• Keine Ergebnisse gefunden

Strukturen in der Entstehung einer wissenschaftlich-technischen Revolution

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Strukturen in der Entstehung einer wissenschaftlich-technischen Revolution"

Copied!
83
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

ISSN-0935-8137

P93-202

Strukturen in der Entstehung einer wissenschaftlich-technischen Revolution

Über die Diskontinuität zwischen Entdeckung und Revolution beim Auftauchen des Penicillins

und der Antibiotika

von Jänos Wolf

Berlin, Februar 1993

Publications series of the research group

"Health Risks and Preventive Policy"

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung D-1000 Berlin 30, Reichpietschufer 50

Tel.: 030/25491-577

(2)

Summary

- s a ^

The object of this investigation is a frequent phenomena of scientific development: the discontinuity between the initial discovery in a specific field and a subsequent revolution. A discovery can be misread and forgotten; later this discovery can appear as the beginning of a scientific revolution.

Drawing on the penicillin discovery by F L E M IN G (1928/29), and on the beginning o f revolutionary developments within this field o f antibiotics - which began only in the 1940s * the author has developed a hypothesis, which posits that such discontinuity can be understood as a general structural pattern o f the development o f science.

In the macrostructure of the development of science different sequences o f research emerge which

« i m p le m e n t one another and which therefore create an environment conducive to new structures of science. In such an environment different possibilities exist to start a revolution. A certain coincidental microstructure of scientific development could set o ff a revolution. These different possibilities represent latent discontinuities which as a whole determine the latent potential o f a maturing revolution. Every

«Ingle sequence o f research in a certain scientific environment has a different potential for the shaping of the revolution. The different potential of every sequence arises from their power to stimulate the

convergence of all sequences - within one scientific environment. I f a new structure o f science is set in motion by a revolution, all other latent possibilities to set of the revolution appear - in retrospect - as discontinuities.

In fact these discontinuities are organic patterns o f the continuity o f the coevolution of micro- and macrostructures.

One way o f grasping the pattern of this development is casting it with a stochastic network of interaction.

Further, this development is hypothetical interpreted as a self-organizing structure.

Zusammenfassung

Gegenstand dieser Untersuchung ist ein oft zu beobachtendes Phänomen der Wissenschaftsentwicklung:

die Diskontinuität zwischen einer Entdeckung und Revolution; einer Entdeckung, die anscheinend verkannt und vergessen wird, aber später, im Zusammenhang m it einer revolutionären Entwicklung, sogar als deren Ausgangspunkt erscheint und zu hohem Ansehen ko m m t A m Beispiel des Auftauchens des Penicillins, der Entdeckung von F L E M IN G (1928/29) und der einsetzenden revolutionär«»

Entstehung des Antibiotika-Gebietes zu Beginn der vierziger Jahre, w ird die Hypothese entwickelt, daß die Diskontinuität als generell auftretendes, strukturelles Muster der Wissenschaftsgenese verstanden werden kann. In einer M akrostruktur der Wissenschaftsentwicklung entstehen diskrete

Forschungssequenzen, die Spielräume für revolutionäre Neustrukturierungen bilden; und zwar in dem Maße, indem sie sich - unsichtbar fü r die Beteiligten - potentiell ergänzen. In solch einem Spielraum ergeben sich verschiedene Möglichkeiten der zufälligen mikrostrukturellen Auslösung der Revolution, die latente Diskontinuitäten darstellen und die in ihrer Gesamtheit das latente Potential einer

heranreifenden Revolution bilden. Die Revolution wird in dem M aße von einem Ereignis

(Entdeckung/Erfindung) ausgelöst, in dem es das latente Potential des Spielraumes für eine neue

Strukturierung zu stimulieren bzw. aktivieren vermag. Ist die Neustrukturierung durch ein Ereignis des Spielraumes ausgelöst, erscheinen im Rückblick alle latenten Möglichkeiten, die Revolution auszulösen, als raum-zeitliche Diskrepanzen der Koevolution von M akro - und M ikrostruktur der Entwicklung, als Diskontinuitäten. Ih re unterschiedliche Auffälligkeit hängt ab vom Grad, in dem sie die

Neustrukturierung stimulieren, und in dem sie deshalb an der Gestaltung der Revolution beteiligt s in d .' Diese Diskontinuitäten sind andererseits Kontinuitäten in der M akrostruktur, wo sie als organische Muster der Entwicklung zwischen diskreten Forschungssequenzen auftreten.

Eine Möglichkeit der strukturellen Erfassung des Vorganges wird m it H ilfe eines stochastischen Netzwerkverfahrens vorgesteiit und hypothetisch als S truktur der Selbstorganisation interpretiert.

(3)

Inhalt

Seite

Einleitung 5

1. Eine wissenschaftliche Revolution in der Abbildung von Publikationsraten 10

X Die Diskontinuität als mikrostrukturelles Phänomen der

Wissenschaftsentwicklung 11

2.1 Ein Zufallsereignis 11

Wie wurde das Penicillin von FLEMING entdeckt?

2.2 Eine diskrete Forschungssequenz entsteht 15

Weshalb wurde das Forschungsprogramm zum Penicillin abgebrochen?

2.3 Rückkopplung zwischen diskreten Forschungssequenzen 19

Wie kam es zum Rückgriff auf die Entdeckung von FLEMING durch CHAIN?

2.4 Rückkopplung und Selektion 23

Wie kam es erneut zur Forschung über das Penicillin?

2.5 Die Zelle einer neuen Forschungsstruktur entsteht 26

Wie entstand das Oxford-Team?

2.6 Reproduktion 28

Übergänge in die Industrie

3. Die Diskontinuität als makrostrukturelles Phänomen der

Wissenschaftsentwicklung 32

3.1 Strukturbildung und Spielraumgestaltung für die Revolution 33

3.11 Wie entstand die Chemotherapie aus der Strukturchemie. Farbchemie. Bakteriologie und Pathologie?

3.12 Wie entstand die Antibiotikaforschung aus der Biologie, Mykologie, Bakteriologie und wie wurde sie Teil der Chemotherapie?

(4)

4. Die Diskontinuität als Muster der Koevolution von Mikro-

und Makrostruktur bei der Entstehung der wissenschaftlich-technischen

Revolution 50

5. Die Handlungs-Ereignis-Struktur als Netzwerk 56

Wie kann der historische Vorgang im Netzwerk dargesteilt werden?

5.1 Das Netzwerkverfahren GERT 56

5.2 Die Forschungssequenz von FLEMING im GERT-Netzwerk 58 5.3 Das beginnende Penicillin-Forschungsprogramm im GERT-Netzwerk 65

6. Ausblick

Ansatz zu einem Strukturmodell der Wissenschaftsentwicklung 68

Literatur 74

(5)

"Zum Entdecken gehört Glück, zum Erfinden Geist, und beide können beides nicht entbehren."

GOETHE 1817

E i n l e i t u n g

Immer wieder - so scheint es - werden großartige Entdeckungen vorübergehend vergessen, um dann - irgendwann später - desto überraschender ins Zentrum eines Vorganges zu rücken, den wir wissenschaftliche Revolution nennen.

Unter den zahlreichen Entdeckungen, denen ein vergleichbar ähnliches

Schicksal beschieden war, ist die Entdeckung des Penicillins durch FLEM ING, in den Jahren 1928/29, eine der auffälligsten. Nicht nur wegen der unglaublichen Konstellation von Ereignissen, unter denen die Entdeckung eintrat; mehr noch wegen ihres sensationellen Auftauchens im Rampenlicht der wissenschaftlichen und öffentlichen Aufmerksamkeit - aber über zehn Jahre später - und dann infolge eines anderen Ereignisses, den Entdeckungen der Gruppe von FLOREY in den Jahren 1940/41.

Drei Jahre zuvor -1937 - hatte der damalige Präsident der USA,

ROOSEVELT, ein Komitee der Xfetionai Academy of Sciences beauftragt, eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklungen der Wissenschaft und ihres Einflusses auf die Gesellschaft für die kommenden 75 Jahre zu erarbeiten.

Dieses Komitee wurde aus den damals kompetenten und anerkannten

Wissenschaftlern gebildet. Gute Vorhersagen gelangen bezeichnenderweise für Richtungen, in denen bereits gearbeitet wurde. Auffallend aber ist das Fehlen der beeindruckendsten neuen Entwicklungen der kommenden Jahrzehnte, z.B.

der Kernenergie, für die die grundlegende Arbeit von HAHN und M EITNER ein Jahr später folgte. Nicht erwähnt sind Düsenflugzeuge, Raketen, Nutzung des Weltraums, Radar, die Entwicklung der elektronischen Rechner, der Transistor, die Quantenelektronik und viele andere wissenschaftliche und technische Entwicklungen. Das Komitee konnte auch noch nicht den

revolutionären Wandel der medizinischen Therapie durch Penicillin und Antibiotika sowie die damit bereits in den folgenden Jahren entstehende

Großindustrie voraussehen, obwohl FLEMINGS Entdeckung bereits acht Jahre alt war und die experimentellen Arbeiten, die eine wissenschaftliche Revolution in Gang setzten sollten, ein Jahr später - 1938 - begannen. (TOWNES 1983) Und FLEMING ? Er gestand, daß genau in dem Augenblick, als gewisse Veränderungen auf seiner Bakterienkultur sichtbar wurden, ihm nicht der leiseste Verdacht gekommen sei, dies könne der Anfang von etwas

(6)

Außerordentlichem sein. Dann aber, während der Arbeit an seiner Entdeckung, war er überzeugt, etwas Besonderes gefunden zu haben und bemühte sich, andere Wissenschaftler dafür zu interessieren - aber ziemlich erfolglos.

