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Integrativer Behandlungsansatz bei chronischen Kiefer- und Gesichts­beschwerden

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Academic year: 2022

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ZUSAMMENFASSUNG

Die interdisziplinäre Schmerzsprechstunde am Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich feiert ihr 15-jähriges Bestehen. Der Artikel skiz- ziert den evidenzbasierten integrativen Behand- lungsansatz mit Fokus auf schmerzpsychologi- sche Aspekte. Ausgehend von der Patienten- symptomatik wird aufgezeigt, wie bei Bedarf eine schmerzpsychologische Behandlung die zahn- ärztlichen Massnahmen erweitert und wie diese konkret abläuft. Selbsthilfetechniken dienen

beispielsweise dem Abbau von Befürchtungen, Sorgen und Ängsten, die oft mit einer Tonuserhö- hung der Kaumuskulatur einhergehen. Letztere manifestiert sich klinisch in Form von Zähneknir- schen, Spannungsschmerzen im Gesicht und weiteren unspezifischen Symptomen wie Tinni- tus. Die Praxisrelevanz wird anhand von ausge- wählten Fallbeispielen aus dem klinischen Alltag illustriert.

SCHLÜSSELWÖRTER

Orofaziale Schmerzen, Kiefergelenk, Schmerz- psychologie, interdisziplinäre Behandlung

Manuela Brenz Nenad Lukic

Aleksandra Zumbrunn Dominik Ettlin

Universität Zürich, Zentrum für Zahnmedizin, Klinik für Kaufunktionsstörungen, Zürich

KORRESPONDENZ PD Dr. Dr. Dominik Ettlin Leiter, Interdisziplinäre Schmerzsprechstunde Klinik für Kaufunktions­

störungen

Zentrum für Zahnmedizin Universität Zürich Plattenstrasse 11 CH­8032 Zürich E­Mail:

dominik.ettlin@zzm.uzh.ch

Integrativer Behandlungsansatz

bei chronischen Kiefer- und Gesichts - beschwerden

Soziale Umstände

Emotionales Wohlbefinden Biologische

Prozesse

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Einleitung

Die interdisziplinäre Schmerzsprechstunde am Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich feiert demnächst ihr 15-jäh- riges Bestehen (Ettlin et al. 2007). In diesem Artikel möchten wir unseren integrativen Behandlungsansatz bei Kiefer- und Ge- sichtsschmerzen anhand von zwei exemplarischen Fällen aus der Alltagspraxis vorstellen. Integrativ bedeutet, dass zahnärztliche Massnahmen mit symptomorientiertem Behandlungsziel um psychologische Interventionen erweitert werden. Denn Studien und die klinische Erfahrung zeigen, dass bei anhaltenden Kiefer- und Gesichtsbeschwerden psychosoziale Faktoren hinsichtlich Verlauf und Prognose wichtiger sind als körperliche Symptome (Garofalo et al. 1998; Wright et al. 2004; Manfredini et al. 2013;

Slade et al. 2016). Bei näherer Betrachtung geht den körperli- chen Beschwerden vielfach eine relevante emotional-psychische Belastung bereits voraus (Durham et al. 2011). Deren frühzeitige strukturierte Erfassung ist daher geboten (Schiffman et al. 2014).

Betroffene berichten vermehrt über Ängste, depressive Verstim- mung und Schlafstörungen (Meira E Cruz et al. 2019). Schmerz- modulierende Faktoren bieten geeignete Ansatzpunkte für den Einsatz von selbständig durchführbaren Selbsthilfetechniken.

Bedeutsam ist dabei, dass die schmerzpsychotherapeutische Zu- weisung nicht stigmatisierend erlebt wird. Die praxisnahe Um- setzung erfolgt in Form ärztlich-psychologischer Kombinations- termine. In Zürich erlernen die Studierenden das entsprechende Vorgehen gemäss Expertenempfehlung bereits im Kurrikulum (Häggman­Henrikson et al. 2018).

