DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Kulturmagazin
Kids, die was aus sich machen
Ein Arzt führt Jugendliche aus dem sozialen Abseits der Pariser Slums
D
ie Bühne wird zumSchauplatz von Turbu- lenzen und Kapriolen, wenn die Gruppe „Black, Blanc, Beur" mit dem Tanzen loslegt.
Ungebändigte Bewegungslust, die sich mal verspielt, dann wie- der mit aller Macht becircend Ausdruck verschafft: Das ist es, was die Show der „B3" aus den tristen Niederungen der Unter- haltungsbranche herauskatapul- tiert.
Ungewöhnlich ist auch die Ent- stehungsgeschichte der Compa- gnie; fast mutet sie an wie ein Lehrstück. Der Name „Black, Blanc, Beur" — Schwarzer, Wei- ßer, Araber — ist durchaus pro- grammatisch zu verstehen. Alles begann nämlich mit einem so- zialen Experiment.
Die Banlieue von Paris ist schon seit langem berüchtigt als Stätte
von Elend und Verrohung. Frü- her grassierten hier Typhus und Cholera; unter Politikern waren die Elendsquartiere zudem als Brutstätten von Kommunismus und Anarchie gefürchtet. Alle bisherigen Versuche, den ver- heerenden Mißständen beizu- kommen, endeten katastrophal, wobei Frankreichs Architekten ebenso versagten wie seine Poli- tiker. Letzter Versuch, die er- bärmlichen Lebensbedingungen für acht Millionen Franzosen im Großraum rund um Paris aufzu- bessern, sind die „villes nouvel- les", doch auch sie gerieten wie- der zu Monumenten stadtplane- rischer Barbarei. Für zusätzliche Brisanz sorgt noch ein Problem, das aus der kolonialistischen Vergangenheit Frankreichs re- sultiert. Scharen von Einwande- rern aus den ehemaligen Kolo- nien sind in dieser Randregion gestrandet, die für viele auch das
soziale Abseits bedeutet: Leicht schlittern sie in den Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenmißbrauch hinein.
Ein „melting pot", der ein explo- sives soziales Gemisch in sich
konzentriert, ist auch die Satelli- tenstadt Saint-Quentin-en-Yveli- nes. Im Zuge staatlicher Maß- nahmen, um die Jugendlichen von der Straße zu holen, wurde dem dortigen „Centre d'Action Culturelle" 1984 eine einmalige Subvention von 400 000 Francs zur Verfügung gestellt. Die bie- deren, wenngleich gutgemein- ten Konzepte der Sozialarbeiter stießen bei den Jugendlichen je- doch zumeist auf Desinteresse.
Der Arzt Jean Abderaman Dje- mad, der die Jugendarbeit des C.A.C. leitete, hatte schließlich die zündende Idee. Die Kids auf der Straße hatte eine wahre Tanzwut gepackt; ihr Element
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 40 vom 1. Oktober 1986 (67) 2707
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Kids, die was aus sich machen
war der „Dancefloor", wo die neuesten Moden aus Amerika sofort ausprobiert wurden. War- um also nicht mit Jugendlichen verschiedenster Hautfarbe ein Tanz-Spektakel auf die Beine stellen?
In mehreren „Auditions" wurden von 600 „Aficionados" 37 ausge- wählt, alle zwischen 16 und 22 Jahren. Die Choreographin Co-
rinne Lanselle vom „Centre amä- ricain" übernahm die Schulung, und nach vier Monaten Proben — davon sechs Wochen in einem Ausbildungscamp in der Breta- gne — gaben „Black, Blanc, Beur" ihr Debüt in einem Park- haus. Ihr Stück „J'en ai tout ä foutre" (Da hab ich Bock drauf!) wurde vom Publikum und von der Presse gleichermaßen begei- stert aufgenommen, und par- bleu! „B3" wurde vom Fleck weg für das Saarbrücker „Festival du Jeune Thöätre Fran9ais" enga- giert. Im dortigen Staatstheater absolvierte die Gruppe zwei bra- vouröse Auftritte vor zwölfhun- dert Zuschauern.
