Ueber
graue Degeneration
der
hintern Rückenmarksstränge.
Inaugural
-Dissertation
der
medicinischen Facultät zu Erlangen
vorgelegt
von
Dr. Otto Frohwein.
Erlangen.
Druck der Universitäts-Buchdruckerei von E. Th. Jacob.
1865.
'
Meinen hochverehrten Lehrern, den Herren
Professoren Dr. Ziemssen und Dr. Zenker
erstatte ich für die freundlicheUnterstützung, welche mir
dieselben bei
Bearbeitung vorliegenden Themas
zu
Theilwerden Hessen
,
meinen verbindlichsten
Dank.
» eranlassung zu dieser Dissertation
gaben
mir zweiin hieser Stadt beobachtete Krankheitsfälle, von denen die
genaue Untersuchung des
Rückenmarks
möglich war.Der
eine dieser Fällewurde im
hiesigenUniversitäts- krankenhause, der andere in der Privatpraxis behandelt;die Krankengeschichte des letztem Falls verdanke ich der gütigen Mittheilung eines mir befreundeten praktischen Arztes dahier.
Als Grundlage meiner Betrachtungen dienten mir
: folgende Arbeiten:
Die graue Degeneration der hintern
Rückenmarks-
stränge von Dr. E.
Leyden.
Hasse
über Nervenkrankheiten inVirchows
Pa- thologieund
Therapie.Eisenmann
über Rückenmarkskrankheiten inCann-
statts Jahresbericht 1863. III. B.
Rühle,
klinische Mittheilungen überRückenmarks-
krankheiten in den Greifswalder medicinischen BeiträgenI 1863. I. B.
° Dr.
Bönings Beobachtungen
über die progressive1
Bewe
gnngsataxie in der „Deutschen Klinik“ 1865. Nr. 1 u.ff.—
6 >©»<—
Das
Studium der Rückenmarkskrankheitenwar
bisEnde
des vorigen Jahrhunderts sehrwenig
ausgebildet,obwohl
schonHippokrates, Galen und Celsus Rü-
ckenmarkskrankheiten kannten.Die Bezeichnung einer dieser Krankheiten als Tabes dorsalis wird sogar schon
dem Hippokrates
zugeschrie- ben, welcher dieselbe auf Excesse in venere zurückführteund
alsSymptom
leichten spontanenSamenabgang
beim Urinirenund beim
Stuhlgang angab.Erst
im Anfang
dieses Jahrhundertsnahm
jedoch dasStudium
der Rückenmarkskrankheiten einengrossem
Auf-schwung und
derName
Tabes dorsaliswurde
in Deutsch- land ein fast populärer Begriff, unterwelchem
Krankheits- bilder ohne bestimmten Charakterund
ohne eine sichere pathologisch-anatomische Grundlage zusammengefasst wur- den. Erst etwas späternahm man
an, dass es sich bei dieser Krankheitum
eine Atrophie desRückenmarks
handle.%
So rechnete z. B.
Wenzel
in seinemWerke
überRücken-
markskrankheiten (1824) unter Tabes dorsalis nur solche Fälle, bei denenohne
sichtlicheAbweichung
von der na- türlichenForm
desRückenmarks
doch vorzüglich ein Lei- den desselben besteht, das in einem krankhaften Schwin- den desRückenmarks
seinenGrund
haben müsse. Allge-gemein wurde nun
eine Atrophie desRückenmarks und
besonders ein Schwinden,Dünnerwerden
derCauda
equina alsGrund
der Tabes dorsalisangenommen.
Dr.Stein
-thal
giebt z. B. folgende Definition: „Tabes dorsalis, Atro- phia medullae spinalis, Rückendarre ist in ihrer reinen einfachenForm
die durch einen organischen Krankheits- process desRückenmarks
zu Standegekommene
Zehrung desselben“.Für
Tabes dorsalis tauchten auch andereNamen
auf; so wählte
Wunderlich
die Bezeichnung: „pro- gressive spinaleLähmung“.
In Frankreich,wo
besondersOlli
vier
alles über Rückenmarkskrankheiten Bekannte sammelte, nannteman
siespinale Paralyse, Paraplegie etc., bisim
Jahre 1858Duchenne
eine nach seinerMeinung
neue Krankheitsform schilderte, die er Ataxie locomotrice progressive benannte.
Das Wesen
dieser Krankheit sah er in einer Störung der Coordination derMuskelbewegungen
und verlegte denGrund
zur Ataxie ins kleine Gehirn, weil er bei seinen Untersuchungen fand, dass die Kraft und Reizbarkeit derMuskeln
erhalten seiund
dass dieStörung in einem Verluste der Fähigkeit beruhe, die
Muskeln zu beabsichtigten
Bewegungen
gehörig zu ge- brauchen.Diese Lehre
Duchenne’s gewann
inFrankreich gros- sen Anklang, besondersTrousseau
breitete dieKennt-
niss derselben weiter aus
und
gab ihr sogar denNamen Maladie
deDuchenne.
Obwohl
in FrankreichDuchenne
der Erste war, der die Ataxieam
genauesten beobachteteund dem
das Verdienst gebührte, die Erhaltung der Muskelkraft bei der- selben genau nachgewiesen zu haben, sowar
doch diese Thatsache schon vorihm
in Deutschland bekannt.Wun-
derlich
sagt 1853 bei Beschreibung der progressiven spinalenLähmung:
„dieBewegungen
der untern Extre- mitäten zeigen, ohne an grober Kraft zu verlieren, eine eigenthümliehe Unsicherheit“.Dass die Motilitätsstörung bei der Ataxie auf
dem Mangel
an Coordination derBewegungen
beruhe,war
schon vondem
EngländerTodd
1847 erkannt worden;derselbe stellte die
Hypothese
auf, dass diehinternRücken-
marksstränge der Coordination derBewegungen
vorstüuden.Trousseau
erklärt die Ataxie für eine spasmodische Neurose, welche durch denMangel
an Coordination will- kührlicherBewegungen
charakterisirt ist, häufig mit Sen- sibilitätsstörungenund
partiellen Paralysen complicirt wirdund
eine Alteration desRückenmarks und
der hinternWurzeln
zur Folge hat.Die Ansicht
Duchenne’s,
dass der Sitz der Ataxieim
kleinen Gehirn seiund
dass diese Krankheit nur eine funktionelle Störung wäre,wurde von Bourdon und
an- dernFranzosen widerlegt, die bei Fällenvon
Ataxie, welche zur Section kamen, nichts Wesentlichesim
kleinen Gehirn fanden,dagegen
graue Degeneration der hinternRücken-
marksstränge.Die Ataxie ist
nach
der ursprünglichen Ansicht eine rein funktionelle Krankheit, siekann
auch ohne Degene- ration der hintern SträngeVorkommen. Da
jedoch inmehreren
Fällen Degeneration desRückenmarks
gefunden wurde, so halfman
sich damit, dass die Degeneration die schliessliche Folge der funktionellen Störung sei.Bei der Tabes dorsalis
dagegen
ergaben nachRom-
berg
alle Sectionen übereinstimmend partielle Atrophieen desRückenmarks,
zuweilen allein der hintern Strängeund Wurzeln
(ebensoRokitansky und Virchow). Nach
der Ansicht
von
Dr.Böning
(s. deutsche Klinik 1865) liefert die progressive Bewegungsataxieim
Grossen undGanzen
ein derTabes dorsalis sehr ähnliches Krankheitsbild.Die
Symptome
der Tabes dorsalis aberhaben
vonAnfang
an ihre Ursache in der anatomischen Destruction desRückenmarks und zwar
in irgend einem ihrer Faser- züge; die Funktionsstörung bei der Ataxie dagegenkann ohne
nachweisbare anatomischeVeränderung
bestehen, nur in ihrem weiteren Verlauf pflegt sie sich mit degenera- tivenVeränderungen
der Medullaund
zwardann
constant mit denen der Hinterstränge zu verbinden.Böning
siehtin der Tabes dorsalis ein symptomatisches, in der Ataxie ein ideopathisclies Leiden, in der Tabes
von Anfang
andie
Symptome
einer anatomischenDestruction, in derAtaxie eine ideopathische Neurose, die Folge einer molekularen—!*®° 9 c€^<—
Veränderung.
