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Archiv "Wissenschaft, Kunst und Religion" (06.05.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen THEMEN DER ZEIT

Innerhalb der letzten 400 Jahre, be- sonders während der „Aufklärung", entwickelten sich im Westen neue Gedankenrichtungen, aus denen sich dann die Vorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts über Wissenschaft, Kunst und Religion herauskristallisierten. Man nahm damals und vielfach auch gegen- wärtig an, daß das Wesen wissen- schaftlichen Wirkens darin besteht, vorher bestehende Phänomene aufzudecken. Der Wissenschaftler schien weniger wichtig als das be- schriebene Naturgesetz. Wenn Pro- fessor A. die neue Wahrheit heute nicht gefunden hätte, wäre sie mor- gen von Professor B. beobachtet worden. Das Wort Entdeckung, das gewöhnlich für die Beschreibung wissenschaftlicher Bemühungen angewandt wird, deutet an, daß hier ein bisher verborgenes Gesetz aufgezeigt wurde.

Die Arbeit des Künstlers spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Er produziert neue Ideen, die ohne sein Wirken niemals existiert hät- ten. Das Wesen seiner Arbeit ist Erfindung.

Der schärfste Unterschied schien zwischen Wissenschaft und Reli- gion zu bestehen. Wo der Wissen- schaftler sich auf die objektive Be- obachtung stützt, versucht der reli- giöse Denker der Wahrheit durch den Glauben nahezukommen. Die Wissenschaft ist demnach auf ma- terialistischen Grundlagen aufge- baut; das Individuum ist ein histori-

scher Zufall. In der Kunst und Reli- gion ist das Individuum der Meister seines Schaffens.

Es scheint, daß die Zeit gekommen ist, sich darüber Gedanken zu ma- chen, wie es zu dieser Dichotomie kam, die das Denken des Westens überschattet. Es scheint, daß die Wurzeln dafür darin zu finden sind, daß die Wissenschaft versucht, Na- turphänomene innerhalb eines Sy- stems formaler Logik zu beschrei- ben, das mathematisch formuliert ist. Die Methode mathematischer Generalisation wurde auf immer neue Gebiete ausgedehnt, und man hoffte, daß eines Tages alle Er- scheinungen, auch die biologi- scher Natur, von einem geschlos- senen logischen System eingefrie- det sein würden.

Diese Erwartungen wurden durch die weiteren Entwicklungen auf dem Gebiete der Wissenschaft nicht erfüllt. Innerhalb der letzten Jahrzehnte hat sich eine Revolu- tion in der Physik abgespielt, und zur gleichen Zeit ergaben kritische Untersuchungen des Wesens der Mathematik vorher ungeahnte Pro- bleme. Dies macht es nötig, die Beziehungen der Biologie zu logi- schen Systemen von neuem zu un- tersuchen.

Die heute von der „Wissenschaft"

beglaubigte Methode, der Realität zu begegnen, wurde vor beinahe

400 Jahren von Francis Bacon for- muliert, der dachte, daß das Wesen der Methode auf systematischen Beobachtungen und Experimenten beruht. Die Erfahrung ist die Mutter des Wissens. Hingegen dachte sein Zeitgenosse Montaigne, daß die Emotionen des Individuums seine Sinneseindrücke so stark beein- flussen, daß der Zustand seiner Rezeptoren für das Wissen verant- wortlich ist, das er aufnimmt. Der Unterschied zwischen den beiden Denkern beherrscht auch heute noch unsere Vorstellungen über das Wesen der Wissenschaft.

Der Mensch hat seit jeher ver- sucht, die verschiedenen Gescheh- nisse, die sich in seiner Umgebung abspielen, miteinander in Verbin- dung zu bringen, und gelangte zum Gesetze von Ursache und Folge, d. h. zur Kausalität, derzufolge ein unabänderlicher Zusammenhang zwischen bestimmten Phänomenen besteht. In der Zeit vor der streng logischen Erklärung der Naturer- eignisse wurde das Bestehen der Kausalgesetze immer dann als ge- geben angesehen, wenn ihre An- wendung nützlich erschien. Wenn sich jedoch, wie etwa bei religiö- sen Fragen, Widersprüche erga- ben, wurde das Prinzip leicht auf- gegeben.