Konkrete Umsetzung

Im Folgenden wird der stufenweise Ablauf der interdisziplinären Behandlung skizziert (Lumley & Schubiner 2019). Zur Priorisie- rung der Behandlungsschwerpunkte werden Betroffene bereits vor dem Ersttermin mittels einer webbasierten interdisziplinä- ren Symptomevaluation (WISE) bezüglich ihrer Beschwerden umfassend befragt (siehe Artikel zur WISE auf Seite 621) (Ettlin et al. 2016). Diese Information erleichtert die Triage hinsichtlich Bedarf an zahnmedizinischer bzw. schmerzpsychologischer Ex- pertise.

Bei der zahnärztlichen Erstkonsultation können allfällige Zusammenhänge zwischen Beschwerden und psychosozialen Belastungen aufgezeigt werden. Die zahnärztliche Aufgabe im Rahmen dieser Informationstherapie besteht darin, in laien- verständlichen Worten (allenfalls mithilfe von Skizzen) die bio- logischen Prozesse zu erklären, welche die Grundlage für die zahnärztliche Schmerztherapie bilden. Das Verständnis dieser Mechanismen sichert eine positive Einstellung der Betroffenen gegenüber indizierten Medikamenten und fördert damit die Compliance. Die Aufklärung dient u. a. auch dazu, dem ver- ständlichen Drang nach einer schnellen Lösung mittels (weite- rer) Interventionen entgegenzuwirken. Bereits von zahnärzt- licher Seite wird erläutert, dass Emotionen und Stress einen bedeutsamen Einfluss bei diffusen Schmerzen haben können.

Hinlänglich bekannt ist nämlich, dass die Emotionslage den Muskeltonus mitbestimmt und mit einer destabilisierten Schmerzschwelle einhergeht (Holstege 1992). Die gesenkte Schmerzschwelle als Ursache von Muskelschmerzen im Kopf- bereich wird durch ein Zusammenwirken von peripheren und zentralen neuroplastischen Mechanismen erklärt (Andersen et al. 2015; Hodes & Epperson 2019). Die Reproduktion der beklag- ten Schmerzen bei Muskelpalpation eröffnet die Möglichkeit zur plausiblen Überleitung zum Einbezug einer schmerzpsychologi- schen Expertise.

Im Rahmen der schmerzpsychologischen Beratung lässt sich das präsentierte Schmerzbild ganzheitlicher unter der Trias Kör- persymptom – emotionale Belastung – biografische Stressoren ein- ordnen. Der Abbau katastrophisierender Befürchtungen wird angeleitet mit dem Ziel einer emotionalen Stabilisierung ange- sichts störender Symptome und erschöpfender Lebensbelastun- gen. Die Wahrnehmung gesunder körperlicher und seelischer Anteile wird gefördert, was die Schmerzdistanzierung erleich- tert. Wenn Betroffene verstehen, dass das Schmerz erleben als Alarm- oder Stressreaktion der Entspannung entgegenwirkt, sind sie meist für Entspannungstechniken aufgeschlossen. Zum Einstieg bewährt sich ein diagnostisch-therapeutisches Bio feed- back-Assessment. Damit lassen sich physiologische Verände- rungen über das Elektromyogramm veranschaulichen. Übungs- blätter und Entspannungs-CDs motivieren zur regelmässigen Umsetzung im Alltag. Verläufe zeigen, dass zurückgewonnene psychische Stabilität den Umgang mit Schmerzen begünstigen.

Fallbeispiele

Folgende beiden Patientinnen meldeten sich mit denselben anhaltenden Hauptbeschwerden in der zahnärztlichen Praxis:

schmerzhafte Verspannungen im Kiefer- und im Nackenbereich sowie indolente Knackgeräusche in den Kiefergelenken. Im Rahmen der zahnärztlichen Informationstherapie wurden an- hand eines Modells die biologische Prozesse besprochen, die dem harmlosen Kiefergelenkknacken zugrunde liegen. Die Schmerzreproduktion durch Kaumuskelpalpation erhärtete die zahnärztliche Diagnose einer Myalgie. Zusammenhänge zwischen Beschwerden im Kauapparat und erhöhter Stressbe- lastung wurden aus zahnärztlicher Sicht angesprochen. Initiale Massnahmen umfassten Instruktionen zur Selbstbeobachtung (entspannte Kieferlage) und Kieferdehnübungen. Die schmerz- hafte Muskelpalpation in Kombination mit den psychometri- schen Werten der WISE führten zur Indikation des Einbezugs einer schmerzpsychologischen Expertise. Bei beiden Fällen standen belastende berufliche Kontextfaktoren im Zusammen- hang mit den Beschwerden. Die fallbezogenen Auffälligkeiten und entsprechende Empfehlungen werden nachfolgend vor- gestellt.

Fall 1

Kürzlich schloss die 27-Jährige ihre Ausbildung als onkologische Ernährungsberaterin ab. Die Berufsanforderungen überstiegen rasch ihre Belastungsgrenze, vornehmlich aufgrund von Selbst- behauptungsdefiziten und perfektionistischen Verhaltenszü- gen. Begleitend entwickelten sich die Hauptbeschwerden.

Einleitend wurde der Zusammenhang zwischen Stressbelas- tungen und Schmerzentwicklung reflektiert. Die symptombe- zogene Kurzintervention auf der Verhaltens-, Beziehungs- und Strategieebene umfasste:

1. diagnostisch-therapeutisches Biofeedback-Assessment zur Unterstützung der Wahrnehmung der entspannten Kiefer- haltung;

2. regelmässiges Umsetzen der Entspannung in Belastungs- situationen;

3. Vermittlung kommunikativer Fähigkeiten zur Selbstbehaup- tung, Abgrenzung und Aufmerksamkeitsumlenkung;

4. Selbstfürsorge mit Balance von Arbeit und Freizeitausgleich.

Bei der Nachkontrolle nach vier Wochen berichtete die Patien- tin über eine vollständige Remission und zeigte sich über den Erkenntnisgewinn sehr dankbar.

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Einwilligungen

Medizinische Informationen dürfen ausgetauscht werden: JA Anonymisierte Daten dürfen für die Forschung benutzt werden: JA Möchte über die Resultate informiert werden: JA

Bisherige Abklärungen und Behandlung

Diagnostik Abklärungen: nichts Diagnose: k

eine Behandlung Wirksamkeit Zahnschiene 2 / 10 Schmerzmedikamente Wirksamkeit Ibuprofen 400 seit 1.2.2017, 3×/Woche 6 / 10 nicht medikamentös behandelte Krankheit(en): Hypothyreose

Assessments

Zusätzliche Fragebogen Score Pain Catastrophizing Questionnaire 13/ 52 Migraine Screener 1/ 3 Jaw Function Questionnaire 2/ 22 Restricted Jaw Mobility / 10 Dietary Limitations 1/ 10

Beeinträchtigung Kiefer

Einschränkungen/Schmerz bei Mundöffnung oder -schluss

1/ 2

Einschränkungen/Schmerz beim Abbeissen/ Kauen/Trink

en/Sprechen 1/ 2 Knackgeräusche 2/ 2 Andere Beeinträchtigungen Sorgen über Hauptbeschwerden 1/ 2

Beeinträchtigung (Checkliste)

Beeinträchtigung Gesicht/Kopf Zahn-/Mundschmerz (z. B. Zahnfleisch, Zunge) 1/ 2 Kiefer-/Gesichtsschmerz bzw. Spannungsgefühl 2/ 2 Kopfschmerz 2/ 2

Parafunktionen Zähneknirschen/Zähnepressen 2/ 2 Zungenpressen 2 / 2 ein Blasinstrument spielen 2/ 2 Schmerzqualität bei Beginn: jetzt:

dumpf-drückend, zermürbend, quälend Schmerzstärke: häufigste 4, maximale 7, erträgliche 2 Zeitmuster Zeit