Wie sind solche Vorkommnisse der Wissenschaftsentwicklung zu deuten? Sind sie bedauernswerte Ausnahmen, die Folge unglücklicher Mißverständnisse, oder sind sie doch eher die Regel in einem Wissenschaftsbetrieb, der von vielerlei Subjektivitäten geprägt ist? - dem Spezialistentum, der Konkurrenz, den Eitelkeiten, der Gebundenheit an spezielle Interessen, der Widerspenstigkeit gegenüber Gedanken und Ergebnissen, wenn sie nicht im Einklang mit den eigenen Anschauungen stehen.

Vielen hinreichend für die Annahme, mit Analysen des Verhaltens von Wissenschaftlern, ihrer sozialen Verstrickungen, auch den Grund für eine diskontinuierliche Entwicklung der Wissenschaft zu finden.

Es gibt eine lange Tradition, die Geschichte zu schreiben. Dabei wird versucht, die Genesis des "Faktischen" aus der Aufeinanderfolge ihres Erzeugens

verständlich zu machen; eines Erzeugens, wie es im Rückblick erscheint, der mit Erfahrungen über die Vergangenheit angereichert ist. Viele Vertreter der

Wissenschaftspsychologie und -Soziologie hingegen empfinden dieses Vorgehen spätestens seit KUHNs Kritik der Geschichtsschreibung eher als verfälschte Darstellung der wirklichen Vorgänge, soweit das gerade Geschehende, später als Vergangenes anders miteinander verbunden dargestellt wird, als es die Akteure in ihrer Zeit erlebten. (KUHN 1962,1967)

Wie immer man sich auch bemüht, mehr Licht in das Dunkel der

Zusammenhänge zu bringen; der faszinierende Problempunkt, bei dem sich die Anstrengungen zu vereinen scheinen, ist die Aufklärung der eigenartigen

Diskontinuitäten in der Wissenschaftsentwicklung. Das Problem hat vielleicht seine markanteste Zuspitzung in der Frage erhalten: Gibt es vorzeitige

Entdeckungen? (STENT 1972)

Bei den bisher gesichteten Bemühungen um eine Antwort auf diese Frage, schien mir insofern ein unbefriedigender Rest offen geblieben zu sein, als das Phänomen aus der Analyse von internen Vorgängen einer "scientific

commumty" versucht wird zu erklären: der paradigmatischen

Problemgebundenheit bzw. der spezifischen wissenschaftlichen Sichtweisen und ihres Wandels innerhalb derselben.

Eigenartig ist jedoch, weshalb nicht gleichermaßen der evolutionäre Zusammenhang des Getrennten, der verschiedenen paradigmatischen Arbeitsfelder zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden ist, weshalb nicht auch in der Konstellation der mannigfachen autonomen und

(7)

getrennten Vorgänge in der Wissenschaft sowie der Bewegung dieser

Konstellation die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde, obwohl viele bekannte Fälle von Diskontinuitäten in der Wissenschaftsentwicklung Indizien dafür liefern. Sollte es nicht möglich sein, daß die paradigmatisch gebundenen Vorgänge nur Substrukturen in einem strukturellen Gefüge sind, das in der evolutionären Bewegung der geteilten Arbeit entsteht?

Wenn diese Möglichkeit besteht, dann kann sie nicht ohne Folgen für unser Wissenschaftsverständnis sein.

Ausgehend von dieser Frage, ist die Absicht entstanden, anhand der Analyse eines konkreten Falles der Wissenschaftsentwicklung, eine Antwort zu finden.

Es sollte erkundet werden, ob eine Diskontinuität der Wissenschaftsentwicklung auch von einem strukturellen Hintergrund von diskreten Handlungs-Vorgängen verursacht wird und wie ihre Stellung in der Evolutionsdynamik der

Wissenschaft, beim Entstehen einer Revolution is t

Für die Analyse wurde ein spezieller Bereich der Wissenschaftsentwicklung ausgewählt: Die Entstehung des Antibiotika-Gebietes. Wie sich während der Analyse zeigen sollte, mußte dabei auf einen strukturellen Zusammenhang von diskreten Forschungssequenzen der Strukturchemie, Biologie, Bakteriologie, Immunologie, Chemotherapie, Biochemie und Pathologie zurückgegangen werden.

Das Ergebnis, zu dem ich gelangt bin, sei in bündiger Form, als vorläufige Hypothese vorangestellt Es lautet:

Nicht die Entdeckung des Penicillins durch FLEMING im Jahre 1928 war - wie oft angenommen wird - der dominante Ausgangspunkt fü r die Entstehung des Wissenschaftsgebietes der Antibiotika; sondern der Modus eines über Jahrzehnte sich selbst strukturierenden, zu dieser Zeit unsichtbaren Raumes von Entdeckungen/Erfindungen, bestehend aus diskreten Sequenzen (Feldern) der Forschung, die sich tendenziell gegenseitig ergänzten und a u f diese Weise konvergierten.

Das revolutionäre Auftauchen des Antibiotika-Gebietes ist aus der Koevolution einer makrostrukturellen und mikrostrukturellen Entwicklung der Wissenschaft hervorgegangen. Als Makrostruktur entstand ein raum-zeitlicher Spielraum fü r verschiedene Konstellationen der möglichen Auslösung des revolutionären Vorganges; als Mikrostruktur eine zufallsbedingte Konstellation ihrer wirklichen Auslösung. Die

Diskontinuitätzwischen FLEMINGS Entdeckung und der revolutionären Entwicklung des Gebietes über zehn Jahre später, erweist sich als wiederholt auftretendes Muster einer sequentiellen Makrostruktur, in der die Entdeckung von FLEMING eine der Sequenzen ist, die rückkoppelnd berücksichtigt, und in einem Selektionsprozeß allmählich favorisiert wird. Die Makrostruktur ist fü r das Auftreten der Revolution insofern dominant, als sie einen Spielraum von verstreuten, diskreten Forschungssequenzen schafft, die das Ausgangspotential fü r die Gestalt der Revolution bereitstellen. A u f diese indirekte Weise konnte die

erstaunliche Zufalls-Entdeckung von FLEMING eine mikrostrukturelle Konstellation bewirken, die den Spielraum der diskreten Forschungssequenzen fü r die Auslösung der Revolution spezifisch modifizierte und aktivierte.

Wie dieser Zusammenhang im Detail zustandegekommen ist, sei der Gegenstand unserer weiteren Betrachtung. Sie hat zum Ziel, schrittweise Übersicht über einen langandauemden Prozeß zu erlangen. Deshalb wird es

(8)

nötig sein, in einem Teil der Analyse, das Augenmerk von der umfassenden Lebendigkeit der Einzelheiten soweit abzuheben, bis diese als etwas nur in größerem Zusammenhänge'Verbundenes erscheinen. Wir wollen die Kontur einer Landschaft ermitteln, einer Wissenschaftslandschaft, wobei das

untersuchende Interesse auf die Korrelation von wissenschaftlichen Handlungen und Ergebnissen gerichtet sein wird, auch solcher, die vergleichsweise fern voneinander unter verschiedenen paradigmatischen Sichtweisen, oder jedenfalls in unterschiedlichen Arbeitsfeldern mit verschiedenen Zielen, zustande

gekommen sind.

Im Unterschied zum forschenden, sei im darstellenden Vorgehen, ein anderer Weg gewählt; dies in der Absicht, dem Leser den gedanklichen Nachvollzug der Mitteilung zu erleichtern. Den einzelnen Abschnitten der analytischen Teile wird ein bündiges Ergebnis vorangestellt, um es anschließend im Detail auszuführen.

Auf diese Weise soll die gedankliche Leitlinie herausgestellt werden, die die einzelnen Mitteilungen schrittweise zu einer ganzen verbindet. Für die

Abschnitte des historiographischen Teiles sind daher Überschriften gewählt worden, die allemal jenen strukturellen Aspekt betonen, der den historischen Vorgängen inhärent ist.

Das Lesen einer komprimierten Fassung des Textes wird möglich, indem im historischen Teil, lediglich die vorangestellten Absätze berücksichtigt werden.

Ausgehen werden wir von Fragen an ein einfaches Bild, das die

wissenschaftliche Revolution sichtbar macht, und das wir jetzt betrachten wollen.

Jede der Antworten auf diese Fragen wird zunächst für sich stehen und nur ein punktuelles Bild erbringen, so daß erst am Ende der Ausführungen, in ihrer Verbindung, jene Einsicht in den analysierten Vorgang erreicht wird werden können, die mit der Zielstellung formuliert worden is t

(9)

Z M der ak Tkalrrtri der Zeit

(10)

1. Eine wissenschaftliche Revolution in der Abbildung von Publikationsraten

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Publikationsrate als Funktion der Zeit.

Die beiden zu sehenden Funktionen sind das Ergebnis des Zählens der einschlägigen Publikationen, die in der Deutschen Bibliographie der Zeitschriftenartikel Reihe A und B unter dem Stichwort "Penicillin'’ bzw.