Er
hält bei der Tabes eine Restitution der Funktionen für unmöglich, bei der Ataxie wenigstens inihrem Anfangsstadium eine Heilung für möglich.
Er räumt
ein, dass nur die terminalen
Vorgänge
der Ataxie anato- misch mit der Tabes identisch sein können.—
Man kann
Tabes dorsalisund
Ataxie nichtohne Wei-
teres identificiren, da beide Krankheiten nicht hinreichend scharf characterisirt sind.
Aetiologie der grauen Degeneration der hintern Rückenmarksstränge
:
Die Degeneration steht in
keinem Zusammenhang
miteiner vorausgegangenen Verletzung des
Rückenmarks. —
Als veranlassende
Momente
führtCar
re auf: Erblichkeit, Excesse in Venere, körperliche Strapazen, deprimirendeGemüthsbewegungen,
rheumatische Einflüsse, Syphilisund
Pellagra (letzteres nachHarne au und Bouchard).
Nach Hasse
1) übermässiger Geschlechtsgenussund
OnaniebeiMännern
; 2) zahlreicheund
kurz hintereinander sich folgende Geburtenund
Lactationen beiWeibern;
3) übermässige Muskelanstrengungen; 4)
am
häufigsten vielleicht Erkältungen, besondersUnterdrückung
von Fuss- schweissen.Nach Türk
vorausgegangeneEntzündungen
der Rückenmarkshäute.Hasse und Friedreich
führen auch hereditäre Einflüsse an.Nach Rühle
ist die Aetiologie dieserKrankheit völlig unklar, nur will er die Einflüsse der
Ona-
nie und eines zu häufig oder mit zu grossen Anstrengun- gen verübten Coitus als Ursache nicht von der
Hand
weisen.
Pathologische Anatomie:
Die pathologische Ver-änderung
besteht in einer Atrophie, die sichselten durch
die ganze
Länge
desRückenmarks
erstreckt, niemalsund
an keiner Stelle aber durch die ganze Dicke desselben.
—!-@o 10 °@"f—
Meist sind einzelne Stränge ergriffen,
am
häufigsten dieHinter-
und
Seitenstränge. Die Entartung ist in der Re- gel derLänge nach
ununterbrochenund
stellt sich in derForm von
graulichenund
gelben Streifen dar mit oft gallertartigemAussehen, aber meist sehr derber Consistenz;die graue Substanz leidet
am
wenigsten. In den erkrank- ten Marksträngen sind die Fasernzum
Theil zertrümmert oder ganzverschwunden und
istdafür theils eine feingranu-lirte, theils eine gleichmässige, grauliche, gallertartige oder derbe Substanz mit eingestreuten kleinen länglichen Ker-
nen
an ihre Stelle getreten. Bisweilen finden sich auch Körnchenzellenund
amyloide Körper.Nach Rokitansky
besteht die ganze Entartung wentlich in einerWucherung
der Bindesubstanz, durch welche die Nervenelementezusammengedrückt,
zertrüm- mert, vernichtetund
zurAbsorption gebracht werden. Die ausdem
erkrankten Antheil der Medulla heraustretendenNervenwurzeln
erscheinen blassröthlich mit schwindender Weisse, durchscheinend, markleer, dünn, Bindegewebs- fäden gleich. R. glaubt, dass dieseWucherung
des Binde-gewebs im Rückenmark
durch protrahirte oder wieder- holteHyperämien
hervorgerufen werde.Fried reich
giebt folgenden Sectionsbefund an:Helles
Serum im
Sack derDura
mater,Trübung
der Pia,die verdickt
und
mit der Hinterfläche desRückenmarks
verwachsen ist. Die hintere Fläche desRückenmarks
istrinnenförmig eingesunken. Die Hinterstränge sind atro- phisch, graulich durchscheinend, fester, derber
und
zeigen in den grauen entarteten Partieen statt der Nervenfasern i ein sehr zartes feinfaseriges Bindegewebe, ausserdem eine sehr feinkörnige, grauliche, granulöse Grundsubstanz mittheils runden, theils ovalen,
2— 4
Kernkörperchen enthal- tenden Kernen.Man
findet keine Spurvon
fettiger Eut-— 11 °<&*—
artuug, dagegen in der Grundsubstanz kolossale
Massen
I
Corpora amylacea.
Mr.
Luys
fand dieDura
desRückenmarks
verdickt und stark vascularisirt, desgleichen die Pia besondersim
untern Drittel des
Marks und am
meisten den Hinter- strängen entsprechend; diesen ist die Pia fest adhärenti so dass sie nicht abgezogenwerden
kann, ohneFragmente
, des
Nervengewebs
mitzunehmen. Die hinteren Stränge: sind von gelblich ambrafarbner glasiger Beschaffenheit,
' etwas weicher als normal. Die Degeneration erreicht ihr
i
Maximum
in derLumbalgegend,
setzt sich aber fort aufi die Dorsalgegend genau den
Raum
zwischen beidenHin-
] terhörnern innehaltend. Die besondere
Färbung
verdankendie Hinterstränge der
Umwandlung
der siezusammen-
setzenden Nervenfasern.
Der
grösste Theil derselben istj'; in der That verschwunden, als Spur
von
ihnen fandman
nur
noch
leere Scheiden mitzusammengelegten Wandun-
gen. Die Seiten-
und
Vordersträngewaren vollkommen
intact.
