirn und seine biologischen Funktionen bezieht. Die dritte und geistige Dimen- sion ist nur dem Menschen spezifisch. Sie ist weder messbar noch sichtbar, noch ist sie lokalisier- und greifbar. Daher ist die noetische Dimension ein menschliches Phä- nomen, das nur den Menschen auszeichnet. (vgl. Schechner/Zürner 2011, 35) Neben der ersten These über die Person benannte Frankl noch neun weitere Thesen.

Die Person ist in-summabile. Daher ist sie nicht verschmelzbar und aus diesem Grund auch Ganzheit. Frankls dritte These lautet, dass der Mensch ein absolutes Novum ist, welches durch das menschliche Sein zur Wirklichkeit gebracht wird. Die vierten und fünften Thesen besagen, dass die Person geistig und existenziell ist. Der Mensch ist existenziell bedeutet, dass er nicht nur ein faktisches, sondern auch ein fakultatives Wesen ist. Er kann sich für oder gegen seine Möglichkeiten entscheiden.

Die Person ist außerdem ich-haft und nicht es-haft und steht nicht unter der Weisung des Es. Die siebente These bezieht sich auf die leiblich-seelische-geistige Einheit und auch Ganzheit, jedoch im Kontext, dass die Person diese ebenso stiftet. Somit wird der Aufgabencharakter des Menschen vordergründig. Die Person ist dynamisch.

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1 Wunder Mensch

15 Indem sie sich vom Psychophysikum distanziert, tritt das Geistige erst in Erschei- nung. In der neunten These nach Frankl ist das Tier keine Person, da es nicht im- stande ist, sich über sich selbst zu stellen. Es hat somit keine Welt, sondern lediglich Umwelt. In der zehnten und letzten These begreift sich die Person nicht anders als von der Transzendenz her, die sie durchdringt und –tönt. (vgl. Biller/De Lourdes Stie- geler 2008, 546)

1.2 Aspekte des Menschen

Freud stellte die beiden menschlichen Aspekte „Bewusstes und Unbewusstes“ und ihre Relation zueinander anhand des Eisbergmodells dar. Die Spitze des Eisbergs verdeutlicht die Bewusstheit. Das Unbewusste wird mit jenem Teil des Eisbergs ver- glichen, der in die Tiefe des Meeres ragt und nur eingeschränkt zugänglich ist.

Hingegen bezieht sich Böschemeyer auf vier Gegebenheiten im Menschen. Dazu gehören das persönliche und kollektive Bewusstsein sowie das persönliche und kol- lektive Unbewusste. Zum persönlichen Bewussten gehören das logische Denken, die Wahrnehmung, Handlungsentscheidungen sowie bewusst Erlebtes. Es bezieht sich auf all jenes, ob vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, was dem Menschen bewusst zugänglich ist. Dem gegenüber steht das kollektive Bewusstsein, das vor allem allgemeines Gedankengut, Anschauungen und gesellschaftliche Werte meint.

Es ist abhängig vom Werdegang des Menschen, von seinen Vorbildern, aber auch vom persönlichen Umgang mit dem Unbewussten. Das persönliche Unbewusste, eine Wortschöpfung C. G. Jungs, ist ein Sammelsurium von realen Erinnerungen, positiven und negativen, die der Bewusstheit entglitten sind. Das allgemein- menschlich oder kollektive Unbewusste wird von allgemeinen Erinnerungen der Menschheit gespeist. C. G. Jung sagt, dass diese Erinnerungen durch die Urbilder Ausdruck bekommen. Diese Urbilder der Seele sind zum Beispiel der Wind, das Meer, der Berg, das Feuer, das Licht. Sie sind tief im Innersten der menschlichen Seele geborgen und ein reicher Fundus der Menschheitsgeschichte. Hier sind auch alle möglichen Lösungen des Menschseins geborgen. Die Seele übersetzt das, was sie erlebt und fühlt, in Bilder, die jedem Menschen zu eigen sind. (vgl. Böschemeyer 2014a, 61 f.)

C. G. Jung sieht die Persönlichkeit zu Beginn jedes Lebens als ein undifferenziertes und einfaches Ganzes. Erst im Verlauf der Entwicklung zerfällt diese Einheit in Teile.

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1 Wunder Mensch

16 Aus dem einstmals vollkommenen Selbst entwickelt sich jener Bereich, der das Un- bewusste repräsentiert. (vgl. Stein 2013, 128 f.)

Stein verdeutlicht: „Das Unbewusste ist in Gestalt von Materialablagerungen um Imagos, Internalisierungen und traumatische Erfahrungen angesiedelt (...)“ (Stein 2013, 129).