"Antibiotika" aufgefiihrt sind. Reihe A enthält die Artikel der

deutschsprachigen Zeitschriften, Reihe B die Artikel der internationalen Zeitschriften.

Wir werden von der einfachen Anschauung der Abbildung ausgehen. Der

Fortgang der Untersuchung wird - wie ich annehme - immer neue Aspekte seiner Wahrnehmung eröffnen, so daß am Ende meiner Ausführungen jenes Bild wird gesehen werden können, das als Ausdruck eines komplexen Vorganges

erscheint.

Die Funktion wird eingeleitet mit der berühmten Entdeckung des Penicillins durch Alexander FLEMING im Jahre 1928, die er 1929 publizierte Ihr Ruhm gründet sich jedoch nicht auf eine sofort sich formierende Anhängerschaft, sondern auf eine Entwicklung, die sich zu Beginn der vierziger Jahre anbahnte.

Erst das sprunghafte Zustandekommen einer Wissenschaftlergruppierung (scientific community) mit ihren Arbeiten zum Terewißin, machte den zuvor wenig beachteten FLEMING zum Nobelpreisträger.

FLEMINGS Publikation wurde in den Jahren nach seiner Entdeckung lediglich drei mal zitiert. Die Ursachen für die "Lücke", die als Diskontinuität in dieser Entwicklung erscheint, sollen in folgender Reihenfolge ergründet werden:

Zunächst werden wir die m ikrostrukturellen Gegebenheiten untersuchen, die die Diskontinuität aus der Konstellation des Erlebens der Situation verständlich macht:

Die erste Frage wird dem Zufallscharakter der Beobachtung von FLEMING gelten. Wir wollen sehen, wie dieses Ereignis für sich steht.

Mit der zweiten Frage werden wir dann auf die Gestalt des

Forschungsprogramms von FLEMING eingehen, das sich aus seiner

Beobachtung ergab, und sehen, wie es zum Abbruch der Arbeit kam, so daß seine Forschungssequenz samt Publikation ins "wissenschaftliche Vorrats lager”

geriet.

Danach wird ein zeitlicher Schnitt in das Jahr 1938 erfolgen, zu einer Wissenschaftlergruppierung um FLOREY.

(11)

Wir werden hier der Frage nachgehen, welche wissenschaftlichen Probleme diese Forscher beschäftigte; dann der Frage, wie und weshalb es zu einer Rückkopplung zur Arbeit von FLEMING gekommen ist.

Damit werden wir eine erste Erklärung für die Diskontinuität aus einer mikrostrukturellen Betrachtung gewonnen haben.

Aus ihr wird bereits eine weitere Frage hervorgehen, die uns auf die makrostrukturelle Ebene fuhren wird.

Unser fragendes Interesse wird jetzt auf ein weiteres historisches Umfeld gelenkt werden, von dem wir wissen wollen, wie sich in ihm der gesamte, bislang

mikrostrukturell beschriebene Vorgang, einordnen läßt, der in Abb.l als Abschnitt zwischen 1928 und etwa 1940 repräsentiert ist.

2. Die Diskontinuität als mikrostrukturelles Phänomen der Wissenschaftsentwicklung

2.1 Ein Zufallsereignis

Wie wurde das Penicillin entdeckt?

FLEMINGS Entdeckung hat mehrere Dimensionen der Zufälligkeit:

Dimension (I) • Die Entdeckung ist zufällig in Bezug a u f einen Spielraum der sequentiellen Wissenschafts­

entwicklung der Makrostruktur;

Dimension (2 )- Die Entdeckung ist zufällig in Bezug a u f eine andere Sequenz der

Wissenschaftsentwicklung in der Biologie, wo sich Mykologen bereits Jahrzehnte m it der Wirkung von Pilzen (auch von Penicillium) a u f Mikroben beschäftigten, während FLEMING als Immunologe und Bakteriologe über Pilze keine Fachkenntnisse besaß;

Diminsion (3) - Die Entdeckung ist zufällig in Bezug a u f eine Konstellation von Natur- Lebens- und Arbeitsumständen,

(Die ersten beiden Dimensionen werden erst im Laufe der Abhandlung ersichtlich werden können, auf die dritte Dimension wird in diesem Abschnitt eingegangen.)

Im Jahre 1928 experimentierte Alexander FLEMING mit pathogenen

Staphylokokken. Er züchtete sie im üblichen Plattenverfähren und kontrollierte die Kulturen in gewissen Zeitabständen. Eines Tages wies eine seiner Platten, auf der Kolonien des Stapfiyfococcus aureus wuchsen, eine Verunreinigung durch eine Schimmelpilzkolonie auf. Ein Vorfall, mit dem man wegen des

kontrollierenden Lüftens des Deckels hin und wieder rechnen mußte. Diesmal jedoch bemerkte FLEMING einen auffallend markanten Wirkungshof der

Schimmelpilzkolonie. In ihrem Umkreis waren die Stapfiyfo&lfän offensichtlich zur Auflösung gebracht worden. Das Phänomen der beobachteten Lysis der StapfiyCo&fäen beeindruckte FLEMING so sehr, daß er den Pilz näher

(12)

untersuchte. Er diagnostizierte ihn selbst als eine Art von fPeniciZZam und mit Hilfe eines Mykologen als Tenicitttum. rufirum. Später stellten CLUTTERBUCK, LOVE und RAISTRICK fest, es sei ein iPenici/Zam zweatum (CLUTTERBUCK etal. 1932). Eingehendere Untersuchungen durch den leitenden Mykologen des Department of Agriculture (USA) Charles THOM erwiesen, daß der aufgefundene Stamm zur Gruppe TaucilGum cfaysogenum gehörte (THOM 1944). FLEMING hütete seinen Pilzstamm wie einen Schatz und stellte Subkulturen von ihm her, die bald sehr begehrt waren. Alle wissenschaftlichen und therapeutischen

Ausbeuten einschließlich der Großzüchtung stammten bis zum Ende des Jahres 1943 - von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. REID 1935)- vom Original- FLEMING-Pilz ab

FLEMINGS folgenreiche Beobachtung fiel in einen ganz normalen

wissenschaftlichen Alltag; aber die zufällige Konstellation der Umstände . resonierte er gelegentlich bei Vorträgen.

Ein Pinselschimmel sei durchs Fenster herein geflogen und habe Bakterien zerstört. Er habe das Phänomen bemerkt, sei ihm nachgegangen und habe eine Substanz mit außergewöhnlichen Eigenschaften entdeckt. Wieviel

Glücksumstände haben zusammen treffen müssen, um dieses zustande zu

bringen! Von tausend bekannter Schimmelpilzarten erzeuge nur eine einzige das fpCTMcißtn, und von Millionen in der Welt vorhandener Bakterien reagieren nur einige wenige auf das rPerwaZEn. Wäre jeder andere Schimmelpilz auf die gleiche Bazillenkultur gefallen, würde nichts geschehen sein. Wäre jener

Pinselschimmel auf eine andere Kultur gefallen, würde ebenfalls nichts geschehen sein. Und selbst wenn der richtige Schimmelpilz auf die richtigen Bakterien gefallen wäre, aber im falschen Augenblick, würde n iem a n d e n etwas aufgefallen sein. Ferner Hätte er, FLEMING, in jenem Augenblick etwas anderes im Kopf gehabt, würde er seine Chance verpaßt haben.

Was FLEMING selbst zur Zeit seiner Entdeckung noch nicht wissen konnte: der ursächliche Zusammenhang für den glücklichen Zufall der Entdeckung ist n ä h e r

besehen noch kurioser.

Denn der tieferliegende Grund der Beobachtung von FLEMING war nicht, d^ft sich die Pilzspore zufällig auf seine Petrischale absetzte. Was er beobachtete, war nämlich nicht - wie er annehmen mußte - eine direkte Wirkung des

‘Peniciüuis auf den Stapfiyfococcus, sondern eine Selbstauflösung der

Staphylokokkenkolonie, die nur unter sehr speziellen B e din g u n g e n auftritt, in Abhängigkeit vom Alter und dem entsprechenden physiologischen Zustand der Mikroorganismen. Die Anforderungen, die für die Auflösung von

Staphylokokkensuspensionen nach dem Kontakt mit 'Penicillin wesentlich sind, konnten erst sehr viel später (1945) aufgeklärt werden (CHAIN, DUTHIE 1945) CHAIN und DUTHIE waren über FLEMINGS Beschreibung des

(13)

Auflösungseffektes auf seiner Nährpilzplatte verwundert, da sie diesen Effekt niemals in flüssigen Kulturmedien reproduzieren konnten, ebensowenig wie FLEMING selbst. Nach langwierigen Untersuchungen stellte sich schließlich heraus, daß Staphylokokkenkolonien unter dem Einfluß von Tenicitthi tatsächlich aufgelöst werden, aber nur, wenn sie sich in Suspension in einem Medium

befinden, in dem sie potentiell in der Lage sind, zumindest eine Teilung zu durchlaufen.

Das gleiche Erfordernis für eine Auflösung betrifft das Wachstum des Pilzes.

Das schier unglaublich zufällige Zusammentreffen dieser Bedingungen bei FLEMINGS Beobachtung war eingetreten infolge der ungewöhnlich langen (zeitlich zufällig richtigen) Lagerung der Bakterienkultur und der erforderlichen Temperatur, die durch die besonderen klimatischen Bedingungen dieser Tage ebenfalls zufällig die richtige für den Auflösungseffekt war.