Auch
die Nervenzellen willLuys
stellenweise zer- stört gefunden haben.Microscopische Untersuchung: Beim
Abschneiden kleiner Stücke der degenerirten grauen Substanzmacht
sich nach
Leyden
eine ziemlich beträchtliche Elasticitätund
Zähigkeit besondersbeim
Zerzupfen bemerkbar.Un-
ter
dem
Microscop ist die grosseArmuth
an Nervenele- menten auffallend.Man
sieht eine durchscheinende, fast
homogene,
leicht streifige, mit körnigenElementen
ge- trübte Grundmasse, in der zerstreute Ueberrestevon
Ner- ven erkannt werden. DieNerven werden um
so spar- samer, jemehr man
sich der Peripherie nähert.3
An
denG
efässen fandenC h
ar cotund V
u1pian
enorme fettige Entartung, auchRühle
fand die fettig entarteten Gefässe zuweilen wie schwarzkörnige Schläuche vollkommen undurchsichtig erscheinend.—k5)o 22 *&+
Die Corpora amylacea, kleine
homogene
perlmutter- ähnliche Körperchen, sollen iu den Fällen, in welchen dieDegeneration
noch
nicht so weit vorgeschritten ist,am
zahlreichsten
Vorkommen und dann
namentlich an der Peripherie, nächstdem neben den Gefässen angehäuft sein.Die hintern
Wurzeln
zeigen ebenfalls wie die hintern Stränge dasselbe graue durchscheinende Verhaltenund
sind
mehr
oder minder verarmt an normalen markhaltigen Fasern.An
den Extremitätenmuskeln fandVir chow Schwund
der Muskelbündel
und
Neubildung von Fettzellen, haupt- sächlich an den untern Extremitäten.Symptomatologie.
1)
Symptome im
Bereiche der Sinnesnerven: Bei der grauen Degeneration der hintern Rückenmarksstränge tre- ten bisweilen Störungenim
Gesichtssinn auf, als Doppelt- sehen, Paresen desNervus
abducensund
oculomotorius, Kleinerwerden der Augenspalte, in höhern Graden Stra- bismus,Amaurose
bedingt durch Atrophie des Sehnerven, Ptosis palpebrae sup.2) Excentrische Schmerzen: neuralgische
Schmerzen
in den Gliedern, Gefühl
von
Ameisenlaufen oder Kriebeln inZehen und
Fingern; schmerzhaftesDurchzucken
der Beine, nachR
om
berg blitzähnlichdurchfahrendeSchmer-zen. Diese
Schmerzen
gehen lange Zeit derLähmung
voraus, treten paroxysmenweise auf und verschwinden ohne eine
Spur
zu hinterlassen; desshalb werden sie auch an- fangsvon
denKranken
häufig übersehen.Es
ist keineRöthung,
keine Geschwulst, keine Empfindlichkeit gegenDruck
an der schmerzhaften Stelle zu finden;Druck
er- leichtert sogar den Schmerz, ebenso Ruhe, dagegen macht ihnBewegung
heftiger. DieSchmerzen
sind nicht an—
>^)° 1 3—
einen bestimmten
Nerven
gebunden, sondern springen aufdie verschiedensten Stehen über,
vom
Fuss auf den Ober- schenkel, die Schultern etc. Diese allgemeine Verbreitung derSchmerzen
weist auf dasRückenmark
als die Quelle hinund
zwar auf eine Affection der sensiblen Partieen desselben. Die Hartnäckigkeitund
die häufigeWiederkehr
der
Schmerzen
lässt einen chronischen hartnäckigen orga- nischen Process annehmen. Mit der Zeit trittAbnahme
der Gefühlsschärfe ein, die sich allmählich steigert; daraus
kann man
auf einen Verlust an sensiblen Nerven, auf eine Atrophie der sensiblen Partieen desRückenmarks
d. i.i seiner hintern Stränge
und Wurzeln
schliessen. Hiezukommt
noch das Gefühl derZusammenschnürung
oder! eines
um
den Leib gelegten Reifens, das sogenannte Gür- telgefühl, einSymptom,
dasRomberg
vorzüglich her-’ vorhob.
3) Störungen der Sensibilität: Die Gefühlsschärfe ist
• ; vermindert, das Hautgefühl ist herabgesetzt, abgestumpft
:
!
und macht
sich zuerst bemerklich als ein Gefühl vonTaub-
. heit, Pelzigsein der Fusssohle, als träte der Fuss aufMoos,
i, Watte, weichen
Sand
u. dergl.Aehnliche Gefühle
von
Taubheit erscheinen später auch in den Händen. Die Gefühlslähmung istam
be-deutendsten
am Ende
der Extremitäten, an denZehen und
Fingernund nimmt
weiter hinaufgegen
denRumpf
zu ab.Nur
in den höchsten Graden der Affectionwerden
selbst tiefe Nadelstiche nicht
mehr
percipirt.Die Deutlichkeit der Tastempfindung leidet meist schon früh, die
Kranken können kaum
harte von weichen Gegenständen durch das Gefühl unterscheiden. Auffallendist nach den Untersuchungen
Eigenbrodt’s
die Parese des Druckgefühls.Er
führt einen Fall an, inwelchem
J
ein Kranker,wenn
er Gewichte mit denHänden
aufhob, jfcganz gut den Unterschied zwischen ein paar Lothen er-—
>-@o 14 °<sx-kannte, der aber mit geschlossnen
Augen
nicht angeben konnte, obman
5Pfund
oder gar Nichts auf seine Finger gelegt habe.Nach Benedikt
leidet die Empfindungsfähigkeit fürDruck
oftunabhängig von
der Berührungsempfindlichkeit.Die Patienten
können nach ihm, wenn man
ihre Füssez. B. leicht berührt, dieses verspüren, ohne zu fühlen, dass
man
sich ein anderesMal
mit der ganzenWucht
des Körpers auf sie stellt.Da
das Gefühl des Drucks dasselbe ist, wie das des Widerstands äusserer Gegenstände, so ergeben sich aus deroben
angeführten Gefühlsstörung weitere erklärende Thatsachen.Das
sichereGehen
beruhtzum
grössten Theil aufderEmpfindung
des Widerstands, den derBoden
bietet; istnun
dieseEmpfindung
gestört, ist die Muskelsensibilität (nachBöning)
vermindert, so wird derGang
unsicher,, derBoden
scheint zuschwanken
oder nachzugeben. Diessist besonders der Fall,
wenn
der Gesichtssinn nicht zu Hülfegezogen
wird, es trittSchwanken im
Finstern oder bei geschlossenenAugen
ein, einSymptom,
dasvon Rom- berg
als besonderspathognomisch
hervorgehoben wurde.Auch
in den obern Extremitätenmacht
sich jene Störung geltend. DieKranken können
nur mit der gröss- tenAufmerksamkeit
desAuges
grössere Gegenstände, na- mentlichwenn
sie glatt sind, mit denHänden
halten, weil sie denWiderstand
des Gegendrucks nicht fühlen.Das
Schmerzgefühl ist in vielenFällen erheblich ver-- mindert; so führtCruveilhier
einen Fall an,wo
eine iAtaktische einen Beinbruch erlitt, ohne bei der Verletzung, noch später einen
Schmerz empfunden
zu haben. DieseAbstumpfung
oderAufhebung
des Schmerzgefühls wurde >noch
öfter bemerkt, so z. B. bei eiternder Gelenkentzün- ,düng, bei hochgradigem Decubitus, bei tief
gehenden
Ver- brennungen.Die Sensibilität gegen den electrischen
Strom
wird herabgesetztgefunden; solcheKranke können
die stärksten inducirten Ströme ohne die geringsteSchmerzempfindung
ertragen.