Schm erzin ten sitä t

1010 55 00 66121218182424 1) Dauerschmerzen mit leichten Schw

ankungen Dauer: länger als 6 Monate bis zu 2 Jahren Beginn: schleichend

Hauptbeschw erde

Knirschgeräusch Hauptbeschwerde: Schmerzen im Kiefergelenk-Bereich sowie in der Kaumuskulatur, oft auch davon ausgehend Kopfschmerzen. Hauptbeeinträchtigung: ich kann alles tun, nehme teilwei- se bei starken Kopfschmerzen Schmerzmittel, hatte auch schon Mühe/Schmerzen beim Kauen und es hat dann wie blockiert und ich konnte den Mund nicht so weit öffnen wie normal. Erwartungen: möchte wissen, ob und was ich gegen die Schmerzen unternehmen kann (etw. Wirksames) und ob allenfalls eine Arthritis daraus entstehen kann. Modulatoren:verstärkend: Schlafen, Konzentration bei Arbeit; lindernd: Massage, Voltaren Gel, wärmen oder auch kühlen, Schmerzmittel, wenn Schmerzen so vorhanden, dass ich sie als störend empfinde, kann ich keine lindernde Haltung einnehmen bzw. weiss ich nicht in welcher Posi- tion mein Kiefer entspannt ist.

Geschlecht: F,Alter: 27, Grösse: 165, Gewicht: 60, BMI: 22 Beruf: Ernährungsberaterin BSc BFH (angestellt zu 100%) Zuweiser: Dr. XY Hausarzt: Dr. XY Gewohnheiten: Nichtraucher/trinkt nicht täglich Alkohol

Single Case Summary Report: ef3c57c6d7 / 2019-02-15 Abb. 1 Bei den Hauptbeschwerden kennzeichnet die Patientin diejenigen Stellen rot, die von Schmerzbeschwerden erfasst sind (Unterkiefer und Schulter­, Nackenbereich beidseits). Das Zeitmuster bezeichnet einen Dauer­ schmerz, der am Morgen sehr stark ist, zum Mittag hin abnimmt, der dann am Nachmittag und Abend wieder verstärkt wahrgenommen wird bis 8/10 auf der numerischen Schmerzskala. Mittels einer Checkliste wurde die Beeinträchtigung von kursorisch erfragten Symptomen mit den Optionen «keine», «wenig» (1/2) oder «stark» (2/2) ermittelt. Die weiterführende Befragung mittels validierter Fragebögen ergab nur gering erhöhte Werte für Schmerzkatastrophisierung, Migräne und Kieferfunktion.

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Einwilligungen Medizinische Informationen dürfen ausgetauscht werden: JA Anonymisierte Daten dürfen für die Forschung benutzt werden: NEIN Möchte über die Resultate informiert werden: JA Bisherige Abklärungen und Behandlung Diagnostik Abklärungen: von ca. 2 Wochen: Zahnarzt, Röntgenbild Zähne Hausarzt: Bluttest, halbe Laktoseintoleranz, Eisenwert tief

Diagnose: halbe Laktoseintoleranz Beste Erklärung f

ür ihre Hauptbeschwerden: Laktoseintoleranz und Kreuzbiss, Nackenschmerzen Behandlung Wirksamkeit Zahnbehandlung 1/ 10

Assessments Zusätzliche Fragebogen Score Graded Chronic Pain Scale – Head 3/ 6 Graded Chronic Pain Scale – Body 2/ 6 Pain Catastrophizing Questionnaire 41/ 52 Migraine Screener 2/ 3 PHQ Stress 10/ 20 GAD7 Generalized Anxiety Disorder 10/ 21 Injustice Experience Questionnaire 33/ 48 Dysmorphic Concern Questionnaire 14/ 23 Illness Perception Questionnaire 47/ 80 Andere Beeinträchtigungen Sorgen über Hauptbeschwerden 2/ 2 Vermehrte Müdigkeit/Energielosigkeit/ ungewollter Gewichtsverlust 2/ 2 Schnarchen/Atemaussetzer im Schlaf 1/ 2 Schwindel, Übelkeit, Ohnmachtsanfälle, Kurzatmigkeit, Herzklopfen 1/ 2

