Gesundheitsförderungs- und Präventionsansätze bei Kindern aus suchtbelasteten Familien
(Literatur- und Datenbankrecherche)
Autoren: Thomasius, Rainer. Klein, Michael.
Publikationsjahr: 2018
Schlagworte
Alkoholabhängigkeit, Alkoholkonsum, Drogenkonsum, Kinder,
Medikamentenabhängigkeit, Physische Gesundheit, Psychische Gesundheit, Substanzmissbrauch, Sucht, Tabakabhängigkeit, Tabakkonsum
Reviewsprache
Deutsch
Studiensprachen
Deutsch, Englisch
Lebenswelten
Kita, Kommune, Schule
Weitere Lebenswelten
Freizeitgruppe, Sonstige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Sportverein
Zielgruppen
Familien mit Substanzmissbrauch, Kinder aus suchtbelasteten Familien, Multiplikatorinnen/Multiplikatoren
Themen
Alkoholkonsum, Alkoholabhängigkeit, Eltern-Kind-Beziehung, Gesundheitskompetenz, Gewaltprävention, Häusliche Gewalt,
Medikamentenabhängigkeit, Physische Gesundheit, Stressbewältigung, Tabakabhängigkeit, Tabakkonsum
Geschlechter
Ohne Differenzierung
Altersgruppen
Kinder (3-8 Jahre), Kinder (9-12 Jahre), Jugendliche (13-17 Jahre)
Interventionsstrategie
Aufbau gesundheitsfördernder Strukturen, Beratung, Empowerment,
Niedrigschwellige Angebote, Partizipation, Stärkung persönlicher Kompetenzen, Stärkung sozialer Unterstützung, Training, Vernetzung, Wissensvermittlung
Reichweite
Lokal, Regional
Zusammenfassung (Abstract)
Einleitung: Kinder suchtbelasteter Eltern sind eine vulnerable Gruppe, da sie ein erhöhtes Risiko für eigene Abhängigkeitserkrankungen und weitere psychische Erkrankungen haben. Es werden Interventionen zur Gesundheitsförderung von Kindern suchtbelasteter Eltern und deren Wirksamkeit in der Verhaltens- und Verhältnisprävention erörtert.
Methoden: Zunächst fanden leitfadengestützte Befragungen von Expertinnen und Experten zu Programmen aus der gemeindeorientierten bzw. strukturellen
Gesundheitsförderung für Kinder suchtbelasteter Eltern statt (Ist- und Soll-Situation).
Es wurde eine systematische Literaturrecherche in gängigen Datenbanken und Internetsuchmaschinen durchgeführt. Ein- und Ausschlusskriterien wurden definiert und Kriterien zur Bewertung wissenschaftlicher Befunde entwickelt.
Ergebnisse: Verhaltens- und verhältnispräventive Programme für Kinder
suchtbelasteter Eltern werden vor allem von Suchtberatungsstellen oder anderen spezialisierten Einrichtungen angeboten und umfassen Spielgruppen,
Freizeitgruppen, u. ä. In der systematischen Literaturrecherche wurden 21 relevante Studien ermittelt. Das evaluierte Programm „Trampolin“ erzielt besonders positive Effekte, vor allem in der Verringerung der psychischen Belastung von Kindern suchtbelasteter Eltern. Kreative und körperliche Aktivitäten sowie angeleitete
Spielgruppen sind allgemein gesundheitsfördernd für Kinder und Jugendliche. Eine relevante verhältnispräventive Intervention ist das Programm „Communities That Care (CTC)“: Teilnehmende haben ein geringeres Risiko zu rauchen, straffällig zu werden und Gewalttaten auszuüben.
Diskussion und Fazit: Es wurde eine Reihe erfolgreicher verhaltenspräventiver Interventionen ermittelt. Verhältnispräventive Interventionen sind unterrepräsentiert und aktuell zu wenig erforscht.
Handlungsempfehlungen: Die Autoren geben eine Reihe von
Handlungsempfehlungen zur Einführung bzw. Umsetzung von Interventionen für Kinder suchtbelasteter Eltern. Sie empfehlen insbesondere das wissenschaftlich belegte Programm „Trampolin“ sowie die Anpassung des verhältnispräventiven Programms CTC für deutsche Verhältnisse.
Forschungsfragen
Welche Interventionen im Rahmen der individuellen und strukturellen Gesundheitsförderung und Prävention gibt es für Kinder alkohol- und/oder
medikamentenabhängiger Eltern, vor allem im Setting Kommune? Welche Wirkungen lassen sich nachweisen?