4) Störungen der Motilität:
Die
Bewegungsstörungen
sind für dieKranken
das lästigsteSymptom.
Die Funktionen der einzelnenMuskeln und Nerven
sind zwar intact, bei ihrem willkührlichen Ge- brauch abermachen
sich namhafte Störungen, alsMangel
an Sicherheitund zweckmässigem Zusammenwirken
derMuskeln
geltend.Schon T
od dmachte
1847 seineBeobachtung
bekannt, dass die Motilitätsstörung nicht sowohl in einer Behinde- rung der einzelnenBewegungen
, sondern ihrer Coordina- tion bestehe. Derselbe sagt: es existirt eineLähmung
der untern Extremitäten, die in einer
Schwächung
oder einem Verluste der Bewegungscoordination besteht.Es
istzwar eine bedeutende Bewegungskraft vorhanden, aber die
Kranken können
nur mitMühe
gehen, ihrGang
istschwan-
kendund
unsicher.Die Erhaltung der Muskelkraft hat jedoch erst
Du- chenne
sicher durch Experimente mitdem Dynamometer
nachgewiesenund
dadurch die Krankheitvon
den eigent- lichen Paralysen getrennt.Es
besteht (nachBöning)
keineswegs motorische
Lähmung;
die electromuskuläreCon-tractilität ist
vollkommen
erhaltenund man
beobachtet, dass jeneKranken im
Bette liegend die gleichmässigstenBewegungen
mit den Beinen ausführen. Auffallend wirddiese Erscheinung,
wenn
bereits Stehenund Gehen wegen
vollkommenen Verlusts des Gleichgewichtsund
mangelnder Coordination unmöglich wurde.Die Beweglichkeit der
Muskeln
bleibt vorhanden, ihre—
K??)o 16 »©-(—Kraft ist die normale, die electrische Reizbarkeit der
mo-
torischenNerven
istvollkommen
erhalten; daraus ist der Schluss zu ziehen, dass dievordem
Stränge intact bleiben.Nur
selten greift die Degeneration der hintern Stränge auch auf die Seitenstränge über.Motilitätsstörung an den untern Extremitäten : Die t
Bewegungsstörung
beginnt in den meisten Fällen an den untern Extremitäten. Die Störung der willkührlichen Be-wegung macht
sich zuerst nur alswenig
auffallendeSchwäche
bemerkbar, die aber allmähligzunimmt,
nach langer Zeitimmer vollkommner
wirdund
zuletzt in gänzlicheUnbe-
weglichkeit übergeht.Der Kranke
hatAnfangs
ein Gefühl von Steifigkeit in den Beinen, von Unsicherheit in ihrenBewegungen,
die zuerstbeim
Treppensteigen, schnellemUmwenden
etc. her- vortritt.Andere
Patientenbemerken
die erste Störung, !wenn
sieim
Finsterngehen
müssen. DieAnfänge
der Krankheit charakterisiren sich durch leichte Ermüdbarkeit, durch Unsicherheitund Schwäche
in den Beinen. Später 1müssen
dieKranken immermehr
den Gesichtssinn zu Hülfenehmen;
lässtman
sie dieAugen
schliessen odermüssen
[sie
im
Finstern gehen, so tritt bedeutendesSchwanken
ein;
Abends können
solche Patienten nur mit einem Stocke oder mit einem Begleiter gehen.Die
Bewegungen
der Beinewerden
schleudernd, die- ; selbenwerden mehr
erhoben, als gewöhnlichund
dadurch 1bekommt
derGang
solcherKranken
etwasUnsicheres. DiePendelbewegungen
der Beine beimGehen nehmen
einen oscillirenden Charakter an; zur Herstellung des Gleichge- wichtswerden
die Beine nach aussen von der Medianlinie des Körpers abgelenktund
Excursionen mitdem
Oberkör- pergemacht, was
besonders bei complicirterenBewegun- gen
(raschenWendungen
etc.)und beim
plötzlichen Stille-stehen noch auflallender hervortritt.
Der Kranke
geht-*©° 17
äusserst bedächtig, verwendet kein
Auge
von denBewe- gungen
seiner Füsse. Inhohen Graden
der Krankheit wird dasGehen
vollständig unmöglichund
auch das Ste- hen wird trotz einer Stütze nur kurze Zeit ausgehalten, dieKranken müssen dann
sitzen oder liegen.Trotzdem
behalten sie aber besondersim
Liegen die Kraft, ihre Glie-I der zu bewegen. Die complicirteren
Bewegungen nehmen
aber auch
dann
einen stossweisen, schlecht beherrschten, schleudernden Charakter an, besonderswenn
dieAugen
geschlossen werden. In den höchsten
Graden
derKrank-
heit treten noch plötzliche unwillkührliehe Muskelcontrae- tionen auf, die z. B. den ganzen Schenkel bis zum;
Kopf
emporschleudern können, ferner auch krampfhafteCon-
tractionen der Glieder bei Bewegungsversuchen.
Die obern Extremitäten
werden im
weitern Verlaufi von derMotilitätsstörung ergriffen, jedoch nicht in solchem Grade wie die untern. Die
Bewegungen
derArme werden
unsicher, feinere Handarbeiten sehr erschwert, später un- möglich z. B. das Schreiben,
Nähen
etc. Selbst grössere Gegenständekönnen
, namentlichwenn
sie glatt sind, nur
mit dergrössten
Aufmerksamkeit
festgehalten werden.Auch
in den
Armen werden
dieBewegungen
unsicher, stossweise;bei geschlossenen
Augen können
dieBewegungen
so wenig beherrscht werden, dass dieKranken
oft sich selbst oder ihreUmgebung
schlagen. Die Motilitätsstörungnimmt
I
!auch hier allmählig soj zu
, dass die
Kranken
ganz hilflos1werden, dass
man
sie an-und
auskleiden, selbst fütternmuss.Als
Symptome
führtBöning
auch articuläre Glosso-‘ plegie an; er beobachtete einen Fall, in
welchem
die Sprache langsamer wurde, derKranke
einzelne Silben dehnteund
schliesslichStammeln
bis zurvollkommnen
Unverständlichkeit der Sprache auftrat.
