A 1126 Deutsches Ärzteblatt
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Heft 25|
20. Juni 2014S
onne, Samba, Partystimmung:Der Plan des Fußballwelt- verbandes Fifa und der brasilia - nischen Regierung war eigentlich ganz einfach. Ihrer Ansicht nach war kein Land besser als WM-Aus- tragungsort geeignet als das der fußballverrückten Brasilianer. Doch der Plan ging nicht auf. Das Me - ga-Event wird seit vergangenem Sommer von sozialen Unruhen be- gleitet. Zu Hunderttausenden gin- gen Brasiliens Bürger damals auf die Straße. Selbst Brasilienexper- ten waren von der Dynamik des Protests überrascht. Seitdem gärt es im Land. Brasiliens Bürger be- klagen die hohen Ausgaben für das Turnier. Sie kritisieren, dass nur ei-
nige wenige von dem Spektakel profitieren, während das Gros der Bevölkerung keinen Nutzen da- raus ziehen kann. Viele sähen das Staatsgeld statt in Mega-Stadien lieber in das marode Bildungswe- sen des Landes investiert oder – ein Kernpunkt der Proteste – in das Gesundheitssystem.
Mehr Ärzte für das Land Zumindest mit Blick auf die Defizi- te im Gesundheitswesen wurde der Ruf der Bürger erhört. Als Reaktion auf die Proteste legte Brasiliens Prä- sidentin Dilma Rousseff im vergan- genen Jahr das ambitionierte Pro- gramm „Mais Médicos“ (Mehr Ärz- te) auf. Sie öffnete das Land für aus-
ländische Mediziner, um dem chro- nischen Ärztemangel zu begegnen, mit dem Brasilien seit Jahren kämpft. Mehr als 50 000 Ärzte feh- len im Land. Die Mediziner aus dem Ausland sollen helfen, die mas- siven Versorgungslücken zu schlie- ßen, die vor allem in ländlichen Re- gionen in Brasilien herrschen.
Die Initiative war erfolgreich: In- nerhalb weniger Monate sind 13 000 ausländische Ärzte nach Brasilien gekommen. Die meisten von ihnen stammen aus Kuba. Der sozialisti- sche Inselstaat ist bekannt für seine gut ausgebildeten Ärzte und die Be- reitschaft, diese bei Bedarf zu Hilfs- einsätzen ins Ausland zu schicken.
Bei der brasilianischen Ärzteschaft ZUR FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT
Brasiliens Gesundheitswesen – keine runde Sache
König Fußball soll Brasilien in kollektives Entzücken versetzen. Doch abseits des Fußballfestes gerät die soziale Schieflage des Landes in den Blickpunkt.
Vor allem im Gesundheitswesen sind die Defizite groß.
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20. Juni 2014 A 1127 löste das Programm der Regierungheftigen Protest aus (wir berichte- ten), die Bevölkerung aber nahm den unkonventionellen Schritt zur Soforthilfe wohlwollend auf. Laut Umfragen sind 80 Prozent der Bra - silianer mit dem Programm zufrie- den. Die ausländischen Mediziner haben zunächst eine Arbeitserlaub- nis für drei Jahre.
Doch Brasiliens Regierung weiß, dass die Kuba-Initiative nur ein Zwischenschritt ist, um die vielen Defizite im staatlichen Gesundheits- wesen in den Griff zu bekommen.
Debatten, das System grundlegend zu reformieren, laufen. Eine Überle- gung: Junge brasilianische Ärzte, die im staatlichen System ausgebil- det werden, sollen künftig dazu ver- pflichtet werden, zwei Jahre im öf- fentlichen Sektor Dienst zu tun. Es gibt Rufe, das System – Sistema Unico de Saude – zu privatisieren.
Brasiliens staatliches Versorgungs- netz kämpft seit vielen Jahren mit tiefen strukturellen Problemen. Zu dem chronischen Ärztemangel ge- sellt sich ein chronischer Geldman- gel. Das System leide sowohl un- ter einer schlechten Ausstattung von Krankenhäusern und Gesund-
heitsstationen als auch unter einer ineffektiven Verwaltung, die das Geld nicht dort einsetze, wo es be- nötigt wird, ergeben Analysen.
Auch Korruption ist immer wieder ein großes Thema. In einem Bulle- tin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beklagt Francisco Eduardo de Campos, einer der versiertesten Gesundheitsexperten Brasiliens und ehemaliger Regierungsmitarbeiter, die „immense Unterfinanzierung“
und den „prekären Zustand“ einiger Krankenhäuser. Im Jahr 2007 ist das Budget für das staatliche Ver- sorgungsnetz auf Grund von weg- gefallenen Steuereinnahmen um ein Viertel reduziert worden.