Gibt es darüber hinaus partizipative sowie verhaltens- und verhältnisbezogene Ansätze?
Methode
Die Übersichtsarbeit nutzt quantitative und qualitative Methoden
(Mixed-Methods-Research-Ansatz), um die Forschungsfragen aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Fünf Expertinnen bzw. Experten aus unterschiedlichen Institutionen und Fachdisziplinen wurden anhand eines halbstrukturierten
Interviewleitfadens telefonisch befragt. Es folgte eine systematische
Literaturrecherche in den Datenbanken PubMed, CINAHL, Cochrane-Datenbanken, PSYNDEX und PubMed Health. Außerdem wurden Suchmaschinen wie
GoogleScholar verwendet. Vorab wurden Ein- und Ausschlusskriterien definiert. Die berücksichtigten Studien waren vorrangig Einzelstudien und Übersichtsarbeiten zur strukturellen bzw. verhältnisbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention, nachrangig Übersichtsarbeiten zur individuellen bzw. verhaltensbezogenen
Gesundheitsförderung und Prävention. Ausgeschlossen wurden u. a. die Zielgruppen Kinder unter drei Jahren und Erwachsene älter als 18 Jahre, Expertenmeinungen, Buchkapitel, Vorträge sowie nicht begutachtete Übersichtsarbeiten. Weiterhin wurden Kriterien zur Einschätzung der wissenschaftlichen Aussagekraft und
Empfehlungsgrade entwickelt, auf deren Basis die Studien bewertet wurden.
Zielgrößen
Bewältigungsstrategien (Coping) und Sozialverhalten Entwicklung einer Suchtstörung Psychische Aggressionen der Mütter gegen die Kinder Körperverletzungen oder Misshandlungen der Kinder Häusliche Gewalt
Eltern-Kind-Interaktion Erziehungsverhalten Problemverhalten wie Neigung zu kriminellem Verhalten oder Straffälligkeit (Delinquenz) Verhaltensauffälligkeiten, Rebellionsneigung Konstruktives und hilfsbereites Verhalten gegenüber
Gleichaltrigen, Soziale und emotionale Kompetenzen Allgemeine Kindergesundheit
(Ernährung, Gewicht, Impfen, etc.) Kognitive Entwicklung Selbstvertrauen Selbstbewusstsein Körperliche Aktivitäten Lebensqualität
Ergebnisse
Die Expertinnen und Experten nannten eine Reihe von Programmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention für Kinder suchtbelasteter Eltern, die insbesondere von Suchtberatungsstellen oder anderen spezialisierten Einrichtungen angeboten werden.
Programme der Verhaltensprävention umfassen Spielgruppen, Freizeitgruppen, Beratungssprechstunden und Gesprächsgruppen. Als wissenschaftlich belegtes Programm wurde „Trampolin“ (modulares Präventionsprogramm für Kinder
suchtbelasteter Eltern) angegeben. In der Verhältnisprävention sahen die Expertinnen und Experten noch große Lücken. Hier müssten Zugangswege systematisiert und standardisiert werden (z. B. Lotsensystem), ein Leitfaden entwickelt, Angebote vernetzt und Fachkräfte besser qualifiziert werden. Insgesamt ist eine bessere
Vernetzung von Angeboten für Kinder suchtbelasteter Eltern erforderlich. Dieses gilt zum einen innerhalb von Kommunen bzw. Regionen (z. B. stärkerer Einbezug der Jugendhilfe, stärkere Vernetzung von Sucht- und Jugendhilfe). Zum anderen sollten sich die Kommunen untereinander zum Informations- und Erfahrungsaustausch vernetzen.
In der systematischen Literaturrecherche wurden 21 relevante Studien ermittelt (14 Übersichtsarbeiten, 7 Einzelstudien). Wissenschaftlich belegte verhältnispräventive Interventionen, die Kinder suchtbelasteter Eltern zumindest einschließen, sind in internationalen Publikationen selten; aus Deutschland ist bislang keine
entsprechende Studie international veröffentlicht. Es wurden elf Interventionen ermittelt, die sich direkt an Kinder suchtbelasteter Eltern richten. Weiterhin gab es mehrere verhältnispräventive Programme, die neben elterlichem Substanzmissbrauch auch Vernachlässigung, Missbrauch und häusliche Gewalt thematisieren. Das
evaluierte Programm „Trampolin“ zeigt positive Effekte auf die psychische Belastung der Kinder. Kreative und körperliche Aktivitäten sowie angeleitete Spielgruppen sind allgemein gesundheitsfördernd für Kinder und Jugendliche. Viele
Präventionsangebote für Kinder suchtbelasteter Eltern in Deutschland enthalten u. a.