Ferner werden noch Incontinentia urinae et alvi we- gen Beeinträchtigung des Sphincteren angeführt.
2
—
>©« 18 <><§x—Auch
die Geschlechtsfunktionen leiden; anfangs tritt biszum
Priapismus gesteigerte Geschlechtserregung auf,vermehrte Frequenz von Pollutionen, Samenverluste beim j
Uriniren
und beim
Stuhlgang, späterUnfähigkeit zu Erec- tionenund
endlich völlige Impotenz.In
spätem
Stadien der Krankheit trittimmer
be- iträchtliche
Abmagerung
auf,obwohl
Appetitund
Ver-dauung
ungestört sind;am
stärkstenmagern
die Muskeln der untern Extremitäten abund
bei der Section findetman
gewöhnlich fettige Degeneration der Muskeln.Die Geistesfunctionen bleiben intact, nur gegen
Ende
der Krankheit soll die Intelligenz etwas leiden.
Nach
Dr.Westphal kann
zu der Bewegungsataxie auch tobsüchtigerGrössenwahn
sich gesellen, der sichdurch
Anwesenheit
desRombergischen Symptoms
(Schwan- kenim
Finstern)von
der gewöhnlichen fortschreitenden |allgemeinen
Lähmung
der Geisteskranken unterscheidet. IEr nimmt
eine Fortpflanzung des Rückenmarksleidens auf i das Gehirn an.Zum
Schluss will ich noch dieSymptome
angeben, wie sieFriedreich
beschrieben hat:Beginn
der Krank- heit mit einem Gefühl vonSchwäche und
anhaltender >Müdigkeit in den untern Extremitäten. Verbreitung der I
Ataxie
von
den untern auf die obern Glieder.Schwanken im
Finstern. Energische Contraction der gelähmten Mus- keln bei elektrischem Reiz. Ataxie der Sprachorgane als-:Anfälle von vollständiger Glossoplegie
, plötzliches "Ver-
stummen
bei vollständig erhaltenerBeweglichkeit der Zunge.Allmählig sich entwickelnde
Verkrümmung
der Wirbel- säule.Nystagmus,
besonders auffällig,wenn
der Kranke einen vorgehaltenenPunkt
fixiren will. Vorübergehende reissendeund nagende
Schmerzen. Schwindelgefühl. Sinneund
Intelligenz normal, ebenso die eleetromuskuläre Con-tractilität, die eleetromuskuläre Sensibilität aber bei vor-
)1
9
geschrittnem Leiden merklich geschwächt. Bei
Männern
Impotenz.
Der Verlauf der
Krauklieit istimmer
sehr lang-Avierig, gleichmässig fortschreitend
und
durh allmählige Verbreitung nach aufwärts sich auszeichnend.Leyden
theilt den Verlauf in 3 Stadien ein:
1) prodromales oder neuralgisches Stadium, 2) Stadium der Ataxie,
3) paraplegisches Stadium mit Nutritionsstörungen.
Krankheitsdauer:
sehr lange, über viele Jahre sichs hinstreckend.
An
sich führt die Krankheit niezum
lode,:das lethale
Ende
wird meist durch Complicationen bedingt,z. B. durch Paralyse der respiratorischen Thätigkeit, durch
-Decubitus, durch Verletzungen
wegen
Unbehülflichkeit der»Kranken
, durch Leiden der
Harnwege,
durch allgemeinenMarasmus und
durch hinzutretendePneumonie,
Tubercu-lose, Dysenterie etc.
Prognose
: sie ist nachHasse
sehr schlecht zu stellen; die Krankheit ist nachihm
unheilbar,im
besten Falle bleibt das Leiden auf einer gewissen Stufe stehen.Nach
der AnsichtBönings kann
von einer zu hoffenden Heilung oder Besserung der Ataxie nur so lange dieRede
sein, als kehle anatomische Destruction existirt, also nur
, im Stadium einer molekulären
Veränderung
der Nerven- centren.Wegen
öfternUebergangs
der Ataxie auf die Respirationsmuskelnund wegen
starkem Decubitusmüsse man
in der Stellung der Prognose vorsichtig sein.Nach Leyden
ist die Prognose hinsichtlich der Lebensgefahrifcgut, hinsichtlich der Aussicht auf Heilung schlecht, auf Besserung zweifelhaft. Ein Aufhalten der Krankheit in ihrem Fortschreiten
nimmt
er als möglich an.Therapie: Romberg
sagt,man
solle dieKranken
mit quälenden,
mühsamen und
kostspieligen Heilversuchen verschonen, er will die
Behandlung
auf symptomatische 2*\
II
—X9«
20
°©H—t
Erleichterung und auf sorgfältige Pflege beschränkt wissen.
Hasse
empfiehlt kräftige reizloseNahrung,
Vermeidung, heftigerBewegungen
bei methodisch gemässigter Muskel-übung,
die jedoch nie bis zurErmüdung
fortgesetzt wer- den darf. SorgfältigeVermeidung
von Verkältungen beiim
Allgemeinenkühlem
Verhalten, Unterlassen jederge-
schlechtlichen Aufregung, Sorge für gehörige Excretionen.
:
— Vermeiden
der Schädlichkeiten, welche Cystitis, Decu--t bitus etc. bewirken können.Gegen
das lästige Gürtel- gefühl Einreibungen von Orotonöl.Leyden
empfiehlt im frischen Fällen lokale Blutentziehungen inForm vom
Schröpf köpfenam
Kreuze, ferner Ableitung auf die äusseresHaut
durch Vesicatore,Moxen,
Fontanellen zu beidem Seiten der Wirbelsäule; dann dieAnwendung
der Hydro-' therapie.Nach Benedikt
ist die combinirteAnwendung
der Kaltwasserkurund
des anhaltenden galvanischen Stroms- ein souveränes Mittel, dabei darf jedoch derStrom
nicht;zu stark sein
und
die Sitzung nicht über 5 Minuten an- dauern. Ferner kalteDouchen und
nasse Abreibungen.Priessnitz’sche
Umschläge
über die Extremitäten,während
der
Nacht
sollengegen
dieSchmerzen
sehrwirksam
sein.Auch Remak
empfiehlt dieAnwendung
des constantenj elektrischen Stroms auf die erkrankten Theile des Rücken- marks.Angerathen wurde
noch derGebrauch
von Seebädern, vonwarmen Bädern
(z. B. Töplitz, Gastein, Pfefiers, Wies- baden, Wildbad), ferner vonDampfbädern und
minerali- schenSchlammbädern.