Die Missstände sind für die Bür- ger deutlich spürbar. Medienberich- ten zu Folge leben in den abgelege- nen Regionen oder auch in den so - zial schwachen Randgebieten der Großstädte Menschen, die seit Jah- ren keinen Arzt zu Gesicht bekom- men haben. In den Städten gehören monatelange Wartezeiten für Be- handlungstermine zum Alltag. Laut Meinungsumfragen ist „in keinem anderen Politikfeld die Unzufrie- denheit der Brasilianer größer als in der Gesundheitspolitik“, analysiert die deutsche Gesellschaft für Au- ßenwirtschaft und Standortmarke- ting GTAI.
Dennoch: Grundsätzlich gilt Bra- siliens Gesundheitswesen als ver- gleichsweise fortschrittlich. Das Land hat verstanden, dass ein intaktes
Gesundheitswesen ein Grundpfeiler für eine Gesellschaft ist. Der Zu- gang zum System ist für alle Brasi- lianer frei. Bei einer Bevölkerung von knapp 200 Millionen Men- schen eine Mammutaufgabe. Brasi- liens Regierung hat in der Vergan- genheit stark in das System inves- tiert, etwa mit Blick auf die Krebs- vorsorge und –therapie. Auch bei der Ausbildung von medizinischem Personal wie Krankenschwestern hat das einstige Entwicklungsland seit den 70er Jahren viel erreicht, um dem wachsenden Versorgungs- bedarf seiner Bevölkerung gerecht zu werden.
Elite flieht in privaten Sektor Der Health Data Report der Organi- sation für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung (OECD) beziffert die Gesundheitsausgaben Brasiliens auf 8,9 Prozent des Brut- toinlandsprodukts (Jahr 2011). Da- mit liegt das Land nur geringfügig unterhalb des OECD-Durchschnitts von 9,3 Prozent. Allerdings: Brasi- lien schneidet laut OECD unter- durchschnittlich bei den Gesund- heitsausgaben je Bürger ab. Hier ste- hen 1 043 US-Dollar einem Durch- schnitt von 3 339 Dollar gegenüber.
Der Mangel an medizinischem Per- sonal ist eklatant: Auf 1 000 Ein- wohner kommen in Brasilien nur 1,8 Ärzte (OECD-Durchschnitt: 3,2).
Gerade einmal 1,5 Krankenschwes- tern stehen statistisch gesehen für dieselbe Anzahl von Einwohnern bereit (8,7 sind es im OECD- Durchschnitt). Es gibt nur halb so viele Krankenhausbetten, wie es durchschnittlich in den OECD-Län- dern der Fall ist.
Von einem „universalen und gleichberechtigten Zugang“ zur Ge- sundheitsversorgung, wie ihn Bra- siliens Gesetz vorsieht, ist man in der Realität weit entfernt. Wer es sich leisten kann, flüchtet in den aufstrebenden privaten Sektor. Doch dies gilt auch in Brasilien, wie üb- lich, nur für die Elite.
Ob König Fußball das soziale Ungleichgewicht im Land über- strahlen kann? Die Antwort auf die- se Frage gibt es erst nach dem Ab- pfiff des Endspiels am 13. Juli.
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Nora Schmitt-Sausen Der Vorstoß der brasilianischen Regierung, den Ärzteman-
gel im Land mithilfe ausländischer, insbesondere kubani- scher Mediziner auszugleichen, machte über die Landes- grenzen hinaus Schlagzeilen. Kritik wurde laut, als bekannt wurde, dass der Löwenanteil des Honorars, das Brasilien für den Hilfseinsatz zahlt, nicht bei den Ärzten aus Kuba an- kommt. Der kubanische Staat kassiert bei der Aktion kräftig mit. In der Debatte um die Honorierung wurden gar Sorgen laut, dass einige kubanische Ärzte ihren Aufenthalt in Brasi- lien als Sprungbrett nutzen würden, um sich aus dem so- zialistischen Staat abzusetzen. In den USA wurden verein- zelt Fälle bekannt, dass kubanische Ärzte aus Brasilien he- raus Asyl beantragt haben. Bisher sind dies jedoch Einzel- fälle geblieben, und die Sorgen, die brasilianische Regie- rung habe sich durch „Mais Médicos“ ein Eigentor ge- schossen, bestätigten sich nicht.
HILFE AUS KUBA
Es gärt in Brasi- lien: Die Bürger beklagen die hohen Ausgaben für die Fußball-Weltmeister- schaft, von der nur einige wenige profi- tieren.
Foto: picture alliance