Im achtzehnten Jahrhundet machte die steigende Bewertung der expe- rimentellen Methode eine grundle- gende Auseinandersetzung mit dem Kausalprinzip wünschenswert.

Solche Überlegungen wurden von Hume angestellt, der behauptete, daß das Kausalprinzip ein Kind un- serer Erfahrung ist, weil wir beob- achten, daß sich bestimmte Dinge immer nach den gleichen, vorher- gehenden Ereignissen abspielen.

Kant setzte sich mit dem Prinzip in subjektiver Weise auseinander. Er nahm an, daß das Gefühl für kau- sale Zusammenhänge eine A-priori- Kategorie des menschlichen Den- kens darstellt. Er erkannte, daß Kausalität nicht das Produkt unse- rer Erfahrungen ist, sondern daß im Gegenteil der Mensch seine Er-

Wissenschaft, Kunst und Religion

Hans Kaunitz

Department of Pathology, Columbia University New York N. Y. 10032

1320 Heft 19 vom 6. Mai 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Wissenschaft, Kunst und Religion

fahrungen so einordnet, daß sie ihn schließlich zum Kausalprinzip lei- ten.

Dem Skeptizismus, der von Hume eingeführt worden war, folgte der Versuch, die Frage von Kausalbe- ziehungen in der Bewertung von Naturphänomenen außer acht zu lassen. Man versuchte Naturereig- nisse in mathematischen Formeln auszudrücken. Diese Denkungsart war natürlich mit der Annahme ei- nes starren Determinismus verge- sellschaftet, da eine mathemati- sche Formel kein Entweichen er- laubt. De facto stellte dies einen Sieg des Kausalprinzipes auf der ganzen Linie dar. Man nannte die- se Denkart den universellen physi- kalischen Phänomenalismus. Man sollte hier an Ernst Mach denken, der sogar psychologische Phäno- mene mathematisch ausdrücken wollte. Der Versuch, das Univer- sum in ein Gewebe formaler Logik einzukleiden, fand seine Krönung in der Relativitätstheorie, die Licht, Materie, Bewegung, Zeit und Raum mit einem grandiosen Umwurf ma- thematischer Formeln umgab. Man hoffte sogar, daß in der Zukunft eine allgemeine Feldtheorie auch die Gravitation, den Elektromagne- tismus und die Atomkräfte ein- schließen würde.

Das biologische Denken der Zeit wurde durch die Physik beeinflußt.

Die Chemie überschattete alle Zu- gänge zur Biologie. Selbst wenn die direkte Anwendung chemischer Formulierung nicht anwendbar er- schien, z. B. in der Evolutionslehre, wurden einige Grundelemente, wie Mutationen, Existenzkampf, Überle- ben der Tauglichsten quasi als ma- thematische Bausteine beim Auf- bau der Genetik verwendet.

Auch die Psychologen bildeten komplizierte Gebäude über einige Axiomen wie das „Unbewußte", das Ego, das Es u. a. Man hoffte, daß alle diese Begriffe eines Tages chemischer Beschreibung zugäng- lich sein würden.

Als die Relativitätstheorie und die Psychoanalyse ihre größten Trium-

phe zu feiern schienen, zeigte es sich, daß eine Reihe von Phänome- nen mathematischer Interpretation nicht zugänglich sind. Hierher ge- hörte z. B. die Beobachtung, daß der Zerfall der Radiumatome nur statistisch angegangen werden kann. Das Schicksal eines individu- ellen Atoms kann nie vorausgesagt werden.