Von
medicamentösen Stoffenwurden
Strychnin, Bru- cin, Secale cornutum, Jodkali, Arsenik (von Isnard) ver- sucht, aber ohne Erfolg.Das
einzige Mittel, welches Erfolg verspricht und das zuerst vonWunderlich
empfohlen wurde, ist dasArgentum
nitricum.Wunderlich
sagt, er habe bei derBehandlung der progressiven Spinalparalyse mit Silber- salpeter wesentliche Besserung eintreten sehen.
Das Argentum
nitricum wird zu VioGran
pro dosi .gegeben ,man muss
aber zeitweise mit seinem Gebraucheeine
Woche
lang aussetzen,um
nicht die bekannte Fär-bung der
Haut
befürchten zu müssen. DieseFärbung
iwird auch vermieden,
wenn man
statt des Silbernitrats das•Silberoxyd
nimmt,
desTags
3 bis 4mal%
bis 5 Gran.Bei
Verminderung
derMuskelempfindung muss
nachRühle
’s Ansichtdem
Muskel eine andereErregung
zu- geführt werdenund
zwar durch Strychnin; dieDosen
desselben dürfen aber nicht bis
zum
Eintrittunwillkür-
licher Muskelcontractionen getrieben werden.
Er
will bei der vorsichtigenAnwendung
des Strychnins (gr. Vao—
V
20 2 bis 3mal täglich) eine
Vermehrung
des Muskelgebrauchs esehen haben; derGang
besserte sich, dasSchwanken
im.Finstern
wurde
geringer..5
i
Ich führe
nun
nach dieser allgemeinen Uebersicht die Krankheitsgeschichten zweier Fälle auf, die in Erlangenzur Beobachtung kamen.
fl
sfr
][t
Johann
Pröll, 49 Jahre alt, Strumpfwirkermeister, [erkrankte vor 18 Jahren angeblich in Folge einer starken iDurchnässung.Er
hatte zuerst dieEmpfindung,
als obein Reif
um
den Unterleib läge; später trat verminderte Sensibilität in den Fusssohlen und Fingern auf.Gehen
und Stehenwar
damals noch möglich. Die Sensibilität auf;dem Gesäss
war
vollständig verschwunden,was
Patientenam
Sitzen hinderte, doch verschwand diese Störung nach einem halben Jahre wieder. In den unternund
obern Extremitäten dauerte die Sensibilitätsstörung unverändert, ohne sich merklich zu steigern, 11—
12 Jahre an.Vor
—
22
6Va Jahren konnte Pat. noch ziemlich starke Fuastouren machen, seit den letzten 4 Jahren jedoch bemerkte er eine•
zunehmende Schwäche
in den Beinen, die sich in einem Jahre bis zur vollständigen Unbrauchbarkeit der untern Extremitäten steigerte. Die letzten 3Jahre brachte derKranke
meist sitzend zu, ohne dass er eineZunahme
der Sensibilitäts-und
Motilitätsstörungwahrnahm.
Am
28. Oct. 1864wurde
Patient in’s hiesige Spital,
aufgenommen und
bot folgenden Status praesens dar: DerKranke
ist mässig abgemagert, dieHaut
ist schlaff, fett- los, Muskulatur relativ gut entwickelt.Druck
der Hände besonders der der linken noch ziemlich kräftig. Die Füsse etwas ödematös; das linke Beinkann
fast ganz an den Unterleib angezogen werden, das rechte dagegengar nicht'Die Empfindlichkeit
gegen
Nadelstiche nurwenig
gemin- dert, rechtsmehr
als links. Die Reaction der Muskelngegen
den Inductionsstrom vollständig erhalten.—
Patientvermag weder
allein zu stehen noch zu gehen, letzteresnur mit Hülfe von 2
Männern,
wobei er sichtbar nur mit der grösstenMühe
die Beinemehr
schleift als aufhebt;dieselben gerathen dabei in starkes Zittern. Blase und
Mastdarm
functioniren noch normal, nur leidet Patient an häufigem Stuhldrang ohne Defaecation.Ordinirt
wurden
Pillen aus Arg. nitr. (Rp. Arg. nitr.gr. x Succ. liquir. Pulv. liquir. ana q. s. ut f. pill. Nro. 80
}
DS. täglich 4 Stück zu
nehmen) und
mit ihrerDarreichung, biszum
22.November
1864 fortgefahren,wo
Patient un- geheilt ausdem
Spital entlassen wurde. Poliklinisch wurdeer
dann noch
über einMonat
mit Arg. nitr. behandelt,bis
am
9. Jan. 1865 das lethaleEnde
eintrat.Die 2
Tage
nachdem Tode
angestellte Section ergab folgenden Befund:Grosser, stark abgemagerter
Leichnam
mit etwas—x§)o 23L
Oedem
an den Knöcheln; die Todtenstarre vollständig ge-löst. Unterhautzellgewebe fettarm, Musculatur blass.
Rückenmark: Im
Arachnoidealsack nach unten zu etwaV2I
klaren Serums; auf der Arachnoidea vielfacheTrübungen und
Verdickungen; in der untern Partie des Halstheils glänzend weisse, theils knorpelige, theils knö- cherne Platten von der Grösse einer Linseund
darüber.Die
Venen
der Pia ziemlich erweitert.Das Mark im
Hais- und Lendentheil prall anzufühlen, in denDors
altheilen besonders nach unten zu erweicht.Im Halsmark
erscheint• zunächst
dem
Gehirn der ganze Durchschnitt über die{ Hälfte grau röthlich degenerirt, 1" weiter abwärts ein keilförmig in’s
Centrum
dringender grauer Degeneiations- beerd in den Vordersträngengenau
in der Mitte, so dassix zu beiden Seiten des
vordem
Längsspalts etwa D/2 Mili-I, meter grau degenerirt sind. Diese
Veränderung
hat un-|! gefähr die
Länge
von D/2", alsdann wird die Beschaffen-3 heit normal, jedoch zeigt sich schon hier eine röthlich
, graue
Färbung
der Hinter-und
Seitenstränge.Oben im
Dorsaltheil sieht
man
schonvon
aussen durch die weichen; Häute eine 3 Milimeter breite
und
2 Centimeter lange grau- I röthliche durchscheinende Substanz.Auf
Durchschnittensieht
man
, dass der linke Hinterstrang, sowie ein TheilI des rechten vollständig in eine grauröthliche, glasartig
d durchscheinende, nicht unter
dem
Niveau der übrigen Par- tieen liegende Masse verwandelt ist.Das Centrum
dest.’
Rückenmarks
erscheint hier vertieft, ebenfalls grauröthlich.Unter dieser Stelle
im
obernDorsaltheil beginntdasRücken-
D
mark
eine breiige Consistenzanzunehmen,
so dass das|
Mark
wie dickeSahne
ausfliesst;im
Lendentheil ist die•0 Consistenz fest; hier sieht
man
Degenerationsheerde zer-n
streut in den Seitensträngenund
in derNähe
derCauda
: equina ein besonders grosser in den Vordersträngen von
—
x®«24
der Beschaffenheit der grauen gallertai*tigen Degenerations- partie oben.