Selbst nachdem man diese Zusammenhänge erkannt hatte, blieb es rätselhaft, wie die zufälligen Konstellationen sich bei der Entdeckung von FLEMING eingestellt hatten; dies übrigens bis zum heutigen Tag.

HARE (1970) hat deshalb im Jahre 1966 eine Rekonstruktion der

Entdeckungssituation zu schaffen versucht. Er entwickelt zunächst eine ganze Argumentationskette darüber, weshalb die Spore nicht zum Fenster

hereingeflogen sein konnte: z.B. das Fenster sei nur selten geöffnet worden, die höchste erlaubte Temperatur für die Entwicklung des Tenicitßns sei 20°C - keine Temperatur, um unbedingt das Fenster zu öffnen, wenn es sonst schon kaum geschah; das Fenster sei so hoch angesetzt gewesen, daß FLEMING zu klein war, um es zu öffnen - er hätte auf den Tisch steigen müssen. Dafür sei aber der Tisch viel zu unaufgeräumt gewesen.

Woher kam also die Spore? Nach HAREs Auffassung durch die Tür. Monate vor der Entdeckung hatte nämlich ein holländischer Allergieforscher eine Reihe von Vorlesungen im ttomas Mospitatgehalten. Er entwickelte die Hypothese, daß einige Patienten, die an Asthma litten, weil sie allergisch gegen Pilze waren, in Häusern wohnen, deren Fundamente und Fußböden von diesen Pilzen befallen seien.

FREEMAN - wie FLEMING - ein Mitarbeiter von WRIGHT, war vom Gedanken, daß diese Pilze Asthma hervorrufen, stark beeindruckt und

überzeugte WRIGHT, einen jungen irischen Mykologen einzusetzen, um Pilze aus diesen Häusern zu isolieren. In kurzer Zeit sammelte der Ire eine

imponierende Palette von Pilzen aller Arten und kultivierte sie. Da es fast unmöglich war, die Belastung der Atmosphäre mit Sporen zu vermeiden, wenn mit Pilzen gearbeitet wird, führten die meisten ihre Arbeiten unter

Abzugshauben durch. Der Raum jedoch, in dem der Mykologe arbeitete, war

(14)

nicht als Labor eingerichtet. Er mußte normale Tische benutzen und ohne Abzugshaube arbeiten.

Dieses Notlaboratorium war in dem gleichen Türmchen in der Süd-Ost-Ecke des Gebäudes, wie FLEMINGS und unmittelbar unter diesem. Beide hatten Türen, die sich zu den Treppen öffneten und praktisch immer auch offen waren.

Alle diese Gründe legen die Vermutung nahe, daß die Pilzspore von FLEMINGS Entdeckung wahrscheinlich auch auf diese Weise aus dem Raum unter ihm durch die Tür in sein Labor gelangt ist.

Eine Zufallsentdeckung, die durch das Zusammentreffen einer ganzen Reihe von verschiedenen, nicht miteinander in Beziehung stehenden Ereignissen

zustandegekommen war:

- FLEMINGS gerade hinreichende Abwesenheit, weil er ein Kapitel für ein Buch zu schreiben hatte, verursachte die Zeitspanne für das erforderliche Wachstumsstadium von Staphyllokokken-Kultur und Pilz.

- Die Vorlesungen eines holländischen Arztes, die zur Bestimmung eines Mykologen führten, dessen Arbeiten direkt unter dem von FLEMING stattfand

- Das Glück des Mykologen, einen potenten penicillin-produzierenden Stamm des Pilzes zu isolieren.

- Ein ungeeignetes Labor, das die Atmosphäre mit Sporen belastete.

- Die hohe Wahrscheinlichkeit, daß FLEMING entweder vergaß seine Kulturplatte zu bebrüten oder es absichtlich unterließ.

- Die Tatsache, daß FLEMINGS Labor besonders empfindlich gegen äußere Temperaturen war.

- Die Tatsache, daß die erforderliche Temperatur durch eine Kältewelle zu einer Zeit des Jahres vorhanden war, die gewöhnlich ungeeignet für die

Entdeckung gewesen wäre.

- Der Besuch eines Kollegen (namens PRICE) bei FLEMING, die FLEMING dazu führte, eine Platte noch einmal zu betrachten, die er schon

kontrolliert und weggelegt hatte.

- Der Umstand, daß die Platte der Zerstörung entgangen war, wegen der vollkommen ungeeigneten Methoden für die Verbringung benutzter Kulturplatten.

Alle diese Ereignisse trafen im Labor von FLEMING in einer Weise zusammen, in der sie bis heute nicht vollständig reproduziert werden können.

Würde ein Glied in der Kette gefehlt haben, hätte die Entdeckung nicht stattgefunden!

(15)

Dieser Komplex von Zusammenhängen erklärt die Seltenheit der Beobachtung angesichts der Tatsache, daß Pilzverunreinigungen von Bakterienkulturen zum Laboralltag gehörten.

2 J Eine diskrete Forschungssequenz entsteht

Weshalb brach FLEMING sein Forschungsprogramm zum Penicillin ab?

Drei wesentliche Gründe ließen FLEMING sein Forschungsprogramm zum Penicillin abbrechen:

(1) Weder ihm , noch anderen Wissenschaftlern in seiner Umgebung, gelang die Isolation und Extraktion der wirksamen Substanz.

(2) FLEMING verfolgte in seinem Forschungsprogramm wegen seiner immunologischen Grundeinstellung tuul des entsprechenden Forschungsklimas unter Leitung von WRIGHT keine Strategie einer möglichen chemotherapeutischen Anwendung des Penicillins.

(3) Der ausschlaggebende Grund aber war: es schien völlig aussichtslos zu sein, mit dem flüchtigen Präparat mehr machen zu können, als erreicht worden war; die Schwierigkeiten, Unsicherheiten und Risiken, die drohten, viele Jahre wertvoller Forschungszeit zu beanspruchen - vielleicht ohne nennbares Ergebnis, ließ den Abbruch der Arbeiten als sehr sinnvoll erscheinen.

FLEMING züchtete seinen Originalstamm in Fleischbouillon und fand heraus, daß ein Pilzstamm in Oberflächenkultur wuchs und nach graugrüner Verfärbung durch Sporulation die wirksame Substanz in das Nährmedium ausschied. Der dabei auftretende gelbe Farbstoff blieb von FLEMING offenbar unbemerkt, da die Fleischbouillon eine gelbe Eigenfarbe hat. Diesen Farbstoff entdeckten bei Nachuntersuchungen mit verbessertem Nährmedium CLUTTERBUCK, LOVEL und RAISTRICK (CLUTTERBUCK et. al. 1932).

Die ersten methodischen Praktiken von FLEMING zum Nachweis der antibiotischen Wirkung des unbekannten Stoffes sind auf die entscheidenen Beobachtungen am Objekt zurückzuführen, die er unter den zufälligen

Bedingungen machte. Er imitierte nämlich die Diffusionsvorgänge, indem er aus einer Agarplatte einen Streifen herausschnitt und ihn mit einer Mischung von Agar und Pilzkulturflüssigkeit füllte. Im rechten Winkel hierzu setzte er Strichkulturen verschiedener Keimarten und wartete die Wirkung der antibakteriellen Substanz ab, die in den Agar diffundierte. Daß dieser

einfacheTest gelang, war einer objektiven Gegebenheit zuzuschreiben: Die bei 24 Grad C gebildete antibiotische Substanz wurde bei der für die Auskeimung der Bakterien notwendigen Bruttemperatur von 37 Grad C nicht zerstört. Das Ergebnis war aufregend: Außer Cb&Bakterien und PFEIFFERsche Influenza- 'Bazillen zeigten sich alle pathogenen Erreger in unterschiedlichem Maße empfindlich, u. a. die Stapfiyfofokfen, Bneumo(&i£gn und ‘Dipkterie-Bazitten.

(16)

Damit war erwiesen, Haß es sich um einen antibiotischen Stoff handelte.

FLEMING nannte ihn "Penicillin ".

Seiner Suchrichtung entsprechend mußte jetzt eine Frage beantwortet werden, die über den weiteren Fortgang der Arbeit entscheiden mußte: Wie ist die Wirkung des Penicillins auf tierische und menschliche Leukozyten in vitro?

Die experimentellen Ergebnisse waren verheißungsvoll, machten den wohl stärksten Eindruck auf FLEMING. Es konnte keinerlei schädigende Wirkung festgestellt werden. Unter großen Anstrengungen und mit den ihm zur

Verfügung stehenden Mitteln versuchte er nun eine Extraktion und

Konzentration der wirksamen Substanz zu erreichen. Daran war die Erwartung möglicher Heilversuche an Wundinfektionen gebunden. Aber zur großen

Enttäuschung FLEMINGS erwies sich das Penicillin als eine sehr labile Substanz.

Außerdem gelang ihm die Extraktion nicht. Die Wirkung war dennoch so beeindruckend, daß er vom Wert der Substanz überzeugt war. Dies alles geht bereits aus seiner ersten Publikation zum Penicillin hervor (FLEMING 1929). In seiner zweiten Arbeit über Antiseptika (FLEMING 1932) und auf dem

Internationalen Mikrobiologenkongreß 1936 in London empfahl er dringend, das hochwirksame Penicillin als Antiseptikum gegen Infektionen zu verwenden, die durch Erreger hervorgerufen werden, welche auf Penicillin empfindlich

reagierten, gerade auch, weil es im Gegensatz zu den damals gebräuchlichen Desinficienten die Leukozyten nicht schädige.

