ie Stellungnahme des 103.
Deutschen Ärztetages zu den bisherigen Erfahrungen mit der jüngsten Reform im Gesund- heitswesen ist eindeutig: „Das vom Deutschen Bundestag Ende letzten Jahres verabschiedete Rumpfgesetz zur GKV-Gesundheitsreform führt in seiner Konsequenz zu Risikose- lektion und weiterer Rationierung in der medizinischen Versorgung“, heißt es in einem mit großer Mehrheit verabschiedeten Leitantrag des Bun- desärztekammervorstandes zur aktu- ellen Gesundheits-, Sozial- und ärzt- lichen Berufspolitik, dessen Kern- aussagen Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärzte- kammer, bereits auf der Eröffnungs- veranstaltung des Ärztetages im Kölner Gürzenich vorweggenom-
men hatte (siehe Deutsches Ärzte- blatt, Heft 19/2000). „Das Gesetz ist bereits wieder reparaturbedürftig, weil es mit 20 Jahre alten Kosten- dämpfungselementen arbeitet“, un- terstrich Dr. med. Ingo Flenker, Prä- sident der Ärztekammer Westfalen- Lippe, bevor er unter Applaus hinzu- fügte: „Die Rationierung ist bereits Versorgungsrealität!“
Leidtragende der Gesundheits- reform sind nach Auffassung des Ärztetages besonders chronisch und schwer kranke Menschen. Vor dem Hintergrund der neuen gesetzlichen Bestimmungen zur integrierten Ver- sorgung befürchten die Ärztevertre- ter sogar noch eine Verschlimmerung der Lage. Die integrierte Versorgung erlaube den Krankenkassen Ab- schlüsse von Versorgungsverträgen A-1343 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 20, 19. Mai 2000
Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik
„Rationierung ist bereits Versorgungsrealität“
D Gut vier Monate nach
In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform 2000
zogen die Ärztetags- delegierten eine vernichtende Zwischen- bilanz und forderten eine
breitere Einnahmebasis für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) – wie jüngst auch
von Andrea Fischer ins Gespräch gebracht.
Alle Fotos vom 103. Deutschen Ärztetag in Köln: Bernhard Eifrig
mit einzelnen Ärzten oder Arztgrup- pen, ohne dass die für die Sicher- stellung der ambulanten ärztlichen Versorgung zuständigen Kassenärzli- chen Vereinigungen ein
„wirkliches“ Mitspra- cherecht hätten. „Die im Gesetz angelegte Struktur einer so ge- nannten integrierten Versorgung dient nur der Profilierung der im Wettbewerb stehenden Krankenkassen, nicht jedoch einer besseren medizinischen Versor- gung; denn sie wird nicht das Versorgungs- niveau erhöhen, son- dern gute von schlech- ten Versorgungsrisiken trennen – zulasten der Kranken“, urteilten die Delegierten. Verstärkt werde die Tendenz zur Risikoselektion noch
dadurch, dass die Krankenkassen die Mittel für die Integrationsversorgung zulasten der allgemeinen Versorgung aus sektoralen Budgets nehmen könnten.
Der Ärztetag bekräftigte in die- sem Zusammenhang seinen Einsatz für den Erhalt einer „flächendecken- den, qualitativ hochstehenden Versor- gung für die Bevölkerung“:
❃ keine Risikoselektion und Aus- grenzung
❃ medizinische Orientierung statt unangemessener Budgets (Hoppe:
„Die Budgets müssen weg!“)
❃ eine bedarfsgerechte Arznei- mittelversorgung
❃ und keine einseitige Sammlung von Patientendaten bei den Kranken- kassen, die das informationelle Selbst- bestimmungsrecht der Patienten ge- fährden oder verletzen, lauteten die Forderungen.