Schädel
:Decke
normal dick,Dura
auf der ganzen Innenfläche mit einer stark vascularisirtendünnen
Pseudo-membran
bedeckt. Araehnoideaund
Pia massig injicirt;in den Ventriceln einige
Drachmen
klarer Flüssigkeit; Ge- hirnsubstanz zähe,wenig
blutreich, normal.Brust:
Beiderseits in den Lungenspitzen alte Caver-nen
mit schiefrigen, festenWandungen.
DieLungen
durch- setzt mitzum
Theil gelben,zum
Theil nach untenmehr
grauen Tubercelknötchen in reicher Gruppirung, dazwischen graurothe, durchscheinende Verdichtungen.Im
unternLappen
sind die Tuberceln spärlicher, dafür mässigesOedem. — Herz
normal.Bauch:
Leber normal gross, aufdem
Durchschnitt fettige Muscatnussleber.—
Nieren derb, speckig glänzend, gross.—
Milz etwas grösser, Pulpa breiig.— Magen-
schleimhautvon
etwas schiefriger Färbung.Leichendiagnose:
Graue Degeneration desRücken- marks
mitErweichung
des Dorsaltheils. ChronischeLungen-
tuberculose.
II. Krankengeschichte
:
Postpacker
Jakob
S., 53 Jahre alt, seitEnde
Fe- bruar 1864 in ärztlicher Behandlung.Anamnese
: Patientstammt
von ganz gesunden Ael- ternund
kein Glied in der ganzen Familie litt an einerNervenkrankheit. Sein Vater
war
nie krank und starb in einem Altervon
68 Jahren. Seine Mutter gebar 16 Kin- der, von denen 8 bei der Geburt schon todwaren
oder wenigstens bald darnach starben.Mehrmals
soll dieselbe mit derZange
entbundenworden
sein; sie starb 62Jahre alt.Patient
war
früher ganz gesund, nur als Kind litter an Drüsen,
wovon Narben am
Halse zurückblieben.E
rwar
20 Jahre Conducteur bei der Fahrpostund
hatte einen—x§>“ 2 5
sehr beschwerlichen Dienst; er
war
bei seinen Fahrten oft grosser Kälte ausgesetzt, klagte aber nie über Frost, son- dernimmer
über Taubheitund
Gefühllosigkeit in den Füs-sen. Schon damals bemerkte er öfters reissende
Schmerzen
in den Füssen, die er aber der
Ermüdung vom
vielenFah-
ren zuschrieb.
— Er
littimmer
an fliessendenHämorrhoiden.Im
Jahre 1847 verheirathete er sichund
erzeugte 9 Kinder, von denen das letzteim
October 1859 geboren wurde. Seine Geschlechtsthätigkeitwar
nie besonders stark ausgeprägtund
hatte namentlich in den letzten 4 Jahren sehrabgenommen;
schon im Jahre 1859war
sie fast erloschenund
nach diesem Jahre fand keine Cohabita- tionmehr
statt. 1858wurde
er Postpackerund bekam nun
einen ruhigeren Dienst.Trotzdem wurde
er verdriess- licher; seineHämorrhoiden
hörten auf zu fliessenund
er klagte öfters über Schwindel. Die oben erwähnten reis- sendenSchmerzen
in den Füssennahmen im Winter
1859mehr und mehr
zu, dabeiwurde
seinGang
unsicher. Pat.klagte über
Mangel
an Gefühl in den Füssen, er musste desshalb mit einem Stocke gehen oder sichvon
einemKnaben
führen lassen. Besonders das Ueberschreiten der Strassenrinnen machteihm
Schwierigkeitenund
er musste sich dabeiimmer
an seinen Begleiter anhalten. Gleich- zeitig klagte er auch häufig über lästigeZuckungen
in den Füssenund
überWadenkrämpfe. Auch
heftigerheuma-
tische
Schmerzen
in denArmen waren
oftTage
lang vor- handen. Starke Nachtschweisse führten zu einer bedeu-'tenden Ermattung. Diese Erscheinungen
nahmen im
Früh- jahr 1860 zuund
besonders dieWärme
desSommers
ver-mehrten seine Klagen.
Im
October 1860 hatte Patient, der schon früher öfters an Katarrh und Husten litt, wieder einen sehr hef- btigen Katarrh mit Husten, Fieber, Appetitlosigkeitund
1 öftern Blutauswurf, welcher Zustand bis Februar 1861 an-
dauerte. Die Brustersclieinungen schwanden, die Kräfte
hoben
sich wieder, aber eine hartnäckige 14Tage
dauernde Stuhlverstopfung verursachtenihm
grosse Schmerzen. Im Juni gebrauchte er eineKur
in Kreuth, trankMolken
undnahm
Soolbäder. Als er von dort wieder nachHause
kam,war
er von der Fahrt so angegriffen, dass er nicht im Stande
war
einen Schritt zu gehen, sondern unter den Ar-men
gestützt werden musste.Von
dieser Zeit hatte erimmer
ein Kältegefühl in den Füssen.Beim Gehen
fieles auf, dass Pat.