Scheler sagt über die Person, dass sie einerseits Träger, andererseits Zentrum geistiger Akte ist. Von ihr gehen einerseits geistige Akte aus, andererseits gruppiert sich um das geistige Zentrum auch das Psychophysikum. Demnach entspricht die geistige menschliche Existenz im Sinne der freien Verantwortlichkeit mit seiner psychophysischen Faktizität der geistigen Person, die ein Psychophysikum hat, welches eine scheinbar schicksalhafte Bedingtheit aufweist. (vgl. Frankl 2010, 18) Ein wesentlicher Aspekt des Menschen ist somit die unbewusste Geistigkeit. Frankl spricht vom Ich als Geistiges, hinter dem das Es sichtbar ist. Das geistige Unbe- wusste ist auch transzendent. (vgl. Frankl 2010, 47)

1.2.1 Werte als Quelle

Für Anselm Grün steht es außer Frage, dass jede Person mit der Geburt schon Quellen mitbekommen hat, aus denen es zu schöpfen wert ist. Im Weiteren weist er darauf hin, dass es verschiedene Wege gibt, um zu diesen Quellen vorzudringen.

Der Mensch müsste nur tief genug in sich eindringen, um sie zu entdecken. Diese Quelle kann auch nicht so leicht vertrocknen, da sie in jedem menschlichen Wesen eingegraben ist. (vgl. Grün 2015, 46 f.)

Im Kontext Werte bezieht sich Frankl auf drei Wertekategorien. Er nennt sie Erleb- niswerte, schöpferische Werte und Einstellungswerte. Die Erlebniswerte verwirklicht der Mensch, indem er aufmerksam der Welt begegnet. Dabei kann er sich zum Bei- spiel der Schönheit der Natur oder der Kunst hingeben und diese einzigartigen Mo- mente realisieren. Außerdem hat der Mensch die Fähigkeit, die Größe des Augen- blicks zu erkennen und sich diesem ganz zuzuwenden. Als Beispiel sei der begeis- ternde Moment, den ein Mensch beim Zuhören seiner Lieblingsmusik in einem Kon- zertsaal erleben kann, erwähnt. Die schöpferischen Werte hingegen verwirklicht der Mensch im Tun. Indem sich die Person einer Aufgabe zuwendet und diese durch ihr Schaffen verwirklicht, verleiht sie den schöpferischen Werten Ausdruck. Die dritte Wertekategorie nennt Frankl Einstellungswerte. Sie sind auch dann noch eine

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1 Wunder Mensch

17 wahrhaftige Möglichkeit, wenn der Mensch durch ein Schicksal weder schöpferisch tätig sein noch aus dem Reichtum des Erlebens schöpfen kann. Hier ist es ihm möglich, sich zu den schicksalhaften Bedingungen anders einzustellen, nämlich sich neue Möglichkeiten zu schaffen, die die beiden anderen Wertekategorien über- steigen. Die Einstellungswerte gehören der Lebenskunst an. Daraus ergibt sich, dass die Existenz des Menschen faktisch nie in den Bereich der Sinnlosigkeit ab- rutschen kann. (vgl. Frankl 2007, 91 ff.) „(...) das Leben des Menschen behält seinen Sinn, (...) solange er atmet; solange er bei Bewußtsein ist, trägt er Verantwortung gegenüber Werten und seien es auch nur Einstellungswerte“ (Frankl 2007, 93).

In Momenten des Gefühls der Sinnlosigkeit kann der Mensch immer noch den Wert der Hoffnung erleben. Es ist vordergründig nicht die Hoffnung auf etwas Bestimm- tes, sondern auf Unbestimmtes. Jene Form der Hoffnung, die etwas Konkretes meint, spielt sich in der Welt der Wünsche oder Ziele ab. Erst die Hoffnung auf etwas Unbestimmtes überschreitet die engen Grenzen menschlichen Lebens. Nach Bö- schemeyer ist die Hoffnung ein sehr starker Beweggrund für Leben, die im Inneren des Menschen beheimatet ist. Gefühlte Hoffnung löst Gefühlskräfte aus. Hoffende Menschen erwarten Neues. Dadurch wird der Sinn des Lebens vordergründig er- lebbar und die Suche nach neuen Erfahrungen bewusst gelebt. Hoffende Menschen werden nicht durch alte, niederziehende Erlebnisse oder Erfahrungen begrenzt. Sie entwickeln einen neuen, geistigen Blick auf das Leben. Wer hofft, tritt aus der drü- ckenden Kraft der Ichbezogenheit heraus. (vgl. Böschemeyer 2010a, 34 f.) Bö- schemeyer bezeichnet die Hoffnung als geistigen Wert. Daher betrifft die Ausrich- tung auf diesen Wert die geistige Dimension.

Nach Elisabeth Lukas ist die Auseinandersetzung mit den Werten, wie zum Beispiel Hoffnung, Freiheit, Liebe, ein geistiger Akt. Der Mensch kann Stellung nehmen zu den Bedingtheiten menschlichen Lebens. Die Verwirklichung der Werte führt in die Dimension der Freiheit. (vgl. Lukas 2004, 84) Dabei übersteigt der Wert der inneren Freiheit die Dimension der Bedingtheit.

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1 Wunder Mensch

18

Abbildung 1: Dimensionalität menschlichen Lebens

Quelle: Lukas (2013b): Sehnsucht nach Sinn. Logotherapeutische Antworten auf existentielle Fra- gen, 3. Aufl., München, S. 85

Böschemeyer erkennt in den Werten Gründe für Sinnerkenntnis und Sinnerfahrung.

Werte unterstützen den Menschen und geben ihm Orientierung bei der Sinnsuche.