Zeitmangel, Arbeitsstress, Betreuungsaufgaben, finanzielle Probleme

2/ 2 Fehlende Unterstützung, Konflikte, Alleinsein 1/ 2 Unterschiedliche Meinungen verschiedener Behandler oder nicht Ernst genommen 1/ 2 Belastende Lebensereignisse: Kranke Mutter aktuell 2/ 2 andere Probleme 1/ 2

Beeinträchtigung (Checkliste)

Beeinträchtigung Gesicht/Kopf Zahn-/Mundschmerz (z. B. Zahnfleisch, Zunge) 2/ 2 Kiefer-/Gesichtsschmerz bzw. Spannungsgefühl 2/ 2 Kopfschmerz 2/ 2 Beeinträchtigung Kiefer Kiefergelenkgeräusche (z. B. beim Gähnen, Kauen) 1/ 2 Zahnstellung, Kieferposition, mein Aussehen 2/ 2 Mundtrockenheit, Mundgeruch, Schluckbeschwerden 2/ 2 Ungewohnte Empfindungen in Mund, Lippen oder Gesicht1/ 2

Schmerzqualität bei Beginn:furchtbar-schauderhaft, erschöpfend, quälend, pochend-klopfend jetzt: dumpf – drückend, ziehend, furchtbar – schauder- haft, erschöpfend Schmerzstärke: häufigste 3, maximale 8, erträgliche 0 Zeitmuster Zeit Schm erzin ten sitä t

1010 55 00 66121218182424 1) Dauerschmerzen mit starken Schwankungen Dauer: länger als 6 Monate bis zu 2 Jahren Beginn: schleichend

Hauptbeschw erde

Hauptbeschwerde: Nackenschmerzen bis zur Schulter und weiter. Unruhe im unteren Kiefer bis zum Hals sowie Brust. Hals nicht aufrecht halten können. Schlafstörungen. Bauchschmerzen (Blähgefühl). Hauptbeeinträchtigung: Schlafen und zum Teil arbeiten. Erwartungen: Notwendige Therapie oder Kiefer-Zahnpro- these. Modulatoren:verstärkend: Seelische Belastung, Stress; lindernd: Wenn es wenig ist: hinlegen, ausruhen. Wenn es stark ist: Schmerzmittel und Massage an Hals, Nacken, Kiefer Parafunktionen Zähneknirschen/Zähnepressen 1/ 2 Zungenpressen 2 / 2 Geschlecht: F,Alter: 34, Grösse: 174, Gewicht: 57, BMI: 19 Beruf: Maschinenführerin (Anlernen) (angestellt zu 100%) Zuweiser: Dr. XY Hausarzt: Dr. XY Gewohnheiten: Raucher: 12 pack year (py)/trinkt nicht täglich Alkohol

Single Case Summary Report: ef3c57c6d7 / 2019-02-15 Abb. 2 Bei den Hauptbeschwerden beschreibt die Patientin diejenigen Stellen, die von Schmerzbeschwerden erfasst sind (Unterkiefer und Schulter­, Nackenbereich beidseits). Das Zeitmuster bezeichnet einen fluktuierenden Dauerschmerz, der am Morgen moderat ist und im Tagesverlauf bis auf 8/10 auf der numerischen Schmerzskala ansteigt. In der Nacht sind keine Schmerzen vorhanden. Mittels einer Checkliste wurde die Beeinträchtigung von kursorisch erfragten Symptomen mit den Optionen «keine», «wenig» (1/2) oder «stark» (2/2) ermittelt. Die weiterführende Befragung mittels validierter Fragebögen ergab erhöhte Werte für Schmerzkatastrophisierung, Migräne, chronische Schmerzerkrankung Kopf und Körper, Ungerechtigkeitserfahrung, Angststörung und dysmorphe Beschwerden.