Dennoch fand das TeniciLm vorläufig keine therapeutische Anwendung; es wurde ausschließlich bakteriologisch für die Isolierung penicillin-resistenter Keimarten aus Mischkulturen genutzt.

FLEMING blieb aufgrund der gescheiterten Extraktion darüber hinaus auch nur die Möglichkeit, die penicillin-haltige Nährflüssigkeit in einigen Fällen

oberflächlich infizierter Wunden bei Menschen und am Auge anzuwenden.

Er hatte allerdings die Möglichkeit - auch mit den ihm verfügbaren Mitteln - chemotherapeutische Tierexperimente durchzuführen, deren Ergebnisse dann möglicherweise die richtigen Chemiker auf den Plan gerufen hätten. Daß er dies nicht tat, lag an seiner paradigmatischen Auffassung von der Immunologie, die weitgehend von seinem ehemaligen Lehrer und jetzigen Chef WRIGHT geprägt war, der ein international anerkannter Immunologe und Gegner der

paradigmatischen Grundeinstellung der Chemotherapie war.

Als exzellenter Experimentator zeichnete sich FLEMING durch eine

Beobachtungsgabe aus, der kaum eine wichtige Einzelheit entging. Dies ließ ihn bei aller Zufälligkeit, das Penicillin entdecken, wie schon zuvor (1922) das

Lysozym, aber seine wissenschaftliche Grundeinstellung war von Almroth

(17)

WRIGHT geprägt, der überdies das Forschungsgeschehen seines Bereiches ziemlich rigide in den Bahnen seiner eigenen Auffassungen hielt. FLEMINGS Sekretärin, Mrs. BUCKLEY, sagte über das Verhältnis von WRIGHT und FLEMING: "Was mir von Anfang an auffiel, war die außerordentliche

Verschiedenheit dieser Männer, des großen Lehrers und des großen Schülers: Sir Almroth, der geschliffene Intellektuelle und gewandte Akademiker, und ihm gegenüber Professor FLEMING mit seinem mächtigen Verstand, aber einer viel kindlicheren Art, an die Dinge heranzugehen. Er war von erstaunlicher

Simplizität, und ich nehme an, daß es gerade diese Simplizität war, die ihn so häufig an die richtige Lösung heranführte. Ja, sie hatten ganz verschiedene Ansichten, aber fur Sir Almroth war der Professor der treueste seiner Schüler."

(MAUROIS 1962: 221)

Selbst wenn FLEMING weniger die immunologische Auffassung von WRIGHT geteilt hätte, was in Kenntnis der späteren Entwicklung zugunsten FLEMINGS oft unterstellt wurde, hätte er wohl kaum chemotherapeutische Versuche am Menschen zum Ziel gehabt Und wenn er doch solch eine Absicht verfolgt hätte, ist kaum vorstellbar, daß WRIGHT in ein derartiges Vorhaben eingewilligt hätte.

WRIGHT war überzeugt daß alle Infektionskrankheiten durch die Aktivierung von Antikörpern geheilt werden könnten: entweder, weil Antikörper von Natur aus im Blut vorhanden wären oder weil ihre Entstehung durch Impfung angeregt würde, schließlich, daß man sie durch fremdes Serum einführe, wie die großen Erfolge der von dem KOCH-Schüler BEHRING entwickelten Serumtherapie zeigten. In dieser Ansicht wurde WRIGHT infolge seiner eigenen

Forschungsarbeit bestärkt, die er in einer glücklichen Verbindung der sogenannten "Zellular-Theorie" und "Humoral-Theorie" sah.

Die Zellular-Theorie wurde von METSCHNIKOW vertreten, einem aus

Rußland stammenden Bakteriologen v o m " Institut $astetu1'. METSCHNIKOW, der wie andere Gelehrte der Frage nachging, wie der Organismus unter

natürlichen Bedingungen für die Abwehr der Krankheitserreger sorgt, hatte einen wesentlichen Mechanismus dieser Abwehr entdeckt: die Phagozytose.

Den Gedanken, daß gewisse Zellen als eine Art Polizisten des Organismus den lebenden Körper gegen Eindringlinge verteidigten, prüfte er an Seestemlarven.

Die Erklärung dafür, wie die Phagozyten die Bakterien verdauten, beruhte nach METSCHNIKOW auf Verdauungsfermenten oder Diastasen, die im Zellinnem die gleiche Funktion ausübten, wie die Verdauungsfermente des Speichels oder des Magens. Dieser Zellular-Theorie gegenüber wurde insbesondere in

Deutschland eine Humoral-Theorie vertreten, nach der die Aktivität von Körpersäften, von flüssigen Substanzen und vereinzelt von Blutseren

(18)

angenommen wurde. Im Laufe von fünfzig Jahren hatten PASTEUR

(FLEMINGS Ideal eines Wissenschaftlers), BEHRING, ROUX und WRIGHT eine Wandlung in der Verhütung und Behandlung von Infektionskrankheiten herbeigefuhrt und EHRLICH gab gerade mit seinem Salvarsan der

Chemotherapie neue Impulse. FLEMING indes folgte weiter seinem

immunologischen Konzept und analysierte körpereigene Säfte (Blut, Speichel, Tränen, Nasenschleim) mit dem Ziel, körpereigene Abwehrsubstanzen zu gewinnen, um mit einem bestimmten Konzentrationsgrad derselben, die Wirkungskraft der (Phagozyten zu stärken. Auf diesem Wege seiner eigenen Suchrichtung fand er 1922 das Lysozym, das aber keine Wirkung auf pathogene Erreger hatte, aber später eine gewisse Bedeutung für die Konservenindustrie und innermedizinische Praxis bekam.

Bezeichnend ist auch, daß in der Originalpublikation von FLEMING aus dem Jahre 1929 nicht ein einziges Mal das Wort "Chemotherapie" auftaucht. Sein ganzes medizinisches Leben hindurch interessierte sich FLEMING für die

antibakterielle Wirkung des Blutes und die Antiseptika; deshalb wohl betonte er so sehr, daß (Penicittinin vitro, in einer Lösung von 1 in 600, das Wachstum der Staphylokokken vollständig hemmt, die Leukozytenfunktion indes in keinem größeren Ausmaße störe als eine gewöhnliche Nährlösung.

Indem er die Wirkung des (Penicillins auf die (Phagozytose, und seine Experimente fast ausschließlich auf antibakterielle Untersuchungen in vitro bezog, sprach er dezidiert Wissenschaftler der eigenen paradigmatischen Orientierung an.

1932, drei Jahre, nach dem die Entdeckung publiziert worden war, erschien eine Arbeit von CLUTTERBUCK, LOVEL und RAISTRICK in der Nr. 127 der Reihe "Studies on the Biochemistry of (Microorganisms'. In direktem Kontakt mit FLEMING stehend, waren sie mit den Einzelheiten seiner Beobachtungen vertraut. Sie waren erfolgreich beim Fermentieren von ■Penicillin aus FLEMINGS Stamm, in einem einfachen mineralischen Medium mit Glukose als

Kohlenstoffquelle. So hofften sie, das (Penicillin bequem isolieren zu können.

Doch die antibakterielle Wirkung ging sowohl in saurer als auch alkalischer Lösung verloren, entweder während der Verdampfung einer Ätherlösung im Luftstrom oder im Vakuum bei 40-45 C Es fand sich kein Weg, das iPcniciZZw. zu isolieren und zu extrahieren.

Wieder einige Jahre später, 1935 wiederholte Roger REID vom (Pennsylvenia State College die Fermentierung in einem synthetischen Medium. Er fand, daß die

antibakterielle Aktivität des Penicillins relativ wärmestabil ist, konnte es jedoch nicht durch Dialyse vom Rest des Filtrats abscheiden und durch Filtrierkohle oder Destillation bei niedriger Temperatur absorbieren,.

(19)

Im Rückblick mochte man nach diesem und jenem Grund fragen, weshalb FLEMING und die Wissenschaftler seiner näheren Umgebung nicht

hartnäckiger an der Ausarbeitung der Entdeckung gearbeitet haben, obwohl sie wußten, daß die Penicillin-Lösung als Antiseptikum sich so drastisch von anderen bekannten Antiseptika unterschied.

Aber es gab eine simple und völlig einleuchtende Erklärung, nach all den mißlungenen Bemühungen, das Tenicitön zu isolieren und zu extrahieren; die Annahme nämlich (auch von FLEMING), daß es die Schwierigkeiten, die unabsehbaren Hürden und Ungewißheiten, nicht lohne auf sich zu nehmen, zumal ganz inffage stand, ob je ein ökonomisch herstellbares Präparat würde erreicht werden können.

Lange Zeit glaubte man, daß nur der FLEMENGsche Original-Stamm ‘Penicittin produziere. Später erwies sich diese Annahme als Irrtum. Man fand nicht nur andere fPenici/Zium notatwn- Stämme, die Tenicifän produzierten, sondern auch andere Penicittuimr Arten und auch einige Aspergittus-Arten, die diese Fähigkeit aufwiesen. Während des 2. Weltkrieges war es so gut wie unmöglich,

Subkulturen des Original-FLEMING-Stammes zu erlangen, da er durch

Abkommen zwischen den USA und England sorgfältig zurückgehalten wurde.