Er unterscheidet zwischen den primären und sekundären Werten. Sekundärwerte sind Erfahrungswerte, die sich aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben erge- ben. Sie unterwerfen sich dem gegenwärtigen Zeitgeschehen und können sich da- her auch ändern. Beispiele für Sekundärwerte sind Leistung, Fleiß, Erfolg, Ordent- lichkeit, Höflichkeit und Toleranz. In den verschiedenen Kulturen wird diesen Wer- ten eine unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben. Die primären Werte hingegen beziehen sich auf die Größe des Menschen, da sie die geistige Dimension betreffen.

Sie sind in jedem Menschen angelegt und bleiben lebenslang erhalten, auch wenn sie nicht ausgelebt werden. Somit sind die humanspezifischen und primären Werte, wie die Liebe, die Hoffnung, die Zuversicht, die Güte, die Freiheit, der Mut, die Ver- antwortung, die Wahrhaftigkeit, die Klarheit, die Geduld, die Weisheit, der Glaube, die Begeisterung, die Achtsamkeit, die Aufmerksamkeit, die Heiterkeit, die Kreativi- tät und viele mehr, die eigentliche und sehr wertvolle menschliche Quelle. Der Mensch kann diese Quelle nicht erfahren, wenn er sich nicht danach ausrichtet. Die Erkenntnis über diesen tiefen, geistigen Werte-Grund kann dazu beitragen, dass vollkommenes Leben nicht gänzlich, aber punktuell erfahren werden kann und

Auseinandersetzung des Menschen mit der

Realität

Wirklichkeit, der der

Mensch angehört Ebene der Abhängigkeit

Dimension der Freiheit Geistige Dimension

Wert e

Familiäre, politische, ökologische, soziale, psychische, somatische Dimensionen

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1 Wunder Mensch

19 dadurch ein gelingendes und zufriedenes Leben möglich wird. Motivation zum Le- ben entsteht dann, wenn diese Werte für den Menschen attraktiv werden. (vgl. Bö- schemeyer 2018, 76 ff)

In einem seiner Bücher zitiert Böschemeyer Längle in Bezug auf Werte: Werte sind

„dynamische Größen, Brenngläsern gleich, die die Lebenskraft der Person bündeln.

Sie sind der Nährstoff der Person, das Bewegende im Leben, das, was das Herz zu erwärmen vermag.“ (Längle 1991, zit. n. Böschemeyer 2014a, 22)

Erkenne dich selbst ist eine Lebensweisheit, die schon Tausende Jahre alt ist und am Eingang des Tempels von Delphi steht. Dabei ist der Mensch aufgefordert, sich seiner selbst bewusst zu werden. Die Probleme sind nur begrenzt durch die Ausei- nandersetzung mit der äußeren Welt zu lösen. Erst durch die Auseinandersetzung mit der inneren Welt können bessere Antworten gefunden werden. (vgl. Salcher 2013, 143). Diese Tatsache untermauerte C. G. Jung mit dem weisen Gedanken:

„Deine Vision wird nur dann klarer werden, wenn Du in Dein eigenes Herz schaust.

Wer nach außen schaut, träumt; wer nach innen schaut erwacht.“ (Jung o. J., zit. n.

Salcher 2013, 143)

1.2.2 Sinnfrage und Sinnsuche

„Wenn ich in wenigen Worten das Wesentliche zusammenfassen sollte, (…) wäre es vielleicht ungefähr Folgendes: Höre auf Dein Leben. Erkenne es als das uner- gründliche Geheimnis, das es ist. (…), denn letztlich sind alle Momente Schlüssel- momente und das Leben selbst ist Gnade.“ (Frederick Buechner o. J., zit. n. Arianna Huffington 2016, 38)

Die Sinnfrage ist die menschlichste überhaupt und daher ein menschlicher Aspekt.

Böschemeyer versichert, dass in jedem Menschen eine tiefe Ahnung seiner Ur- sprünglichkeit und Einzigartigkeit vorhanden ist. Es ist wie ein inneres Bild, das die Person auf dem Weg durchs Leben mit sich trägt. Es wartet darauf, entfaltet zu werden. Erst durch die Entfaltung dieses ursprünglichen Wesens ist Lebens- und Sinnerfüllung möglich. Daher betrifft der Sinn immer den Menschen in seiner Ganz- heit, physisch, psychisch und geistig. Sinn kann nur da gefunden werden, wo das schwierige Leben, das zu bewältigen die Aufgabe und Seins-Bestimmung ist, nicht ausgeklammert wird. Böschemeyer weist darauf hin, dass das Wesen entdeckt wer- den möchte. Es verlangt nach Treue, Liebe und Anerkennung. Das Wesen jedes

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1 Wunder Mensch

20 Menschen mag gefesselt oder verdeckt sein, doch wartet es, in die Welt hineinge- lebt zu werden, um Ausdruck zu finden. Die Grundlage für ein reifes, sinnvolles Le- ben ist die Entfaltung des Wesens. (vgl. Böschemeyer 2014a, 116 ff.)