Dieser Erfolg wäre undenkbar ohne die unerschöpfliche Ener- gie und den Enthusiasmus Jean Djemads; er ist letztlich auch der Garant des Zusammenhalts der Truppe. Der in Frankreich gebo- rene Kabyle entstammt einer Fa- milie von Marabuts (islamische Heilige, Weise).
Seiner Meinung nach ist das Projekt über das Stadium des sozialen Experiments längst hin- aus. Konflikte zwischen den ver- schiedenen Rassen hätte es im übrigen kaum gegeben. Die größten Auseinandersetzungen tobten zwischen den Fraktionen der Breakdancer und der Jaz- zies. Als künstlerischer Leiter der Truppe achtet Jean Djemad strikt darauf, daß im Sinne von Weiterentwicklung gearbeitet wird. Dies meint nicht nur Perfek- tionierung der Technik, — seine besondere Aufmerksamkeit gilt dem psychischen Profil der ein- zelnen Tänzer. Er ermutigt sie, sich nicht hinter schönen Posen zu verstecken, sondern die eige- ne Geschichte — und sei sie noch so einfach — zu präsentieren.
Leidenschaft und Charme Die Show der „B3" hat davon reichlich profitiert. Schon das Opening ist einfach grandios: Ei- ne gesichtslose Masse verwan- delt sich nach und nach in eine kecke Bande von Tagedieben, Vorstadtschönheiten, Herzens- brechern, kleinen Gaunern und Lederbräuten. Kleine Alltags- skizzen passieren Revue. Nicht von sozialen Konflikten und Ver- elendung wird erzählt, sondern von Imponierritualen und harm- losen Scharmützeln befeindeter Straßenbanden, von stürmischer
Die Kids, die ihre Tanzleiden- schaft in der Gruppe
„Black, Blanc, Beur" auslas- sen können, werden von dem Arzt Jean Djemand (ganz links) geführt
Fotos:
Petra Gall/
Zebra
Anmache und bitter-süßen Ro- manen. Und wenn die „B3" mit dem Tanzen erst richtig losle- gen, dann gibt's kein Halten mehr. In turbulenter Szenenfol- ge werden die unterschiedlich- sten Tanzstile durcheinanderge- wirbelt: Break Dance, Jazz, Afro und Samba. Als Intermezzo in all diesem Tanzfieber werden akro- batische Nummern und einige umwerfend komische Sketche präsentiert. Vor allem die Schwarzen sind Meister des Gri- massierens und geben wahre Salven phantasiesprachlichen Palavers von sich.
Zugegeben: Die Choreographie von Corinne Lanselle ist nicht sonderlich anspruchsvoll. Witz und Überschwang der Truppe sind aber einfach mitreißend.
Und geradezu frappierend ist es, wie gewieft einige der Kids ihren umwerfenden Charme und ihre ganze Keckheit zum Einsatz bringen, wie sie sich Spielräu- me schaffen und kleine Listen des Überlebens demonstrieren.
Nicht nur im Umgang mit ameri- kanischen Vorbildern, auch an- gesichts der eigenen kulturellen Wurzeln gibt man sich unge- zwungen. Die Gepflogenheiten der Vätergeneration sind Gegen- stand so manch liebevoller Kari- katur. Großen Eindruck machten
„Black, Blanc, Beur" im Sommer 1986 bei ihrem Gastspiel in Ber- lin. Weitere Gastspiele im Aus- land sind geplant. Für die Bun- desrepublik stehen schon zwei Termine: 2. Oktober in Saarge- münd, 4. Oktober in Ludwigsha- fen. Möglicherweise kann die Gruppe dann schon ihre zweite Produktion zeigen, die für Herbst 1986 angekündigt war.
Die Motivation der Kids, an sich zu arbeiten, ist weiterhin groß.
Schließlich wollen sie „Klasse"
haben, um stolz auf sich zu sein.
Viele würden für ihr Leben gern mit dem Tanzen ihr Geld verdie- nen. Daß die Schwierigkeiten nun erst anfangen, das wissen sie. Zurück aber will keiner, denn: „Die Galeere, das kennen wir!" Sandra Luzina 2708 (68) Heft 40 vom 1. Oktober 1986 83. Jahrgang Ausgabe A