2 3 Rückkopplung zwischen diskreten Forschungssequenzen

Wie kam es zum erneuten Rückgriff auf die Arbeit von FLEMING aus dem Jahre 1929?

Der mikrobielle Antagonismus wurde seit Jahrzehnten verstreut in verschiedenen Disziplinen erforscht, Z.B.

der Biologie, Bakteriologie, Immunologie. Die Problemsicht war Ende der dreißiger Jahre soweit gediehen, daß eine integrierende biochemische Fragestellung zu all den bisher gefundenen Substanzen in der Genesis und Logik dieser Entwicklung lag. CHAIN war dann der erste, der diese integrierende Frage stellte, sich ihrer annahm und zu einem Ergebnis kam, das die Grundlage dafür bildete, die bisher verstreuten Forschungs-Sequenzen des Spielraumes des mikrobiellen Antagonismus - unter einem neuen wissenschaftlichen Gesichtspunktzu integrieren, und dessen gemeinsames Potential zu aktivieren.

Kehren wir zu A66.1 zurück Wie zu sehen ist, wird die Penicillin-Revolution sichtbar ausgelöst mit dem sprunghaften Anwachsen einer

Wissenschaftlergemeinschaft und ihrer Publikationstätigkeit.

Was hatte sich ereignet?

Im Jahre 1940 erscheint in Xoncee eine Arbeit über die chemotherapeutische Kraft von Tenicittm bei bakteriellen Infektionen von Mäusen. Die dargestellten Ergebnisse hatten etwas Dramatisches, wiesen sie doch auf eine Substanz hin, für deren Wirkung bisher keine vergleichbare Größenordnung bekannt war.

(CHAIN et. al. 1940) Ein Jahr später folgte aus dieser Gruppe eine Arbeit, wiederum in Lancet veröffentlicht, die erheblich mehr Aufsehen erregte. Diesmal

(20)

wurde berichtet» daß der Pilzmetabolit Tenicittin bemerkenswerte

chemotherapeutische Wirkungen bei klinischen bakteriellen Infektionen zeigte.

Und was besonders beeindruckend war, die Wirkung erstreckte sich auch auf Infektionen, die von StapfiyCofoltfus aureus hervorgerufen werden. Bislang gab es keine antibakterielle Substanz, die in vivo eine zufriedenstellende

chemotherapeutische Aktivität gegen sie aufwies - auch kein Mitglied der Sulfonamide, der bisher einzigen bekannten Gruppe von hochwirksamen antibakteriellen Substanzen.

Dieser Arbeit kommt eine Schlüsselrolle für die einsetzende revolutionäre

Entwicklung zu; sie steht am Fuße des sprunghaften Anwachsens der Penicillin- Publikationen.

Wie konnte diese Arbeit entstehen, nachdem Anfang der dreißiger Jahre Tenicdßn als ein aussichtsloses Unterfangen erschienen war?

Im Jahre 1935 wurde Professor H. W. FLOREY zum Lehrstuhlinhaber für Pathologie in Oxford berufen. Sein Gegenstand war die experimentelle

Pathologie. Er beabsichtigte eine entsprechende Abteilung aufzubauen. Dazu bedurfte es einer gewissen internen biochemischen Flankierung der Arbeit.

FLOREY selbst jedoch besaß keine spezifische biochemische Ausbildung. Er wandte sich deshalb an Sir Frederick Gowland HOPKINS den Leiter der Sir

‘William Dünn School c f‘Siodiem.ütry in Cambridge, eines der führenden

Weltzentren für biochemische Forschung. Er sollte FLOREY bei der Berufung eines geeigneten Biochemikers beraten. Die Wahl fiel auf Emst Boris CHAIN.

Dieser war wegen seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland emigriert.

Eines der wissenschaftlichen Hauptinteressen von CHAIN war die

Wirkungsweise neurotoxischer Schlangengifte. In Cambridge hatte CHAIN gefunden, daß einige der wirksamsten Schlangengifte die Eigenschaft hatten»

unter bestimmten Bedingungen Glykolyse und alkoholische Fermentierung zu hemmen. (CHAIN 1937) In Oxford setzte CHAIN diese Arbeit fort.

Schließlich gelang ihm der Nachweis eines Wirkprinzips in den

Schlangengiften. Er konnte zum ersten mal die Wirkungsweise eines natürlichen Tatüw mit Eiweißnatur auf biochemische Weise als diejenige eines ‘Enzyms

erklären, das auf einen lebenswichtigen Bestandteil der Atmungskette w irkt Beim ersten Zusammentreffen von FLOREY und CHAIN, bei dem das mögliche künftige Forschungsprogramm der biochemischen Abteilung in seinem Institut besprochen wurde, machte FLOREY seinen neuen Mitarbeiter auf ein lytisches Phänomen aufmerksam, mit dem er sich selbst einige Jahre befaßt hatte.

(GOLDSWORTHY, FLOREY 1930)

(21)

Im Jahre 1924 hatte nämlich Alexander FLEMING im St. Marys MbspitaC in London beobachtet, daß Tränen, Nasensekretion und Hühnereiweis eine Substanz enthält, die in der Lage war, dickflüssige Suspensionen eines

säpropfytiscbcn ‘Bakteriums aufzulösen, das FLEMING aus der Luft isoliert hatte.

Das Bakterium wurde von FLEMING als Micrococcus Cysodcicticus bezeichnet Die aktive lytische Substanz, die er Lysozym nannte, hatte offensichtlich

enzymatische Eigenschaften; unbekannt aber war, auf welches Substrat in der bakteriellen Zelle es wirkte. Und FLOREY lenkte die Aufmerksamkeit von CHAIN darauf, dieses Substrat zu isolieren und zu charakterisieren, falls es ein Enzym sei. FLOREYs Interesse am Lysozym war nicht eigentlich dessen

antibakterielle Kraft; er vermutete vielmehr, es könne in den Mechanismen der natürlichen Immunität beteiligt sein. Das Problem fiel genau in das

Interessengebiet von CHAIN. Er begann mit der Arbeit dazu im Jahre 1936.

Zusammen mit L. A. EPSTEIN, einem amerikanischen Rhodes-Stipendiaten, konnte er zeigen, daß Lysozym ein Lnzym von polysaccharidase-natur war, das auf Polysaccharidwirkte, welches aus getrockneten Zellen des Bakteriums M.

(ysodeicticus isoliert wurde. CHAIN und EPSTEIN waren in der Lage, das Polysaccharid zu charakterisieren, indem sie zeigten, daß ^azetyC-QCukgse und andere Zucker ihre Hauptbestandteile sind. Diese Arbeit sollte, wie sich erst in den folgenden Jahrzehnten herausstellte, der Ausgangspunkt einer

biochemischen Forschungsrichtung werden, wofür sie die Grundlagen legte: Die chemische Natur der bakteriellen Zellwandlung und deren enzymatische

Hydrolyse und Synthese (EPSTEIN, CHAIN 1940).

Im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung fertigte CHAIN einen Überblick an, in dem er die bakteriolytischen Mittel erfaßte. Dabei wurde er mit

verschiedenen Fällen der Lysis einer bakteriellen Art durch eine andere bekannt;

besonders mit der Bakteriophage und ihrer kraftvollen bakteriolytischen Fähigkeit, über die schon damals eine umfangreiche Literatur existierte.

"So stolperte ich", berichtet er "mehr oder weniger zufällig über das wohlbekannte Phänomen des mikrobiellen Antagonismus, das zuerst von Pasteur und Joubert sehr klar beschrieben wurde (1877)" (CHAIN 1971:

296/297)*)

*) I thus stumbled, more-or-less accidentally, across the well-known phenomenon o f microbial antagonism, first

discribed very lucidly by Pasteur & Joubert (1877).

Dieser Umstand - und nicht etwa eine direkte Erkenntnis der Bedeutung von FLEMINGS Ergebnis - führten zu einer Rückkopplung in der Forschung, die einen ganzen Raum von sequentiellen Feldern der Wissenschaft betraf.

(22)

CHAIN sammelte etwa 200 Mitteilungen über Wachstumshemmungen, die infolge der Wirkung von 'Bakterien, Streptomyceten, Bitzen und 9-tefen. aufeinander verursacht wurden. Er griff auf Ergebnisse eines Forschungsraumes zurück, die in Jahrzehnten von getrennten Feldern erarbeitet worden waren. Es gab keinen Zweifel, daß die Wachstumshemmung in vielen Fällen durch spezifische Metaboliten verursacht war, die von den verschiedenen Mikroorganismen produziert worden waren.

Der springende Punkt aber, der CHAINs Interesse erregte, war, daß die

chemische oder biologische Natur der hemmenden Substanzen fast unbekannt war. Deshalb schien ihm die diesbezügliche Aufklärung als ein interessantes und lohnendes Erkundungsgebiet. Er wandte sich daher an FLOREY und erfuhr in diesem Gespräch einiges aus dessen Kenntnis über die Existenz des Gebietes des mikrobiellen Antagonismus (GOLDSWORTHY, FLOREY 1930).

Beide entschieden, gelegentlich gemeinsam systematische Untersuchungen antibakterieller Substanzen zu unternehmen.

Doch die dafür notwendigen Geräte konnten nicht beschafft werden. Das Institut hatte sein Konto bereits um 500 Pfund überzogen.