Oder wie Jaspers es zum Ausdruck bringt: „Wir werden uns geschenkt, aber es liegt an uns, ob wir uns geschenkt werden“ (Jaspers o. J., zit. nach Böschemeyer 2014a, 117 f.).

Die Frage nach dem Sinn ist weder an das Alter noch an das Geschlecht, weder an Kulturen noch an Bildung gebunden. Jeder Mensch fragt, ob bewusst oder unbe- wusst, nach Sinn. Die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Menschen weist darauf hin, dass Sinnfindung von niemandem anderen als von der Person selbst gefunden werden kann. Die Erfahrung von Sinn geht in der Tat der Erfahrung der Sinnlosigkeit voraus. Denn nur wer über den Sinnmangel klagen kann, hat die Er- fahrung von Sinn bereits gemacht. (vgl. Böschemeyer 2014a, 113 ff.)

Die Sinnfrage zeigt sich oft sehr radikal und kann den Menschen überwältigen. In der Phase der Pubertät kann der junge Mensch nach dem Sinn seines Daseins ringen. (vgl. Frankl 2007, 67)

Dazu Frankl:

„Als einmal ein Naturgeschichtslehrer vor einer Klasse (…) auseinandersetzte, daß das Le- ben des Organismus und so auch des Menschen letzten Endes nichts anderes als ein Oxy- dationsvorgang, ein Verbrennungsprozess sei, sprang plötzlich einer seiner Schüler auf und warf ihm die leidenschaftliche Frage entgegen: Ja, was hat denn das ganze Leben dann für einen Sinn?“ (Frankl 2007, 67 f.)

Demnach hatte der Schüler erfasst, dass sich die menschliche Seins-Form von je- ner einer Kerze unterschied. Die Kerze brennt bis zum Ende, wenn sie entzündet wird. Menschliches Sein hingegen entspricht einem geschichtlichen Sein, in einem historischen Raum eingefügt und von einem nicht benennbaren Sinn bestimmt. (vgl.

Frankl 2007, 68)

Einstand fand dazu folgende Worte: „Falls Gott die Welt geschaffen hat, war seine Hauptsorge sicherlich nicht, sie so zu machen, dass wir sie verstehen können“ (Ein- stein o. J., zit. n. Böschemeyer 2013b, 64).

Böschemeyer beschreibt die Ausrichtung nach Sinn sehr anschaulich. Der Sinn kann nur dann erfahren werden, wenn der Dom des Lebens aufgesucht wird. Das heißt, ihn nicht nur aus einer Entfernung anzusehen, sondern hineinzugehen und

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1 Wunder Mensch

21 die leuchtenden Farben im Inneren wahrzunehmen. Dies erst führt zur Sinnerfah- rung. Danach beginnt sich eine Geschichte zu entwickeln. Von außen sind die Schönheit und Motive der Fenster nicht erkennbar. (vgl. Böschemeyer 2013b, 64) Daher hängt die Sinnerfahrung maßgeblich davon ab, ob ich der eigenen inneren Welt begegnen möchte. Begegnung heißt, sich von der inneren Welt berühren zu lassen. Wer sich nicht berühren lässt, kann dies vergleichen mit lieben zu wollen, ohne das Herz zu beteiligen. (vgl. Böschemeyer 2013b, 75 f.)

Frankl sah in der existenziellen Frustration ein Kernthema, dass er folgendermaßen darlegte (vgl. Böschemeyer 2018, 47): „Menschen haben genug, wovon sie leben, aber nicht genug, wofür sie leben können“ (Frankl o. J., zit. n. Böschemeyer 2018, 47).

Wie der Mensch sich durch seine Einzigartigkeit und Einmaligkeit auszeichnet, so ist jede Lebenssituation einzigartig und einmalig. Das Verständnis für Sinn ergibt sich aus der Kette von einzigartigen und einmaligen sinnvollen Möglichkeiten, denn Sinn ist letztlich in jeder Situation verborgen. Der Mensch hat die Aufgabe, ihn zu entdecken und zu verwirklichen. (vgl. Böschemeyer 2018, 45 f.)

Batthyány schreibt Folgendes zum Thema Sinn. Der Beginn jedes menschlichen Lebens ist durch die Zustimmung gekennzeichnet. Es ist von Wohlwollen und Liebe abhängig. Dies zeigt in anschaulicher Weise, dass Sinn und Werte, wie zum Bei- spiel Liebe, Güte, Hoffnung, in das Leben von Beginn an eingewoben sind und die Grundsubstanz menschlichen Daseins bilden. Darüber hinaus zeigt diese Tatsache auf, dass es sich lohnt nach der Hoffnung zu suchen, der Grundlage sinnvollen Le- bens. (vgl. Batthyány 2017, 28)

Daher zeigt sich Sinnerfahrung oder Sinnverlust erstens durch die Sicht auf uns selbst (Selbstbild), was wir über uns denken, fühlen und erwarten. Zweitens wird Sinn oder Sinnverlust in der Begegnung mit anderen Menschen erfahren. Dies be- trifft persönliche Glaubenssätze und Überzeugungen, die auf den anderen gerichtet sind. Drittens ist es die Sicht auf die Welt. Was erwarten wir von der Welt, ohne zu bedenken, dass der persönliche Einsatz einen wesentlichen Anteil in Bezug auf Sinnerfüllung oder Sinnverlust ausmacht. (vgl. Batthyány 2017, 32)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Sinn in den humanspezifischen Werten verborgen ist und nur durch die Hinwendung zu diesen erfahren werden kann. Durch die Ausrichtung auf die geistigen Werte kann die äußere Welt noch

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1 Wunder Mensch

22 immer anders erfahren werden, als sie sich zeigt. Sinn ist daher grundsätzlich in jeder Lebenssituation vorhanden. Deshalb steht Sinnerfahrung im engen Zusam- menhang mit Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis.