Schließlich kam man zur Erkennt- nis, daß Voraussagen über die Be- wegung, individueller, subatomi- scher Partikeln im Prinzip unmög- lich sind. Dies kulminierte in Hei- senbergs Unsicherheitsprinzip, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, daß die Unfähigkeit des Phy- sikers, die Bewegungen individuel- ler subatomischer Partikeln vor- auszusagen darauf beruht, daß man die Bewegungen der Partikel beeinflußt, wenn man ihr bei der Beobachtung zu nahe kommt. Hei- senbergs Lebenswerk erlaubte ein viel tieferes Verständnis von Beob- achtungsvorgängen. Weitere Er-

kenntnisse auf diesem Gebiet wur- den durch die Quantentheorie ge- liefert, die eine der größten intel- lektuellen Errungenschaften aller Zeiten darstellt. Aus alldem ergab sich, wie J. A. Wheeler es aus- drückte, daß der Beobachter und das Beobachtete völlig unerwarte- te, engste Beziehungen zueinander haben. Das Quantenprinzip hat ein für allemal die Überzeugung zer- stört, daß das Universum von uns ungestört betrachtet werden kann.

Wir müssen das alte Wort Beob- achter durch das neue Wort Teil- nehmer ersetzen. Da es also er- scheint, daß wir selbst in der Er- schaffung des Universums teilneh- men, hat die wissenschaftliche Re- volution über eine gewaltige „Tour de Force" zur alten Erkenntnis ge- führt, daß der Mensch seine Götter in seinem eigenen Ebenbilde schafft.

II.

Zur Zeit, als die Physiker ein neues Universum schufen, ergaben sich Unstimmigkeiten im System der Mathematik (Bertrand Russel, Ge-

orge Cantor). Die tiefsten Untersu- chungen der axiomatischen Metho- den wurden von Kurt Goedel durch- geführt. Seine Einsichten über die Unentscheidbarkeit bestimmter Propositionen hat in Wheelers Worten die alten Grundlagen der Mathematik erschüttert. Goedels Beweisführung kann nur von zünfti- gen Mathematikern verstanden werden. Seine Folgerungen können jedoch in nichtmathematischer Weise ausgedrückt werden. Er zeigte, daß es unmöglich ist, ein System zu schaffen, welches genü- gend konsistent ist, das Gesamtge- biet der Arithmetik zu umfassen.

Man müßte dazu ein weiteres de- duktives Gebiet zu Hilfe nehmen, welches selbst von fraglicher Kon- sistenz ist. Jedes System, innerhalb dessen die Arithmetik entwickelt wird, ist seiner Natur nach offen.

Kein logisches System kann voll- ständig sein, was bedeutet, daß wahre Feststellungen gemacht wer- den können, die innerhalb des Systems nicht ersichtlich sind.

Goedel leitete davon ab, daß der menschliche Geist Fähigkeiten besitzt, die durch keine Maschine, die je gebaut werden könnte, er- setzt werden kann, weil der menschliche Intellekt im Gegen- satz zu jeder möglichen Maschine nie völlig formalisiert ist.

Obgleich Goedels Forderungen ei- gentlich nur für hochentwickelte lo- gische Systeme Geltung haben, scheint es, daß sie für das wissen- schaftliche Denken von tiefster Be- deutung sein müssen. Sie machen es nötig, unsere Vorstellungen über Kausalität von neuem zu untersu- chen.

Es ist offensichtlich, daß jedem Ge- schehen eine unzählige Zahl von Ereignissen vorausgeht. Das Indivi- duum muß diese dauernd analysie- ren und muß entscheiden, welche Ereignisse für das Zustandekom- men des beobachteten Gesche- hens von Notwendigkeit sind; das heißt, das Individuum muß subjek- tiv entscheiden, welche Ereignisse für das untersuchte Geschehen kausal sind. Emotionelle Momente sind also bei der Formulierung DEUTSCHES A.RZTEE1LATT Heft 19 vom 6. Mai 1976 1321

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Wissenschaft, Kunst und Religion

kausaler Ideen im Spiele. Da die Vorstellung des Individuums über Kausalität die Grundlage für seine Formulierung logischer Systeme bildet, spielen bei deren Schöpfung nichtlogische Faktoren mit. Deswe- gen ist der Glaube eine der Wur- zeln dessen, was wir als wissen- schaftliche Beobachtung ansehen.