FLOREY teilte daher mit, daß CHAIN in Anbetracht dieser Situation verzichten müsse, Anlagen beliebiger Art zu bestellen, und sei es nur ein Glasstab’ Die Alternative lautete: Aufgabe des Vorhabens (wenigstens vorläufige) oder Suche nach gangbaren Wegen, das Ziel doch zu erreichen.

CHAIN wandte sich zuerst mit der Bitte für eine Unterstützung des

Forschungsprojektes an das MedicatResearch Councit (M. C) \ erfolglos, denn mit der äußerst bescheidenen Zuwendung, war nicht daran zu denken, ein

Forschungsprogramm zu finanzieren.

CHAIN wurde klar, daß sie von Universität und Regierung unabhängig werden und nach privaten Finanzierungen suchen müßten, wenn sie überhaupt

irgendwelche Fortschritte erreichen wollten. "Ich dachte, daß ein langfristiges Projekt, das uns für eine Anzahl von Jahren beschäftigen würde, das Beste für uns wäre, da wir nicht jedes Jahr die qualvolle Erfahrung einer

Finanzierungserhöhung machen müßten und ich begann intensiv über mögliche Gegenstände für ein derartiges Projekt nachzudenken. Die systematische

Untersuchung der von Mikroorganismen produzierten antibakteriellen Substanzen erschien für diesen Zweck ideal.” (CHAIN 1971: 297)*)

*) I thought that a longterm project which would keep us going for a number o f years would suit as best so that we would not have to go through the agonizing experience of fund raising every year, and I started to think intensely about possible subjects for such an project. The systematic study o f antibacterial substances produced by micro-organism seemed ideal for the purpose.

(23)

Die Rockefeller Foundation hatte zuvor eine kleine Unterstützung für Anlagen gegeben. CHAIN und FLOREY berieten daher die Möglichkeit, sich an diese Organisation zu wenden. Nach einem informellen Kontakt wurde FLOREY mitgeteilt, daß ein langfristiges biochemisches Forschungsprogramm günstige Aussichten hätte, nicht aber ein medizinisches. FLOREY beauftragte deshalb CHAIN, ein solches Programm zu formulieren. Einige Monate später legten sie ihren Antrag vor, auf den sie eine günstige Antwort bekamen: Für fünf Jahre wurde ihnen eine Summe von 5000 Dollar jährlich bewilligt.

2.4. Rückkopplung und Selektion

Wie kam es erneut zur Arbeit über das Penicillin? •

Die Entdeckungen der M itarbeiter von F L O R E Y , insbesondere die von C H A IN entstanden nicht - wie üblicherweise angenommen - im direkten Rückgriff auf die Entdeckung von F L E M IN G .

Sie entstanden vielmehr

a) infolge der erstmaligen Inspektion der raum-zeitlich, zersplitterten, wichtigsten Entdeckungen von verschiedenen diskreten Sequenzen der Forschung;

b) infolge einer diese Anordnung einigenden neuen Fragestellung der Biochemie durch CHAIN und c) infolge der allmählichen Selektion der fü r besonders interessant gehaltenen Beobachtungen in einem drei Jahre währenden Arbeitsprozeß. Zu den selektierten Beobachtungen gehörte auch FLEMINGS Entdeckung!

Die Verbindung der Entdeckung von FLEMING und der Entdeckungen von CHAIN und FLOREYs Mitarbeiter kam als eine Rückkopplung zu diskreten Forschungssequenzen zustande, und lediglich e i n e von ihnen war die Forschungssequenz von FLEMING!

Bei großzügiger Betrachtung des historischen Vorganges in der Retrospektive erscheint die Arbeit der Gruppe von FLOREY am (Penictfßn als direkter

Rückgang auf die Entdeckung von FLEMING im Jahre 1929, so als wären FLOREY und CHAIN im Gegensatz zu anderen hellsichtiger gewesen und hätten die Bedeutung der FLEMINGschen Entdeckung von vornherein erkannt, während es etwa anderen an Übersicht mangelte. Ist es so gewesen? Wie waren die weiteren mikrostrukturellen Bedingungen, unter denen sich die

wissenschaftliche Revolution formierte?

Zunächst einmal ist interessant, daß das vorgeschlagene Forschungsprogramm mehrere Projekte enthielt, von denen ein Projekt den von Mikroorganismen produzierten antibakteriellen Substanzen galt. Das Projekt leitete CHAIN mit einem umfangreichen Literaturstudium ein. Auf diese Weise verschaffte er sich einen guten Überblick über einschlägige Ergebnisse der Bakteriologie,

Chemotherapie, Biologie und Immunologie. Anfang 1938 stieß er bei dieser Beschäftigung auf eine Arbeit von FLEMING aus dem Jahre 1929 im Journafof

(24)

Experimental Pathology (FLEMING 1929). FLEMING hatte gezeigt, daß ein Pilz der Gattung ^eruri/Zambakteriolytische Eigenschaften gegenüber dem

StaphyCohohfos hatte. Man hatte es wieder mit jenem Wissenschaftler zu tun, der sieben Jahre zuvor (1922) das Lysozym entdeckt hatte, das FLOREY von seiner vorangegangenen Forschungsarbeit vertraut war. FLEMINGS Mitteilungen beeindruckten CHAIN wegen des gut beschriebenen bakteriellen Antagonismus und der offenen biochemischen Fragestellungen. Zunächst dachte CHAIN, FLEMING habe eine Art Pilzlysozym entdeckt, das, im Unterschied zu

Eiweißlysozym, auf einen weiten Bereich grampositiver pathogener Bakterien wirkte. Ferner dachte er, daß die Zellwandung all dieser pathogenen Bakterien, deren Wachstum durch Penicillin gehemmt wurde, ein gemeinsames Substrat enthielte, auf das das angenommene Enzym wirkte. Diese, wie sich später herausstellte, falsche Annahme aber war es, die CHAIN bewog, zu versuchen, das hypothetisch angenommene Substrat zu isolieren. Ist das nicht ein weiteres Indiz dafür, wie gering der direkte oder einzelne Bezug zur Publikation von FLEMING maßgeblich für die Entstehung der neuen Wissenschaftsstruktur war und wie dominant die sequentielle Ordnung das Geschehen bestimmte?

Die Annahme CHAINs, daß er es mit einem ‘Enzym zu tun habe, wurde durch eine Arbeit von RAISTRICK aus dem Jahre 1932 bestärkt, der infolge

persönlicher Bekanntschaft mit FLEMING biochemische Untersuchungen des Penicillins bereits unternommen hatte (CLUTTERBUCK, LOVEL, RAISTRICK 1932). RAISTRICK und seine Mitarbeiter hatten die bereits von FLEMING beobachtete Instabilität des Penicillins bestätigt und erweitert. Sie hatten

beobachtet, daß das Wirkprinzip verschwand, wenn das Kulturmedium mit dem leicht sauren Penicillin extrahiert wurde, das nach dem Verdampfen des Äthers nicht zurückerhalten werden konnte. CHAIN interpretierte diese Ergebnisse als eine Oberflächendenaturierung des von ihm angenommenen aktiven ‘Proteins, angezeigt durch das Äther und in Analogie zum Lysozym. Schon bei seinen ersten Experimenten aber mußte er feststellen, daß seine Arbeitshypothese vollständig fehlerhaft war.

Etliche Jahre später erwies sich die Annahme von CHAIN als doch nicht ganz abwegig, aber sie stand in einem ganz anderen Zusammenhang. Im Verlauf der späteren Untersuchungen über die Struktur der bakteriellen Zellwandungen stellte sich nämlich heraus, daß penicillin-empfindliche Bakterien ein

gemeinsames Substrat polysacharider-peptider Natur enthalten. Und Penicillin.

wirkt nicht als ein hydrolytisches Enzym, wie Lysozym, sondern als Hemmer eines

Szlsi/w transpeptidaser Natur, das den letzten Schritt der Synthese der

Zellwandung des Mucopeptids bewirkt, der Querverbindung einer Peptidkette mit einer anderen, infolge der Beseitigung von Alanin.

(25)

Die ersten Experimente zeigten CHAIN, daß Tenicittin kein Protein war, sondern eine niedrigmolekulare Substanz. Er war enttäuscht, daß sich seine schöne Arbeitshypothese in Luft auflöste. Die Instabilität des Penicittins wurde noch rätselhafter, da es kein Protein war und nicht auf dieser Grundlage erklärt werden konnte. Für den Biochemiker CHAIN war diese Situation eine wissenschaftliche Herausforderung. Zu jener Zeit war nämlich keine andere antibakterielle

Substanz bekannt, die einen derartigen Instabilitätsgrad aufwies wie das

Penici&n. Es wurde sehr reizvoll, herauszufinden, welche Strukturmerkmale für die Instabilität verantwortlich waren. Man hatte es offensichtlich mit einer chemisch sehr ungewöhnlichen Substanz zu tun.

CHAIN wollte daher die Arbeit unbedingt fortsetzen; wenngleich die Art seines Problems sich verändert hatte: Anstatt Isolierung eines 'Enzyms und

Untersuchung seiner antibakteriellen Wirkungsweise stand er jetzt vor der

Aufgabe, die Struktur einer niedrigmolekularen Substanz aufzudecken, die hohe antibakterielle Kraft mit großer chemischer Instabilität vereinte.