1.2.3 Verborgene Spiritualität

Die Frage „Wer bin ich?“ ist nicht nur eine sehr häufig gestellte Frage, sondern die existenziellste überhaupt (vgl. Salcher 2010, 216). Diese Frage kann bis in die ver- borgene Spiritualität des Menschen vordringen.

Eine wesentliche Entwicklung der Logotherapie und Existenzanalyse war der Vor- stoß zum geistig Unbewussten. Somit trat zum triebhaft Unbewussten eine gestal- tende Kraft, nämlich der Geist oder das unbewusste Logos. Dadurch erschloss sich eine unbewusste Tiefe des Menschen, die gleichzeitig der Grund für große existen- zielle Entscheidungen ist. Somit existiert neben der bewussten auch die unbe- wusste Verantwortlichkeit im Menschen. Daraus ergibt sich, dass das menschliche Wesen nicht ausschließlich durch die Einseitigkeit der Vernunft und des Verstandes geleitet wird. Durch die unbewusste Geistigkeit ist auch die unbewusste Gottbezo- genheit in jedem Menschen vorhanden. Diese Geistigkeit ist auch Grund für die in jeder Person vorhandene Beziehung mit der Transzendenz. Dies würde somit auch bedeuten, dass Gott von jedem Menschen unbewusst intendiert ist. Unbewusste Gottbezogenheit meint im Allgemeinen nicht, dass Gott an sich unbewusst ist, son- dern dass die Beziehung oftmals im Verborgenen liegt und dass diese unter Um- ständen verdrängt ist. (vgl. Frankl 2010, 46 f.)

Die Wahrhaftigkeit im Glauben und im Suchen war für Frankl die einzig große Wahr- heit. Sie beruht nicht auf Spekulationen oder auf dem Anspruch der persönlichen, moralisierenden Wahrheit. Vielmehr zielt sie auf den Gedanken ab, wie es auch einige Metaphysiker zu vermitteln versuchen, dass Gott uns längst gefunden habe.

Daher hat Frankl dies mit einem Vergleich des Meeresbildes beschrieben. Will man die Tiefe des Meeres bestimmen, können Schallwellen ausgesendet und die Rück- kehr des Echos kann durch Zeitmessung nach dem Radarprinzip erfasst werden.

Bodenlos ist jedoch das menschliche Sein. Die Signale würden in der Unendlichkeit verhallen. (vgl. Lukas 2019, 155 f.)

„… vom unendlich fernen … Grund des Seins her wird uns nur dann keine Antwort zuteil, wenn wir unsere Fragen – richtig adressiert haben. Denn dann bleiben wir

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1 Wunder Mensch

23 gerade deshalb ohne Antwort, weil unsere Fragen – das Unendliche erreicht ha- ben.“ (Frankl o. J., zit. nach Lukas 2019, 156)

Huffington schreibt, dass der gegenwärtigen säkularen Zeit ein schwerwiegender Fehler unterlaufen ist. Dies hat dazu geführt, dass die Menschen glauben, dass Religion und Spiritualität das Gleiche ist. Weil die Menschen die Organisation „Re- ligion und Kirche“ ablehnen, verleugnen sie automatisch auch die Realität der Spi- ritualität und bezeichnen sich daher als Atheisten. (vgl. Huffington 2016, 179) Der Schriftsteller Julian Barnes, bekennender Atheist, sagt, dass er zwar nicht an Gott glaube, aber ihn vermisse. Böschemeyer bekommt in seiner wertimaginativen Arbeit Zugang zur Spiritualität des Menschen. Häufig zeigen sich in Wertimaginati- onen Bilder mit religiöser Symbolik, obwohl sie nicht gesucht werden. Dies betrifft auch jene Klient*innen, die mit Kirche oder Religion wenig zu tun haben. Die spiri- tuellen Bilder lösen überwältigende Gefühlskräfte aus. Diese Erfahrungen sind na- türlich noch kein Beweis für Gott, jedoch lassen sie die Vermutung zu, dass das Unbewusste grenzenlos ist und Leben weiter und tiefer ist, als unser Verstand denkt. Außerdem zeigen diese inneren Bilder, dass der Geist über die Person selbst hinausweist und daher die Gottesfrage eine Lebensfrage ist. (Böschemeyer 2018, 103)

Dazu ein kurzer Ausschnitt einer Wertimagination:

„(...) Die Wahrheitsfinderin nimmt mich an der Hand. Wir gehen der Flamme entgegen. Als ich davorstehe, geschieht etwas Außergewöhnliches. Etwas, das ich zuvor noch nie erlebt habe. Mein ganzer Körper beginnt zu zittern. Es stellt sich ein Gefühl unendlicher, bedin- gungsloser Liebe und Angekommenseins ein. (...) Tränen der Freude füllen meine Augen.