gemeinsames Kochen und Essen, was das Gemeinschaftsgefühl fördert. Von den verhaltenspräventiven Interventionen wurden alle mit der Empfehlung „sollte
angewendet werden“ eingestuft. Zwei verhältnispräventive Interventionen sind
wissenschaftlich belegt und erhielten die Empfehlung „soll weiter beforscht werden“.
Dies sind die Programme „Communities That Care (CTC)“ und „Healthy Families America (HFA)“. CTC-Teilnehmende haben ein geringeres Risiko zu rauchen, straffällig zu werden und Gewalttaten auszuüben. Bei Teilneh-menden des HFA-Programms verbessern sich das elterliche Erziehungsverhalten sowie die sozialen und emotionalen Kompetenzen der Kinder. Die Übertra-gung struktureller
Interventionen wie CTC oder eine Adaption davon im deutschen Raum erscheint grundsätzlich möglich. Dies setzt eine enge und verbindliche Vernetzung relevanter kommunaler Akteure voraus, was in einigen Regionen noch aufzubauen bzw. zu verstärken wäre. Zudem müssten Spezifika, Stärken und Schwächen der hiesigen Rahmenbedingungen sowie kulturelle Besonderheiten beachtet werden.
Limitationen
Die geringe Trefferzahl in der vorliegenden Übersichtsarbeit ist sicherlich auch eine Folge der angewendeten Such- und Auswahlkriterien. Programme, die sich nicht ausdrücklich an Risiko- bzw. vulnerable Gruppen richteten oder aber ungenügende Angaben enthielten, wurden ausschlossen.
Diskussion und Fazit
Die vorliegende Übersichtsarbeit mit Experteninterviews konnte verhaltens- und verhältnispräventive Interventionen in der Gesundheitsförderung bei Kindern suchtbelasteter ermitteln, darunter im deutschsprachigen Raum das Programm
„Trampolin“. Dieses scheint für die Umsetzung und Praxis der Gesundheitsförderung bei Kindern suchtbelasteter besonders geeignet zu sein.
Evidenzbasierte verhältnispräventive Interventionen zur Gesundheitsförderung bei Kindern suchtbelasteter sind jedoch rar. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass dieser Bereich zu wenig erforscht ist und ausschließlich das CTC-Programm
empfohlen werden kann.
Handlungsempfehlungen
Die Autoren geben folgende Handlungsempfehlungen:
Vorbereitung der Einführung und Umsetzung struktureller Interventionen: Ermittlung der Bereitschaft von Kommunen, Programme einzuführen und umzusetzen
(vorhandene Kenntnisse, Einstellungen, Sensibilität etc.) Verbindliche, enge und nachhaltige, am besten auch koordinierte Vernetzung relevanter Akteure innerhalb der Kommunen: u. a. aus Einrichtungen der Sucht-, Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie und Psychotherapie, aus Kitas, Schulen, Freizeit-, Forschungs- und Bildungs-einrichtungen, Behörden sowie politische Entscheidungsträger Schulung und Qualifizierung der beteiligten Fachkräfte (z. B. für Lotsensystem) Sicherstellung der Finanzierung im Vorfeld (insbes. Nutzung bereits bestehender Möglichkeiten im Rahmen des Präventionsgesetzes) Einführung und Umsetzung struktureller
Interventionen: Empfohlen wird die Rekrutierung der Zielgruppe über bspw. Sucht- oder Jugendhilfe sowie Schulen bei gleichzeitig enger Vernetzung der Fachkräfte aus den unterschiedlichen Institutionen. Behutsame motivierende Ansprache der Kinder und Familienmitglieder Integration und Auswahl von evaluierten
verhaltenspräventiven Programmen, z. B. „Trampolin“ oder SFP (Strengthening
Families Program) Längerfristige, nachhaltige, lebensphasenbegleitende strukturelle Interventionen in Sinne von Präventionsketten Qualitätssicherung und Evaluation (Prozess- und Wirksamkeitsevaluation) der eingeführten bzw. umgesetzten
Interventionen