Ruf nach Patientenrechten ist ein Ablenkungsmanöver
Als „Ablenkungsmanöver“ von den tatsächlichen Problemen der Gesetzlichen Krankenversicherung werteten die Delegierten die im Ge- setz enthaltenen Forderungen nach mehr Patientenrechten und mehr Pa-
tientenbeteiligung in den Gremien der gemeinsamen und ärztlichen Selbstverwaltung. Richtig sei zwar, dass die Beteiligungsrechte der Ver-
sicherten über die Selbstverwaltung ihrer Krankenkassen und die im Kern wichtigen Sozialwahlen zu Ak- klamationswahlen verkümmert sei- en; dies sei aber nicht der Ärzteschaft anzulasten. Die angeblich nötige Fortentwicklung von Patientenrech- ten und das Einräumen besonderer Beteiligungsrechte bei den Steue- rungsentscheidungen des Gesund- heitswesens dürften nicht dazu die- nen, Rationierungsentscheidungen der Politik und Leistungsverweigerun- gen durch die GKV zu legiti- mieren. Dies lehne die Ärzteschaft entschieden ab: „Beteiligungsrechte können keine Leistungsansprüche er- setzen.“ Eine deutliche Absage er- teilte der Ärztetag auch Überlegun- gen, nach denen „selbst ernannte Patientenvertreter“ einen eigenen Platz in den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärzte- kammern beanspruchen können. Bis heute gebe es keine hinreichend le- gitimierten Patientenorganisationen, die umfassend, ausgewogen und ge- recht für alle Patienten sprechen könnten.
Auf offene Ohren bei den Dele- gierten des 103. Deutschen Ärztetages stieß der Vorschlag von Bundesge- sundheitsministerin Andrea Fischer, neben den Löhnen künftig auch Ein-
künfte aus Aktien- oder Immobilien- besitz zur Berechnung der gesetzlichen Krankenkassenbeiträge heranzuzie- hen. Die Beitragsbemessung müsse grundsätzlich so gestal- tet werden, dass sie die tatsächliche Leistungs- fähigkeit des einzel- nen Mitglieds zugrunde legt, heißt es dazu im Leitantrag des Vorstan- des der Bundesärzte- kammer. „Wir müssen uns von der herkömm- lichen Form der lohn- bezogenen Finanzie- rung lösen“, forderte Flenker vor dem Ple- num. „Es ist ein wichti- ger Fortschritt, dass wir jetzt eine Diskussi- on über eine Verbrei- terung der Einnahme- basis der Gesetzlichen Krankenversicherung führen und nicht mehr nur über höhere Zuzahlungen der Pa- tienten diskutieren“, urteilte Dr. med.
Volker Pickerodt, Delegierter der Ärztekammer Berlin.
Die Aussage der Ministerin dezent ignoriert
Kritisch zum Thema neue Finan- zierungsformen in der GKV äußerte sich lediglich Dr. med. Ellis Huber von der Ärztekammer Berlin, dem die Fra- ge „Wie bekomme ich mehr Geld in das Gesundheitssystem?“ zu kurz ge- dacht ist: „Wir Ärzte müssen bereit sein, mehr ökonomische Verantwor- tung zu übernehmen.“ Eine Forderung ganz im Sinne von Ministerin Andrea Fischer. Diese hatte schließlich noch bei der Eröffnung des Ärztetages versucht, die aufkommenden Hoff- nungen der Ärzteschaft auf mehr Geld im System im Keim zu ersticken:
„Mein jüngster Vorschlag, über neue Finanzierungsformen im Gesundheits- wesen nachzudenken, bedeutet nicht, dass ich mehr Geld im System sehen will.“ Eine Aussage, die sowohl vom Bundesärztekammerpräsidenten als auch von den Podiumsteilnehmern in den Kölner Messehallen im Verlauf des 103. Ärztetages dezent ignoriert
wurde. Jens Flintrop
A-1344
P O L I T I K 103. DEUTSCHER ÄRZTETAG
Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 20, 19. Mai 2000
Die Standpunkte zur „Gesundheitsreform“ sind weiterhin gegensätzlich: Bundesgesundheits- ministerin Andrea Fischer (Mitte), Ärztetagspräsident Jörg-Dietrich Hoppe (links, neben ihm der Kölner Bürgermeister Manfred Wolf). Ganz rechts: Ursula Auerswald, Vizepräsidentin des Deutschen Ärztetags