(...) Es ist ein Ort, fern von jeder Ambivalenz, fern von Gut und Böse, von dem meine Seele kommt und zu dem sie auch wieder gehen wird. (...) Es ist für mich ein zutiefst spiritueller und heilender Ort, den mir meine Wahrheitsfinderin zeigt. Voller Dankbarkeit, Demut, Liebe, Hoffnung und enormer Zufriedenheit öffnete ich meine Augen wieder.“ (Böschemeyer 2018, 106 f.)

„Um das innere Berührtsein ging es auch C. G. Jung, als er sagte, das Christentum sei keineswegs am Ende, weil das christliche Symbol etwas Lebendiges sei, das in sich die Samen der Weiterentwicklung trage“ (Böschemeyer 2009, 22).

Im Zusammenhang mit biblischen Wertimaginationen berichtet Böschemeyer, dass sie für ihn einen heiligen, verborgenen Raum geöffnet haben. In diesen tiefen inne- ren Wanderungen habe er angenommen und geliebt Sein erfahren, von dem, der

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1 Wunder Mensch

24 ihn gerufen hat. Eine tiefe Berührung erfuhr er in der Begegnung mit der Christus- gestalt. Diese tiefen Erfahrungen sind von spiritueller Natur und reichen über den Verstandeshorizont hinaus. (vgl. Böschemeyer 2009, 28 f.)

1.2.4 Faktor Resilienz

Levine und Kline sind der Meinung, dass jeder Mensch von Geburt an Ressourcen besitzt, die maßgeblich zum Wohlbefinden des Menschen beitragen (vgl. Redde- mann/Stasing 2013, 23). Demnach ist es möglich, Resilienz im Leben zu entwickeln.

„Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen, sie zu reiten“ (Kabat- Zinn o. J., zit. n. Draht 2014, 159).

„Resilio“ kommt aus der lateinischen Sprache und heißt übersetzt „zurückspringen“

oder „abprallen“ (vgl. Reddemann & Stasnig 2013, 25).

Für Böschemeyer ist die Entwicklung der Resilienz gleichbedeutend mit der Ent- wicklung gelingenden Lebens (vgl. Böschemeyer 2019, 1).

Die Annahme, dass die Seele nach der Erfahrung von Stress wie ein Schaumstoff- ball in ihre ursprüngliche Form zurückspringt, wurde bereits in der Zeit um das Jahr 1950 beschrieben. Vor etwa 60 Jahren trat der Begriff der Resilienz im psychologi- schen Kontext auf. Emmy Werner brachte auf der Insel Kauai eine Publikation einer Studie heraus, die wegweisend war: „The children of Kauai: resiliency and recovery in adolescence and adulthood“. Dabei kristallisierte sich heraus, dass etwa ein Drit- tel der Kinder, trotz schwieriger Situationen, scheinbar seelisch unberührt geblieben ist. Sie unterschieden sich in ihrem späteren Leben nicht wesentlich von jenen Kin- dern, die deutlich bessere Bedingungen zu Beginn des Lebens genossen hatten.

(vgl. Eberle 2019, 11 f.)

Spannkraft besitzen bedeutet, dass der Mensch die Kraft besitzt, Lebenskrisen, wie zum Beispiel Krankheit, Tod eines geliebten Menschen, Trennungen oder ein irre- versibles Schicksal, gut zu überstehen. Es bezeichnet die Fähigkeit, Herausforde- rungen anzunehmen, sie zu meistern und gegebenenfalls Rückschläge auszuhal- ten. Menschen, die Resilienz zeigen, setzen sich zur Wehr gegenüber jenen Situa- tionen im Leben, die sie bedrängen. Es bedeutet auch, sich das Wichtigste nicht nehmen zu lassen, die Freiheit, sich selbst auf das Leben einzustellen. Schließlich bedrängen den Menschen nicht die Tatsachen des Lebens, sondern seine destruk- tive Lebenseinstellung. (vgl. Böschemeyer 2012, 109)

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25 Ein Schriftstück von Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis, adressiert an seinen Freund, besagt Folgendes: „(…), dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können. (…) Ich habe es hier besonders erfahren, dass die Tatsachen immer bewältigt werden können und dass nur die Sorge und die Angst sie vorher ins Maßlose vergrößern.“ (Bonhoeffer o. J., zit. n. Böschemeyer 2019, 1 f.)

Eagleman schreibt über die Plastizität des Gehirns, dass es lebendig ist und zeitle- bens die Fähigkeit besitzt neue Schaltkreise aufzubauen. Das bedeutet, dass sich der Mensch erstaunlich gut anpassen und verändern kann (vgl. Eagleman 2017, 172), eine bedeutende menschliche Ressource, die für die Entwicklung der Spann- kraft notwendig ist.