Man muß daraus wohl schließen, daß der Biologe niemals ohne vita- listische Anschauungen auskom- men kann.

Die Auflockerung des starren De- terminismus des 19. Jahrhunderts war deshalb mit der Erkenntnis vergesellschaftet, daß Kausalität nicht ein unerschütterliches Sy- stem darstellt, das das Universum dominiert. Kausalität ist für uns Menschen ein wunderbares Werk- zeug, um nützliche Resultate zu er- halten. Diese Erkenntnis muß auch unsere Ansichten über Teleologie beeinflussen. Teleologie, die Me- thode aller Religionen, mußte na- türlich vom Phenomenalismus des 19. Jahrhunderts grundsätzlich ab- gelehnt werden. Genauer gesehen, sind Kausalität und Teleologie ähn- liche Werkzeuge um nützliche Re- sultate zu erhalten. Die Anwendung der jeweiligen Methode ist durch das Problem bedingt. Die Wissen- schaftler, die teleologische Kon- zepte ablehnen, sollten daran erin- nert werden, daß das Wort Evolu- tion schon teleologische Elemente in sich führt.

In der Biologie ist die Abhängigkeit von kausalen Überlegungen not- wendigerweise mehr ausgeprägt als in anderen Gebieten. Nichtsde- stoweniger erscheint es, daß auch die Biologie allmählich eine leichte Lockerung mancher starrer che- misch-physikalischer Erklärungen zu gestatten beginnt. Da demnach das wissenschaftliche Denken nicht mehr völlig in den materiali- stischen Ideen verwurzelt ist, die der Phänomenalismus des 19.

Jahrhunderts forderte, können wir uns jetzt der Frage zuwenden, ob vielleicht Ähnlichkeiten in der Art und Weise bestehen, wie wissen-

schaftliche, künstlerische und reli- giöse Gedankengänge entstehen.

Wir haben gesehen, daß jede Art intellektuellen Bestrebens auch nichtlogische Wurzeln hat, die dem Wissenschaftler, dem Künstler und dem religiösen Denker helfen, zu ihren Formulierungen zu gelan- gen. Gunther Stent hat dieses Pro- blem unserem Verständnis näher- gebracht.

Im Gegensatz zu populären Vor- stellungen werden große wissen- schaftliche Entdeckungen nur ganz selten vom gleichen Untersucher auf einmal gemacht. Selbst wenn dies gelegentlich vorkommt, dauert es lange, bis die offizielle Wissen- schaft sich mit solchen Entdeckun- gen abfindet. Im allgemeinen be- fassen sich Laboratorien in allen Ländern mit den gleichen, zeitge- bundenen Ideen; als Beispiel dafür könnte die derzeitige Einschätzung (oder Überschätzung?) der mole- kularen Biologie angeführt werden.

Es ist daher kaum verwunderlich, daß viele Untersucher die gleichen Fragestellungen bearbeiten, daß daher ganz ähnliche Entdeckungen von verschiedenen Laboratorien berichtet werden. Andererseits er- geben sich aber beim Arbeiten über die gleichen Fragen große Unterschiede in verschiedenen La- boratorien, was zeigt, wie stark die Persönlichkeit des individuellen Untersuchers die Antworten beein- flußt. Jede wissenschaftliche Lei- stung beinhaltet eben nicht nur Entdeckung, sondern auch Ele- mente von schöpferischer Erfin- dung und von Glauben im weite- sten Sinne.

Auch der Künstler arbeitet nicht in einem Vakuum. Wie der Wissen- schaftler sucht er Antworten zu zeitgebundenen Fragen. Während vieler Jahrhunderte bildeten reli- giöse Motive den Hintergrund künstlerischer Arbeit, und die glei- chen Leitmotive wurden immer von neuem behandelt. Später war es das gemeinsame Band von Im- pressionismus, Expressionismus usw., die die Künstler verbanden.

Wie die Wissenschaftler behandel- ten Künstler häufig das gleiche Ge-

biet; die Verschiedenheiten in den Bildern und Skulpturen sind der Ausdruck verschiedener Persön- lichkeiten.