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Fall 2

Die 34-Jährige verrichtete eine langjährige Fliessbandtätig- keit in der Schokoladenproduktion. Anhaltende Schmerz- beschwerden im Schulter-/Nackenbereich und eine zuneh- mende depressive Stimmungslage führten zu mehrmonatiger Arbeitsunfähigkeit. Im Rahmen der beruflichen Wiederein- gliederung trat sie eine Servicetätigkeit an. Hier kam es rasch zu Zeitdruck, u. a. durch Abgrenzungsdefizite und ein hohes Anerkennungsbedürfnis. Diese Umstände begünstigten einen Circulus vitiosus aus Überforderung, schmerzhaften Muskel- verspannungen und psychischer Instabilität. Erschwerend waren biografische Aspekte mit häufigen Neuanfängen durch Wohnortswechsel und nicht überwundene Entwurzelung aus ihrer ursprünglichen Heimat.

Im Rahmen der Informationstherapie wurde einleitend er- läutert, dass keine Schmerzursache im dentalen Bereich vorlag.

Vielmehr seien die Schmerzempfindungen im Zahn-/Kieferbe- reich eine Folge von Ausstrahlungsschmerzen mit muskulärem Ursprung. Die symptombezogene Intervention bezog sich wie folgt auf die Verhaltens- und Strategieebene:

1. einfache Erklärung des Zusammenhangs von Überforderung, körperlicher Anspannung und Beschwerdebild;

2. Abbau katastrophisierender Befürchtungen bezüglich pro- gressiver Erkrankungen im Kieferbereich;

3. Selbstbeobachtung, Kieferlockerungsübungen und progres- siver Muskelrelaxation (PMR) zur Reduktion unbewusster Muskelverspannungen;

4. aktive Stressbewältigung u. a. mittels Wiederaufnahme früherer Aktivitäten wie z.B. Schwimmen;

5. Überweisung an Hausarzt zur Organisation der weiter- führenden psychosozialen Betreuung.

Verfügbarkeit

Die WISE ist derzeit über jeden üblichen Browser über folgen- den Link unentgeltlich zugänglich: https://open-wise.heal- yourself.com/limesurvey/index.php/261356?lang=de. Zur Ein- sehbarkeit des Übersichtsrapports nach dem Ausfüllen ist es zwingend notwendig, dass die Zeile mit dem Uniform Resource Locator (URL-Zeile) kopiert und gespeichert wird (Abb. 3). Bei Verlust dieser Information ist eine Rekonstruktion des Über- sichtsrapports unmöglich.

Fazit

Bei gleichem Beschwerdebild gewährleisten die differenzierte Evaluation der psychosozialen Belastungen und der integrative Therapieansatz den nachhaltigen Behandlungserfolg. Allen Be- handelnden bietet die WISE gerade in Pandemiezeiten umfas- sende und personalisierte Informationen in übersichtlicher Form, was die Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit

im Rahmen telemedizinischer Beratungen erhöht, wie die Autorinnen und Autoren selbst erfahren konnten.

Abstract

Brenz M, Lukic N, Zumbrunn A, Ettlin D:Integrative treatment concept for chronic orofacial pain and temporomandibular disor- ders (in German). SWISS DENTAL JOURNAL SSO 130: 593–598 (2020)

The interdisciplinary Orofacial Pain Unit at the Center of Dental Medicine of the University of Zurich celebrates its 15th anniversary. This article outlines the evidence-based inte- grative treatment concept with a focus on psychosocial aspects of pain. We exemplify how the evaluation and treatment by a pain psychologist complements the dental therapy. For exam- ple, self-management techniques can assist in reducing appre- hension, worries and fears, which are often associated with an increased tone of the masticatory muscles. Manifestations in- clude clenching and grinding of teeth, orofacial pain, and other less specific symptoms such as tinnitus. The clinical relevance is illustrated by selected case studies from routine clinical practice.

Abb. 3 Die Zeile mit dem Uniform Resource Locator (URL­Zeile) wird am Schluss der Befragung präsentiert und die Speicherung einer Kopie davon ist zur wiederholten Einsehbarkeit des Übersichtsrapports notwendig.

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Literatur

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Referenzen

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