Traumatische Erfahrungen, Stress oder Leid hinterlassen Einschnitte auf tiefster Körperebene, der Ebene der DNA. Doch wissen Wissenschaftler mittlerweile auch, dass ein bewusst veränderter Lebensstil, nämlich jener, der das Leben bejaht, die Genfrequenz verändern kann. (vgl. Eberle 2019, 24)

Der Zellbiologe Bruce H. Lipton bestätigt diese Behauptung durch seine Forschun- gen. Er erkannte, dass die Zellen durch die umgebende energetische und physische Atmosphäre bestimmt werden und nicht durch die Gene. Gene sind lediglich der Entwurf, der den Zellen, Zellverbänden und Organen zugrunde liegt. Das komplexe, hochentwickelte Nervensystem nimmt Einflüsse multidimensional, im Vergleich zu einer einzelnen Zelle, wahr. Daher kann es die Umgebung aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Diese Mehrdimensionalität der Betrachtungsweise des Lebens trägt maßgelblich zur Entwicklung der Spannkraft bei. Hier liegt der Beweis, dass Leben veränderbar ist und nicht den jahrelangen Überzeugungen zugrunde liegen muss. (vgl. Lipton 2018, 7 ff.)

Durch die Fixierung auf ein Problem oder eine Bedrängung verliert sich der Blick auf das mehrdimensionale Leben. Diese Einstellung verhindert die Entwicklung der Spannkraft. Die Überzeugung des Selbstwirksamkeitsprinzips ist eine wesentliche Grundvoraussetzung. Dies bedeutet, Verantwortung für das eigene Schicksal und Gelingen bei sich selbst zu sehen. Dabei sind folgende Merkmale von Bedeutung:

• ein starkes Wertesystem

• innere Autonomie, basierend auf eigenen Einschätzungen unabhängig von der breiten Masse

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1 Wunder Mensch

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• geistige Beziehung zu höheren Idealen – etwas ist größer und bedeutsamer als der eigene Erfolg

• die Fähigkeit des Selbstmanagements

• die Vorbereitung auf Schwierigkeiten und Krisen

• eine gesunde Distanz zur Rolle, die die Person ausübt (vgl. Draht 2014, 443) Nach Böschemeyer korreliert die Entwicklung der Resilienz mit der nach Frankl be- zeichneten „Trotzmacht des Geistes“. Sie bezieht sich auf die Fähigkeit jedes Men- schen, Distanz nehmen zu können zu den destruktiven und bedrängenden Gefüh- len und sich gleichzeitig den befreienden zuzuwenden. (vgl. Böschemeyer 2019, 4) Die Trotzmacht des Geistes ist jedem Menschen innewohnend und umfasst die ge- sammelte, unverbrauchte geistige Kraft. Sie bezieht sich auf die geistige Dimension.

Indem die Barrieren zur Sinnfindung beseitigt werden, kann Resilienz entwickelt werden. Die Hindernisse zeigen sich zum Beispiel in der Aggression, Ichbezogen- heit, Maßlosigkeit, Unwahrhaftigkeit, im Neid oder Trotz. Diese Gefühle werden durch destruktive Gedanken geschürt. Die Erkenntnis über die Macht der Gefühle und dessen, was den Weg zu einem glücklichen, freien und starken Leben verstellt, ist zunächst Grundvoraussetzung, um Gedanken und Gefühle zu verändern. Denn daraus erwachsen die Handlungen. In der Regel liegen die wichtigsten Sinnfin- dungsbarrieren nicht im Außen, wie vermutet werden könnte, sondern werden durch die eigenen inneren Überzeugungen geprägt. (vgl. Böschemeyer 2014a, 125) Der menschliche Aspekt der Resilienz bedeutet nach Reddemann und Stasing eine Art Schutzmechanismus in schwierigen oder sogar bedrohlichen Situationen. Die- ser Mechanismus hilft dem Menschen diese zu bewältigen, gibt Kraft, treibt an und fördert letztlich die persönliche Reifung. Resilienz ist eine Fähigkeit, die sich in ei- nem fortwährenden Prozess der Entwicklung befindet. Widerstandskraft geht daher mit schützenden Prozessen einher, die den Menschen trotz Risikofaktoren unter- stützen, sich gut zu entwickeln. (vgl. Reddemann/Stasing 2013, 25 f.)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Aspekt der Resilienz eine innere menschliche Ressource darstellt, die in schwierigen Situationen hilft, diese zu be- wältigen, und darüber hinaus die persönliche Entwicklung fördert.

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27 1.2.5 Typologien

Das Enneagramm ist die Lehre von neun verschiedenen Charaktertypen und hilft, den Typus mit seinen Problemen und Möglichkeiten zu erkennen. Böschemeyer betont jedoch, dass die Person zwar einen Typus hat, aber nicht der Typus ist. Der Mensch besitzt vor allem auch Originalität. Für Böschemeyer ist nach persönlicher und intensiver Beschäftigung das Enneagramm ein sehr wichtiges Instrument sei- ner beruflichen Tätigkeit als Psychotherapeut geworden. (vgl. Böschemeyer 2010c, 24) Er weist darauf hin, dass bereits im antiken Griechenland der Mensch die un- terschiedlichen menschlichen Verhaltensmuster überschaubarer darstellen wollte.