Religiöse Gedankengänge sind ähnlicher Natur. Alle Religionen beinhalten ewige Ideen von Liebe und Haß, Schuld, Strafe und Beloh- nung, die zu Tabus in Beziehung gebracht werden, die unsere Trie- be begrenzen. In unserem Kultur- kreis sind die zehn Gebote viel- leicht das beste Beispiel für diese Zusammenhänge. Religion ist der dauernde Versuch, neue Antworten für die ewigen Fragen zu finden, und auch hier spiegeln die Antwor- ten die Persönlichkeit des Denkers.

Wissenschaft, Kunst und Religion sind demnach recht eng miteinan- der verwandt. In jeder Phase unse- res Handelns entnehmen wir klein- ste Teile aus dem Gewebe des Uni- versums und gestalten sie in unse- rem Ebenbild. Entdeckung und Er- findung sind fließend miteinander verkettet.

IV.

Die neue Einstellung gegenüber den Naturphänomenen machte es nötig, neue Theorien zu entwik- kein, wie unsere Rezeptoren (d. i.

unsere Sinnesorgane), die aus un- serer Umgebung stammende Reize an unsere Perzeptoren (d. i. unse- ren Geist) vermitteln. Es braucht wohl keiner weiteren Erklärung, daß von den unzähligen Reizen, denen unsere Sinnesorgane ausge- setzt sind, nur ganz wenige unser Gehirn erreichen. Die Psychologen des 19. Jahrhunderts nahmen an, daß die wenigen auserwählten Rei- ze unserem Gehirn wenigstens ein schattenhaftes Bild der Umweltrea- lität vermitteln, daß daher das Ge- hirn in der Lage ist, seine Entschei- dungen irgendwie auf dem Boden der Realität zu treffen.

Diese Theorie kann kaum mehr vertreten werden. Wir haben ge- lernt, daß die gleichen Umweltfak- toren (d. i. die Realitäten) von ver- schiedenen Kulturen in völlig ver- schiedener Form bewertet werden.

Die Auswahl der Reize, die dem 1322 Heft 19 vom 6. Mai 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen Wissenschaft, Kunst und Religion

Gehirn zugeführt werden, wird durch unsere Persönlichkeit be- dingt; sie ist es, die entscheidet, was wir schließlich als „Realität"

ansehen. Die moderne Psychologie schuf deshalb den Struktualismus, der nach Gunther Stent die Er- kenntnis beinhaltet, daß Wissen unseren Geist nicht unmittelbar er- reicht, sondern in bereits stark ab- strahierten Formen; diese werden als Strukturen bezeichnet. In dem vorbewußten Prozeß, in dem die Primäreindrücke unserer Erfahrung zurechtgeschneidert werden, ge- hen viele Eindrücke verloren, wo- bei die persönlichkeitsgebundenen Strukturen geschaffen werden. All dies klingt wie Montaignes Ideen.

Da unsere Persönlichkeit die Strukturen schafft, mit der wir un- sere Umgebung betrachten, ist es verständlich, daß der gleiche Um- weltreiz weitgehend verschiedene Strukturen in wechselnden Bewußt- heitszuständen hervorbringt, d. h.

daß Schlaf, Fieber, sexuelle Erre- gung, Trunkenheit usw. aus dem gleichen Reiz ganz verschiedene Strukturen schaffen. Der Drang nach Veränderung unserer Struktu- ren wird dadurch unterstützt, daß wir z. B. fasten, Drogen benützen oder eine wissenschaftliche oder künstlerische Leistung bewundern.

Das 20. Jahrhundert hat uns vom Determinismus des Phänomenalis- mus und vom Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion zur Auf- lockerung des Kausalprinzipes, zur Einschätzung der Persönlichkeit im Strukturalismus geführt und zur Er- kenntnis, daß Wissenschaft, Kunst und Religion aus den gleichen Wurzeln ersprießen. Das nächste Jahrhundert mag eine ungeahnte Ausdehnung des Verstehens der

Persönlichkeit bringen.