immer
die Füsse vorwärts schleuderte, besonders den rechten. Die Motilitätsstörungnahm immer mehr
zu, er musste mit einem
Arme
eingehenkt in denArm
eines Führersund
auf einen Stock gestützt gehen.Bloss auf
ebenem
Stubenboden konnte er einige Schritte machen, musste aber sogleich wieder nach einem Anhalts- punkte greifen. Zeitweilige heftige Katarrhe verliefen bald in längerer, bald in kürzerer Zeit.Im November
1861wurde
eineBehandlung
mit In- ductions-Electricität eingeleitet, bei derenAnwendung
sich alleMuskeln zusammengezogen
haben sollen. Die Sensi- bilität derHaut war
damals bei der Untersuchung mittelst der Zirkelspitze normal. DieBehandlung
mitdem
indu- cirtenStrom wurde
in 64 Sitzungen bisMärz
1862 fort- geführt, aber keine Besserungerzielt, es tratvielmehr grosseSchwäche,
Angstgefühlund
vermehrtes Zittern auf. DieLähmungserscheinungen nahmen
indem
benannten Jahre zu,während
die Brusterscheinungen sich besserten. Iui Jahre 1863begann
Patient über vermehrte Müdigkeit in denArmen
nachdem
Schreiben, überSchmerzen
und tau- bes Gefühl in denHänden
zu klagen; gleichzeitig stellte sich auchSchwäche
derAugen
ein. Indemselbem
Jahrewurde
er durch die Nachrichtvom Tode
seines Bruders so heftig betroffen, dass ein schlagähnlicher Anfall eintrat, der die linkeHand und
den rechten Fuss beinahe voll-—
27
'Ge-ständig lähmte. Dieser Zustand besserte sich
zwar
in den nächstenWochen
wieder, aber es blieb grosse Kraftlosig- keit zurück. Gleichzeitig hörte auch dasVermögen,
den Urin zurückzuhalten, auf,nachdem
er schon frühei ge-zwungen
gewesenwar, öfter als gewöhnlich Urin zu lassen.Von jenem
Schlaganfall musste Pat. in einem Rollstuhl gefahren werden.Im
Octbr. 1863wurde
dieBehandlung
mit Argent. nitr. eingeleitet, welches anfangs in Lösung, später in einer Pillenmasse bisEnde
Januar 1864 gegeben wurde. DieseBehandlung
verschlimmerte anfangs den Zu- stand etwas, nach 4W
ochen besserten sich aber die Ver-hältnisse wieder, insbesondere giengen die
Bewegungen
der Oberextremitäten sicherer, weniger zitternd vor sich, eine dauernde Besserung der ganzen Krankheit, besonders eine Aufbesserung der Leistungsfähigkeit der untern
Ex-
tremitäten konnteman
jedoch nicht bemerken.Status praesens
am
24. Januar 1864.Körperbau des Patienten ist lang, knochig,
abgema-
gert;
Haut
schlaff, gelblich kolorirt;Haare
grau,Augen
tiefliegend, mässige Presbiopie vorhanden;
Wangen
durch zahlreiche Gefässerweiterungen geröthet. Hals lang,ma-
ger, mit Drüsennarben.
Zunge
mit dickem weissem Beleg, normal beweglich; Sprache rauh. Appetit gering. Brust gut entwickelt, dasAthmen
etwas beschleunigt. Die Per- cussion ergiebt vorn obenam Thorax
leichteDämpfung»
die Auscultation zahlreiche gross-
und
kleinblasige Rassel- geräusche über die ganze Brust verbreitet.Ein
heftiger, anhaltender, bellender, krampfhafterHusten
mit weissen schaumigen Sputis ist vorhanden. Herzaction etwas be-r
schleunigt; Puls 84 Schläge in der Minute. Herztöne etwas
dumpf,
sonst normal. Die Untersuchung desAbdomens
ergab nichts Abnormes.
Der
Peniswar
schlaffund
welk.FortwährendesHarnträufeln vorhanden, das besonders durch Hustenstösse vermehrt wird.
Harn
trüb mit reichlichem—>^§>° 2S
Sediment von harnsauren Salzen, ohne Eiweiss. Stuhlgang normal.
Auf
beiden Sitzknorren namentlich aufdem
rech- ten leichte, aber sehr schmerzhafte Excoriationen, die das Sitzen sehr beeinträchtigten; auf
dem
Kreuzbein leichteRöthung
der Haut. Rechte obere Extremität freibeweg-
lich, aber zitternd; Gefühl
von
Taubheit in den Fingern,Druck
der rechtenHand
normal,Druck
der linken ver- mindert. Gefühl für feinere Gegenstände sehr beeinträch-tigt. Reissen
und Muskelzuckungen
in beidenArmen. Mus-
kulatur atrophisch besonders links; Unterhautzellgewebefettlos. Sensibilität der
Haut
nicht verändert.Die beiden untern Extremitäten ziemlich stark abge- magert; freies Stehen auf denselben unmöglich.
Wenn
Pat. gestützt wird,
kann
er dieselben aufheben, schleudert sie aber beiBewegungsversuchen
nach vor-und
auswärts.Den Boden
giebt er an zu fühlen, nicht aber so, dass er die Unebenheiten desselben unterscheiden könne.Im
Lie-gen
wirft er die Beine in weitemBogen
mit einer schleu- derndenBewegung
über einander,muss
aber dabei mit derHand
nachhelfen oder wenigstens aut dieselben dieAugen
richten. Die Sensibilität ist in beiden Unterextremitäten nicht erheblich gemindert. Schwächegefühl wird auf
dem
rechten Bein als stärker angegeben, wie links. Schmerzen sind zeitweilig
noch
vorhanden, jedoch nichtmehr
so heftig als früher, dagegen klagt Pat. über fortwährendes Kälte- gefühl in den Beinen. Ordination: Infus. Ipecac. mitMorphium.
Verlauf:
27. Jan. Husten etwas gebessert,Zunahme
des Appetits.
Durch Anwendung
eines HarnrecipientenMinderung
derUrinbeschwerden.Durch
kalteWaschungen und Verband
mit Ceratsalbe der Decubitus in Heilung be-griffen.
Das
Sitzen wird durch ein Rundkissen erleichtert.Der Kranke macht
noch fortwährend Dienst. Ordinatio.
Wein,
Chinin, kräftige Diät.2 9
Im
Laufe des Februars Besserung der Brusterschein- ungenund
des Allgemeinbefindens.Lähmungserscheinungen
aber gleich, eher vermehrte Kraftlosigkeit der Extremitä-ten. Decubitus geheilt.
Das
Harnträufeln dauert fort, dochist es
wegen
desgeringem
Hustens weniger lästig. Stim-mung
verdriesslich, abgeschlossen.— Behandlung
aufRo-
borantia beschränkt.
— März und
April keine Verände- rung.Im Mai
wurde wieder dieBehandlung
mit Arg.nitr. in Pillenform eingeleitet, da sich aber nach einigen
Tagen
Appetitlosigkeit einstellte,
wurde
dieselbe wieder ausgesetzt.Gegen
eine andere Behandlungsweise z. B.Kaltwasserkur,
Anwendung
der Electricität widersetzte sich der durch diefrühem
Misserfolge entmuthigte Patient hartnäckig; daherBeschränkung
auf Chinin, Eisen,Wein,
kräftige Speisen, die bei
dem
gutenVerdauungsvermögen
des
Kranken
seinen Zustand auf demselben Niveau erhielten.Anfangs
Juni trat eineVerschlimmerung
ein: hef- tiges Fieber mit Temperaturerhöhung, trockner sehr quä- lender Husten mit schaumigen Auswurf.Ueber
die ganze Brust zahlreiche Rasselgeräusche hörbar.Es
trat Appetit-mangel und
grosseSchwäche
ein, so dass Pat. seinen Dienst aufgebenund
zuHause
liegen bleiben musste. Ordin:Digitalis mit Morph., später Ipecac., Chinin.
15. Juni: Fieber ist bloss
Abends
noch vorhanden, Husten vermindert, nur Nachts noch; Appetit etwas besser.Der
Kianke
liegt nichtmehr
zu Bett, klagt aber über grosseSchwäche und Abmagerung.
DieStimme
ist rauh und schwach.28. Juni.