Die Vier-Temperamenten-Lehre von Hippokrates wurde am bekanntesten. Hippo- krates unterschied den Menschen aufgrund seiner Körpersäfte. So entstanden die Bezeichnungen der Temperamente, nämlich der lebhafte „Sanguiniker“, der wü- tend-zornige „Choleriker“, der oft dunkel gestimmte „Melancholiker“ und der inaktive

„Phlegmatiker“. Diese Lehre hat auch bis in die heutige Zeit noch Bestand. Eines ist allen Lehren jedoch gemeinsam: Es geht nicht um ein Abstempeln und Reduzieren des Menschen, sondern vielmehr um eine hilfreiche Möglichkeit, den Menschen kör- perlich, seelisch und geistig besser zu verstehen. (vgl. Böschemeyer 2010c, 27) Zur Lehre der Persönlichkeit gehört die Lehre der unterschiedlichen Typen, da jeder Typus auf eine ihm entsprechende Weise denkt, fühlt und handelt (vgl. Bö- schemeyer 2018, 153). Die unterschiedlichen Denkmuster prägen die innere Bilder- welt des Menschen.

In der Lehre der neun Typen geht es um die Erkenntnis, dass der Mensch zwar einmalig und einzigartig ist, jedoch Personen des gleichen Typus sich ähneln. Diese Sichtweise teilt sie auch mit anderen Lehren, die den Menschen in Typen einteilen, um ihn besser verstehen zu können. Jedem Typus werden spezifische Verhaltens- weisen zugeschrieben. Rohr und Ebert vergleichen die Typologien mit einer Land- karte, die es zu kennen wert ist, wenn der Mensch sich selbst erfahren möchte.

Durch die Landkarte werden die Tendenzen des menschlichen Charakters und des Verhaltens im Überblick dargestellt. Dadurch werden Stärken und Schwächen bes- ser erkannt und verstanden. Doch keine Landkarte ist allumfassend und keine be- trifft den Menschen in seiner Ganzheit. Die Auseinandersetzung mit der Landkarte ist lohnend, doch ersetzt sie nicht die Reise ins Land zum Selbst. Das Erkennen der

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1 Wunder Mensch

28 Gesetzmäßigkeiten menschlichen typischen Verhaltens ist sinnvoll, wenn gleichzei- tig auch die Typus-spezifischen Möglichkeiten erkannt werden. Dadurch verliert sich die typologisch bedingte Determiniertheit. Somit wird die Fixierung des Typus gelo- ckert und die Originalität des Menschen in seiner Unverwechselbarkeit und Einma- ligkeit kann ans Tagelicht kommen. Im Grunde zeigt das Enneagramm in beeindru- ckender Weise die spezifischen menschlichen Reaktionen auf innere und äußere Bedrohungen. Es ist daher ein äußert hilfreiches Medium im Hinblick auf seelisch- geistiges Wachsen und Reifen, da es die sogenannten typologischen Fallen mit Klarheit aufzeigt. (vgl. Rohr/Ebert 2010, 17 f.) Wird es studiert, öffnet es den Blick auf das Selbst, jener geistigen Größe, die in der Tiefe des menschlichen Seins schlummert (vgl. Rohr/Ebert 2010, 20).

Jede der neun Charakterstrukturen bewegt sich in einem Spannungsfeld zweier Pole, einer kontinuierlichen Abstufung von positiv (reife Persönlichkeit) nach negativ (unreife Persönlichkeit). Deutlich zeigt sich bei unreifen Persönlichkeiten, egal wel- cher Struktur die betreffende Person angehört, dass sie in Typus-spezifischen de- struktiven Mustern feststeckt. Der von Martin Luther geprägte Begriff – „Homo incur- vatus in se ipsum – der in sich verkrümmte Mensch“ – weist auf eine unentwickelte Persönlichkeit hin. (vgl. Rohr/Ebert 2010, 58)

Die Geschichte des Enneagramms ist bisher nicht eindeutig geklärt. Vermutlich lie- gen die Wurzeln im Sufismus, einer spirituellen Orientierung in der islamischen Re- ligion, und im frühen christlichen Mönchtum. Neu überarbeitet wurde es in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA durch Jesuiten und Psychoanalytiker. (vgl. Bö- schemeyer 2018, 156)

Die Sufis sahen die Erlösung des Menschen in der Entwicklung der Fähigkeit, die angeeigneten und fixierten Überzeugungen zu verlassen und die Betrachtung des Lebens aus einer anderen Perspektive zu forcieren. Am anderen Ende erwartet den Menschen seine gereifte Persönlichkeit. (vgl. Rohr/Ebert 2010, 58)

In der Weiterentwicklung der Persönlichkeit geht es daher einerseits um die Kennt- nis der typologischen Problemseite und andererseits und das Wissen der vorhan- denen Möglichkeiten, die mit jedem Typus verbunden sind.

Das Enneagramm ist ein grafisches Modell, in dem die neun Typen auf der Kreislinie im Uhrzeigersinn eingezeichnet werden. Dabei sind jeweils drei Charaktere in einer Gruppe zusammengefasst und drei Zentren (Bauch, Herz, Kopf) zugeordnet (vgl.

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