(Nach Vorträgen im „History of Pa- thology" Cyclus der Columbia Uni- versity und anläßlich des „Distin- guished Member Awards" der „Pir- quet Society of Clinical Medicine".)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Hans Kaunitz Columbia University

New York, N. Y. 10032 (USA)

Die von den Landesärztekammern erarbeitete und von der Bundesärz- tekammer zusammengestellte Sta- tistik über die Zahl und die Gliede- rung der Ärzte in der Bundesrepu- blik Deutschland am 1. Januar 1976 zeigt weiterhin eine starke Zunah- me der Ärzte: Die Zahl der Ärztin- nen und Ärzte hat um 4943 — das sind 3,67 Prozent — zugenommen;

sie betrug am Stichtag 139 472. Da die Anzahl der Studienplätze im Fach Humanmedizin in den letzten Jahren erheblich erhöht worden ist, darf auch in absehbarer Zu- kunft mit einem hohen Zugang an Ärzten gerechnet werden, zumal zur Zeit um einen Studienplatz sie- ben Bewerber konkurrieren. Die erstmals in dieser Statistik veröf- fentlichten Approbationszahlen der Jahre 1946 bis 1974 zeigen, daß sich der Zugang zum ärztlichen Beruf auf einem Niveau befindet, das jegliches Gerede von mögti- chen Unterversorgungen Lügen straft. In einer deutschen Großstadt soll es bereits 200 junge Ärzte ge- ben, die sich vergeblich um einen angemessenen Arbeitsplatz an ei- nem Krankenhaus bemühen.

Arztzahlen

Insgesamt waren am 1. Januar 1976 im Bundesgebiet einschließ- lich West-Berlin 139 472 Ärztinnen und Ärzte einschließlich Medizinal- assistenten bei den Ärztekammern gemeldet. Sie verteilen sich:

hauptberuflich im Krankenhaus 59 969 = 43,0%

in freier Praxis 53 303 = 38,2°/o in Forschung, Verwaltung und son- stiger abhängiger Tätigkeit

9 809 = 7,0%

ohne ärztliche Berufsausübung 16 391 = 11,8%

Summe 139 472 = 100,0%

THEMEN DER ZEIT

Arztdichte

Am 1. Januar 1976 hatte die Bun- desrepublik Deutschland rund 61,271 Millionen Einwohner, die von 123 081 berufstätigen Ärzten versorgt wurden. Daraus ergibt sich nachstehende Relationstabel- le:

1 Arzt: 439 Einwohner 1 berufstätiger Arzt 498 Einwohner 1 niedergelassener

praktischer Arzt: 2384 Einwohner 1 niedergelassener

Facharzt: 2417 Einwohner 1 niedergelassener

Arzt: 1150 Einwohner 1 Krankenhausarzt: 1022 Einwohner Die Einwohnerzahl in Relation zur Arztzahl gesetzt, ergibt im Jahre 1976 für das Bundesgebiet und West-Berlin (Medizinalassistenten und nichtberufstätige Ärzte mitge- zählt) ein Verhältnis von 1 Arzt : 439 Einwohner. Bei Außer- achtlassung der nichtberufstätigen Ärzte ändert sich diese Verhältnis- zahl auf 1 :498. Die Dichte der in freier Praxis niedergelassenen Ärz- te, denen die Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung obliegt, die fast sämtlich auch als Kassenärzte tätig sind und als sol- che die ambulante ärztliche Ver- sorgung der derzeit zu über 92 Prozent in der sozialen Kranken- versicherung versicherten Bevölke- rung gewährleisten, liegt 1976 bei (in der Folge gerundete Zahlen) ein Arzt : 1150 Einwohner.

Von den niedergelassenen Ärzten sind 50,4 Prozent praktische bezie- hungsweise Ärzte für Allgemeinme- dizin, so daß im Durchschnitt ein praktischer Arzt 2380 Einwohner zu versorgen hat. Die Zahl der nieder- gelassenen Fachärzte ist weiterhin

Die ärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland

Ergebnisse der Ärztestatistik zum 1. Januar 1976

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 19 vom 6. Mai 1976 1323

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