Die ersten Experimente dienten der Aufklärung der Stabilität von Penicißin in wässriger Lösung von verschiedenem pH-Wert. Stabilität zeigte sich nur zwischen pH-Wert 5 und 8, aber unter stärker sauren und alkalischen

Bedingungen wurde Penicdün schnell inaktiviert. RAISTRICKs Ergebnisse aus dem Jahre 1932 wurden bestätigt.

Es erwies sich jedoch als möglich, die Aktivieiungsgeschwindigkeit im sauren pH-Bereich durch Abkühlung auf 0 Grad C zu senken. Auf dieser Grundlage wiederum konnte eine Methode entwickelt werden, PeniciiGn aus der wässrigen sauer gemachten, gekühlten Lösung zu extrahieren, so daß eine beachtliche Konzentration und Reinheit des Penicifäns erreicht werden konnte.

Den methodischen Fortschritt ermöglichte die Anwendung eines Verfahrens, das zur gleichen Zeit auf einem anderen Gebiet genutzt wurde: GREAVES hatte gerade in Cambridge die Methode der Gefriertrocknung für die Trocknung von Blutserum eingeführt. Und diese Methode erwies sich auch für die Lösung des Problems von CHAIN als erfolgreich. Auch das scheint ein Indiz für die

sequentielle Ordnung des Forschungsraumes zu sein, in deren Abhängigkeit sich erfolgreiche Pfade ausbilden.

Man erhielt ein braunes Pulver, das eine beeindruckende antibakterielle Aktivität aufwies. Ein Mäusetest erwies die offensichtliche Nichttoxizität der gefundenen hochwirksamen antibakteriellen Substanz. Mit Ausnahme der Suifonamide war zu jener Zeit kein antibakterielles Präparat bekannt, das vergleichbare

Eigenschaften aufwies. Die Folgerungen aus diesem Test waren daher weitreichend; er wurde daher wiederholt - mit dem gleichen Ergebnis.

(26)

Der Urin der Mäuse wies die gleiche dunkle Farbe wie die Penicillinzubereitung auf. Daraus konnte der Schluß gezogen werden, daß das ‘Pcnicittin ohne

Wirksamkeitsverlust durch den Körper der Maus ging. Vom

chemotherapeutischen Standpunkt aus gesehen, war das vielversprechend.

Deshalb wurde mit Hilfe des Bakteriologen GARDNER aus FLOREYs Gruppe mit acht Mäusen ein therapeutisches Experiment durchgeführt. Vier von diesen wurden durch wiederholte Penicillininjektionen behandelt, nachdem alle acht zuvor mit einem krankheitserregenden Stamm von Streptococcus fiaemoCytiats infiziert worden waren; vier Mäuse dienten als Kontrolltiere.

Nach 24 Stunden waren die Kontrolltiere tot, die vier behandelten überlebten.

Dieses Experiment konnte als erstmalige Demonstration der chemotherapeutischen Wirkung des Tenicittins angesehen werden.

2 3 Die Zelle einer neuen Forschungsstruktur entsteht

Wie entstand die "Oxforder Gruppe"?

Die Oxforder Gruppe ist ursprünglich nicht mit dem Ziel entstanden, als Team an der praktischen Nutzung des Penicillins zu arbeiten. Die Gruppe formierte sich als "Penicillin-Team" erst im Zusammenhang mit der sukzessiven Selektion des Penicillin-Problems innerhalb eines wesentlich weiter gefaßten

Forschungsprogramms.

Erst infolge des Nachweises der chemotherapeutischen Wirkung des Präparates, entstand die Zusammenarbeit mehrerer Wissenschaftler zur programmatischen Erforschung des Tcnicifäm. CHAIN hat ausdrücklich auf Darstellungen

hingewiesen, die den Vorgang verfälschten, indem unterstellt wurde, es habe ein

"Oxford-Team” gegeben, so, als habe es von vornherein wegen der richtigen Bewertung des Ergebnisses von FLEMING, mit dem Ziel, der praktischen Nutzung des Präparates, gearbeitet.

Wegen der Instabilität der Substanz war aber ursprünglich eine mögliche praktische Nutzung als wenig verheißungsvoll angesehen worden. Daß die Arbeit als Beitrag zur Kriegsanstrengung begonnen wurde, entbehrt jeder

Grundlage. Dieses Motiv spielte allerdings später eine große Rolle, als nämlich der therapeutische Nachweis der Wirksamkeit des *Penici(Gns für den Menschen gelungen war.

CHAIN berichtet über den Beginn der Arbeit: "Der einzige Grund der mich motivierte, die Arbeit über Tmicittin zu beginnen, war wissenschaftliches

Interesse: Ich zweifle tatsächlich sehr stark, ob es mir zu jener Zeit in einem der sogenannten 'missionsorientierten', praktisch gesonnen, industriellen

Laboratorien gestattet worden wäre, dieses Problem zu untersuchen. Die

(27)

Interesse begonnen wurde, aber Konsequenzen von sehr großer praktischer Bedeutung hatte, ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, scharfe Grenzen zwischen reiner und angewandter Forschung zu ziehen." *) (CHAIN

1971 301)*)

*) The only which motivated me to start the work on penicillin was scientific interest I very much doubt, in foe*, whether I would have been allowed to study this problem at that time in one o f the so-called mission oriented minded industrial laboratories. The research on penicillin which was started as a problem o f purely scientific interest, but had consequences o f very great practical importance is a good example o f how difficult it is to demarcate sharp limits between pure and applied research.

Bevor FLOREY und CHAIN auf das Tenicittin gestoßen waren und diesem

wegen seiner wissenschaftlichen Interessantheit die höchste Priorität einräumten, hatten sie sich für eine systematische Untersuchung von antibakteriellen

Substanzen entschieden. Der ursprüngliche Suchraum, aus dem die

Beschäftigung mit dem TeniciCGn hervorging, war wesentlich weiter gefaßt. Es gab zu dieser Zeit noch keine ’Penicillin-Forschergruppe’, wie sie später entstand. Auf dem Programm standen vorerst auch noch andere interessante Substanzen, die - wie das T&nicittin - auch im ersten Antrag an die Rockefeller- Stiftung genannt sind: Tyocyanase, und Actinomycetin.

Tyocyanase war ein lytischer Grundbestandteil, der von Tseudomonas pyocyanase.

produziert wurde; A:ftzuwM/cettn ein lytischer Grundbestandteil von Jfctinomz/c&y Aus der Literatur war bereits bekannt, daß die Actinomyceten eine reiche Quelle antibiotischer Substanzen waren, unabhängig davon, ob man hoffen durfte, bei der Vielzahl der für den Menschen giftigen Substanzen, jemals reine von therapeutischer Brauchbarkeit finden zu können. Später wurde die Mehrzahl der klinisch verwendeten Antibiotika auf ihrer Grundlage gewonnen. Ohne dies wissen zu können, erschien das Gebiet FLOREY und CHAIN interessant genug, um zu beschließen, sich auf diese Klasse von Mikroorganismen zu

konzentrieren. Daß wenige Jahre später ihr Penicillin-Programm Favorit werden würde, hat zu dieser Zeit keiner von ihnen ahnen können, auch nicht, daß es schon bald während des zweiten Weltkrieges verfügbar würde, als es am meisten benötigt wurde, und die Kriegsbedürfhisse die Entwicklung der neuen Forschungsrichtung enorm beschleunigte. Keiner hätte sich vorstellen können, daß man bereits an der Schwelle eines gigantischen wissenschaftlich-

technischen Forschungsprogramms von höchster Priorität stand.

Das erste Zusammenfinden einiger Forscher zur Erkundung des Tzniciflbts stand • unter anderen Vorzeichen. Erst das Ergebnis der Demonstration der

chemotherapeutischen Wirkung des T&nicittins im Tierversuch führte dazu, daß in der Abteilung von FLOREY eine Tendenz zu einer gewissen Konzentration auf die Erforschung des Tznicittins einsetzte. Um so schnell wie möglich Fortschritte

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Diese Vorstellung vom Wert des Individuums, des Individualismus geht auf das Erbe der griechischen Antike, die ja wiederentdeckt wurde, zurück und ist Ausgangspunkt für eine

Zur Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus bis zum Beginn der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution.. Was die Entstehung des Kapitalismus bedeutet

Das CO„ entstammt einer instabilen Carboxyl- gruppe, und die Titrationskurve des Penicillins, das an und für sich eine Monocarbonsäure ist, zeigt das Auftreten einer

strakten Kategorien und widmen sich nicht nur eng umgrenzten Spezialproblemen, sondern schon dadurch, daß sie Menschen sind, für die ihre Lebenstätigkeit mehr

In nur wenigen Jahren konnten die deren Funktionsweise sind allerdings nur teilweise Wirkungsgrade dieser PV-Technologie von 3,8 % auf bekannt und bergen noch viele

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat daher im Jahr 2017 eine Liste der resis- tenten Bakterien erstellt, gegen die dringend neue Antibiotika entwickelt werden müss- ten.. 5

Die Erforschung neuer Antibiotika ist nicht nur ein Thema für beste- hende Forschungsvorhaben und Netzwerke, sondern auch für das Deut- sche Zentrum für Infektionsforschung (DZIF),

Wie die Ergebnisse zeigen, konnten in den beiden ersten Jahrgängen alle Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden, welche die vorgegebenen Kriterien erfüllen. Es wurden nur