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er politische Mißbrauch der Psychiatrie in der So- wjetunion gilt uns als er- wiesen, nicht zuletzt durch die Schilderungen zahlreicher Opfer dieser verbrecherischen Praxis. So- wjetische Autoritäten, die dies stand- haft und fintenreich abstreiten und als Verleumdung bezeichnen, sind unglaubwürdig. Neu ist aber für uns, daß diese bequeme Methode, unlieb- same Gegner auszuschalten, offen- bar auf bewährten internen Traditio- nen beruht. Die neue Glasnost hat auch dieses Tabu-Thema der öffent- lichen Diskussion zugänglich ge- macht:Im November vorigen Jahres schockierte die „Komsomolskaja Prawda" ihre Leser erstmals mit dem Bericht von Marina, einer jungen Le-
„Die Psychiatrie ist eine delikate Angelegenheit . . .”
ningrader Arbeiterin „mit absonder- lichen Neigungen; immer sucht sie die Wahrheit und scheut keinen Krach mit den Vorgesetzten". Ähn- lich den Dissidenten war die junge Frau gesund, vielleicht zu gesund, aber nicht bereit, die Machenschaf- ten einer korrupten Betriebsleitung hinzunehmen. Die Direktion ver- mied die sachliche Auseinanderset- zung über berechtigte Vorwürfe, steckte einigen Psychiatern einen namhaften Rubelbetrag zu — und Ma- rina verschwand mit der Diagnose
„Schizophrenie" in einer geschlosse- nen Anstalt.
Nur die Recherchen der Zeitung, des Organs des Kommunistischen Jugendverbandes, retteten sie. Aber der Makel, eine „Psychiatrische" ge- wesen zu sein, wird sie ihr ganzes Le- ben lang begleiten—bei jedem Wech- sel der Arbeitsstelle, jeder Beförde- rung, bei der Eheschließung.
Bei weiteren Nachforschungen fanden die Reporter der Jugendzei- tung, daß der verbrecherische, aber auch der nur leichtfertige Umgang mit psychiatrischen Diagnosen und mit den Rechtsnormen — ungeachtet der fatalen Folgen für die Betroffe-
nen — recht verbreitet ist. Zu oft wird die Vorschrift mißachtet, daß Zwangseinweisungen ausschließlich bei akuten Psychosen mit ausgepräg- ter Aggressivität und Gefährdung des eigenen oder fremden Lebens er- laubt sind. Die vage Diagnose „Psy- chopathie", mit der viele „Patien- ten" sistiert werden, reicht dafür kei- nesfalls aus.
Die Reporter fanden noch mehr.
Sie verschafften sich Zugang zu psychiatrischen Anstalten in Moskau und in der Provinz und gerieten in wahre Schlangengruben. Und sie er- hielten zahlreiche Briefe von Patien- ten und ihren Angehörigen. Ver- wahrloste Uraltgebäude und sadisti- sches Personal mögen Ausnahmen sein, aber es gibt sie. „Viele unserer Patienten arbeiten in der Landwirt- schaft des Krankenhauses. Futter und Mist transportieren sie in Kör- ben, aus denen der Dreck tropft. So verschmutzt und durchnäßt kehren sie in die überfüllten Krankenzimmer zurück. Ihre Kleidung können sie nur auf der Heizung trocknen."
Ein Reporter wies im Gespräch auf die mangelhafte medikamentöse Therapie und die konzeptionslosen, unaufrichtigen Bemühungen zur Wiedereingliederung der Kranken hin. Nicht als Rehabilitation, son- dern als Mißachtung der Menschen- würde bezeichnete er es, wenn aka- demisch ausgebildeten Patienten völ- lig sinnlose Tätigkeiten zugemutet würden. Das ende oft in völliger Un- selbständigkeit und Invalidität.
(Der auskunftsbereite Arzt wurde unmittelbar nach dem Interview ent- lassen.)
Gegen jede Kritik schirmen sich die Ärzte durch „kollegiale" Dek- kung und bestochene Zeugen ab. Bei den Gesundheitsorganen finden die Ermittler der Staatsanwaltschaft kei- ne Unterstützung. „Die Psychiatrie ist eine delikate Angelegenheit. Bitte nicht einmischen!" Hier wartet noch ein weites Feld auf Glasnost.
Aber sie zeigt schon Wirkung: Im Januar dieses Jahres hat der Oberste Sowjet beschlossen, „rechtliche Ga- rantien gegen mögliche Fehler oder gegen Mißbrauch bei der Psychia- trie" zu geben. Die Staatsanwalt- schaft soll das Verhalten der Psychia- ter kontrollieren. Aber das hatte sie ja auch bisher schon versucht, ohne rechten Erfolg.
Dr. med. Theresia Kazda, Wuppertal
Schizophrenie" der herrschenden
Moskauer Schule an. Anzeichen die- ser Art von Schizophrenie sind zum Beispiel — so Robert van Voren, der Generalsekretär der internationalen Vereinigung gegen den politischen Mißbrauch der Psychiatrie auf der Bonner Tagung — ein ausgeprägtes Interesse an Philosophie, Religion und Kunst, ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit und der kämpferische Einsatz für die Wahrheit. Zum Krankheitsbild der „schleichenden Schizophrenie" gehören auch so wi- dersprüchliche Erscheinungen wie Überaktivität und Trägheit, Minder- wertigkeitsgefühle und hohe Selbst- einschätzung. Weder der Betroffene noch seine Umwelt vermögen die Erkrankung zu erkennen, sondern nur erfahrene Psychiater, heißt es.Folglich kann ein Psychiater, der jener Lehrmeinung anhängt und zudem im politischen Auftrag han- delt (wie die Angehörigen des Mos- kauer Serbski-Instituts), einen poli- tischen Dissidenten „wissenschaft- lich korrekt" wegen einer psychia- trischen Erkrankung, eben „langsa- mer Schizophrenie" internieren. So lange die Diagnose der schleichen- den Schizophrenie gestellt werden kann, werden es die Betroffenen so- mit sehr schwer haben, eine Diagno- se zu widerlegen. Damit steht das neue Recht des Patienten oder sei- ner Angehörigen, vor Gericht gegen eine Zwangspsychiatrisierung kla- gen zu können, auf dem Papier.
Politik hat Priorität
In der Sowjetunion wird zur Zeit heftig zwischen jener Moskauer Schule und der Leningrader Schule, die eine weitaus vorsichtigere Be- griffsbestimmung bevorzugt, gestrit- ten, hieß es auf der Bonner Tagung.
Der Ausgang des Streits scheint of- fen. Wenn Dr. Anatoli Korjagin mit der Aussage recht hat, Maßstab des Handelns sei, was den Sozialismus festige, dann dürfte auch dieser Streit politisch entschieden werden.
Man wird dem „Kalkül politischer Zweckmäßigkeit" (Cornelia Ger- stenmaier) folgen und die Moskauer zurückpfeifen und die Leningrader gewähren lassen — oder nicht. NJ
A-274 (18) Dt. Ärztebl. 85, Heft 6, 11. Februar 1988