• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Charles Darwin (1809–1882): Naturforscher und Philosoph" (24.04.2009)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Charles Darwin (1809–1882): Naturforscher und Philosoph" (24.04.2009)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A810 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 17⏐⏐24. April 2009

S

chätzungsweise 99,99 Pro- zent aller je auf der Erde ent- standenen Arten sind irgendwann wieder ausgestorben. Da fällt es schwer zu glauben, dass ausgerech- net Homo sapiens diesen Planeten für immer besiedeln wird. Gute Aus- sichten, uns zu überle-

ben, sieht der Konstan- zer Zoologe Axel Meyer für den Buntbarsch. Al- lein im afrikanischen Viktoriasee haben sich in nur 100 000 Genera- tionen 500 verschiedene

Arten entwickelt, die sich in neuen Lebensnischen immer weiter spezia- lisieren. Damit ist diese Fischfamilie ein Erfolgsmodell der Evolution. In seinem Buch „Von der Abstammung der Arten“ gab Charles Darwin ihr vor 150 Jahren eine wissenschaft- liche Grundlage.

Die Erforschung der Geschichte des Lebens ist untrennbar verbun- den mit der Erforschung der Erdge- schichte. So muss der junge Natur- forscher sich zunächst als Geologe bewähren. Zu Beginn seiner Reise mit der „Beagle“ entdeckt er auf den Kapverdischen Inseln ein „vollkom- men horizontales weißes Band“, das etwa 15 Meter über dem Meeres- spiegel eine Steilküste durchzieht.

Darin sind zahlreiche Muschel- schalen eingelagert. Zwei Theorien bestimmen damals die geologi- sche Diskussion. Die „Katastrophis- ten“, vor allem vertreten durch Ge- orges Baron de Cuvier (1769–1832), nehmen an, dass die Erde durch plötzliche gewaltige Umwälzungen entstanden sei, ähnlich der in der Bibel beschriebenen „Sintflut“.

Demgegenüber geht Charles Lyell (1797–1875) von einer Gleichför- migkeit der auf die Erde wirkenden Kräfte aus (Uniformismus). Die Erd- oberfläche sieht er in einer ständigen

Bewegung, die Kontinente und In- seln anhebt und absenkt. Darwin folgt seinem Freund Lyell und er- klärt die Kalkmuschelschicht auf den Kapverden damit, dass Kräfte aus dem Erdinnern eine ehemalige Küstenlinie über den Meeresspiegel gehoben haben müssen.

Lyells Uniformismus ist eine wichtige Vorausset- zung für Darwins Ab- stammungslehre. Denn der von ihm postulierte, konti- nuierliche Prozess der Ar- tenentstehung (Gradualis- mus) ist mit der Katastrophentheorie kaum vereinbar.

Eine allmähliche Entstehung der Arten durch „natürliche Zucht- wahl“, wie Darwin sie vertritt, benötigt zudem unvorstellbar viel Zeit. Das ist Darwin bewusst. Seine Schlussfolgerungen basieren auf der Annahme langer Zeiträume vor dem Beginn des Kambriums. Doch zu seiner Zeit ist das Erdalter nicht bekannt. 1650 hatte Erzbischof James Ussher verkündet, die göttli-

che Schöpfung sei exakt am 23. Ok- tober 4004 v. Chr. erfolgt. Ende des 18. Jahrhunderts kommt man auf rund 100 000 Jahre. Der Physiker William Thompson (1824–1907) schätzt das Erdalter auf 20 bis 400 Millionen Jahre, ihm zufolge keine ausreichend lange Zeit für den von Darwin postulierten Mechanismus der Artenentstehung. Darwin setzt sich mit diesen Einwänden ernsthaft auseinander. Doch die stark vonein- ander abweichenden Schätzungen lassen ihn an den präsentierten Da- ten zweifeln. Das biblische Erd- alter zieht er nicht mehr ernsthaft in Betracht.

Als Darwin am 26. April 1882 in der Westminster Abbey beigesetzt wird, hält Bischof H. Goodwin die Predigt. Ihm zufolge ist Darwin für die „von einigen emsig verbreitete Vorstellung (. . .), dass es notwendi- gerweise einen Konflikt zwischen der Erkenntnis der Natur und dem Glauben an Gott gibt“, nicht ver- antwortlich. Der „Guardian“ feiert Darwins Beerdigung als „glückliche CHARLES DARWIN (1809–1882)

Naturforscher und Philosoph

In „Die Abstammung des Menschen“ (1871) betont Darwin die Bedeutung der Kooperation und stellt die Idee der Humanität über eine Vernunft, die sich lediglich an der Gesundheit der Spezies orientiert.

T H E M E N D E R Z E I T

Bis heute ist das Werk Darwins Anlass zu weltanschaulichen

Kontroversen.

Foto:picture-alliance/dpa

Foto:picture-alliance/akg

(2)

A812 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 17⏐⏐24. April 2009

T H E M E N D E R Z E I T

Strophe der Versöhnung von Glau- ben und Wissenschaft“ und bezeich- net die „neuen Wahrheiten“ der Bio- logie als „harmlos“. So hätte Dar- win selbst es wohl nicht gesehen.

Seitdem er an eine göttliche Schöp- fung jeder einzelnen Art nicht mehr glauben kann, will er das „Geheim- nis der Geheimnisse“ lüften. Dabei bewegt er sich anfangs noch im Rahmen der Naturtheologie, die Gottes Weisheit und Allmacht in seiner Schöpfung aufzeigen will. Im Laufe der Zeit beschränkt er sich je- doch darauf, das Vorkommen neuer Arten auf sogenannte Zweit- oder Zwischenursachen zurückzuführen und auf eine „erste Ursache“ zu verzichten. Die Absicht, metaphy- sisch-theologische Fragen zu klären oder gar die Nichtexistenz Gottes zu beweisen, verfolgt er nicht.

Darwin formuliert zwar überaus vorsichtig, was den Gebrauch von Metaphern und Analogien angeht, doch wenn er bei der Beschreibung der Selektion und der Natur Begriffe aus dem Bereich des bewussten Wählens verwendet, fühlt mancher Leser sich ermutigt, in der Natur die Möglichkeit intelligenter Wahl ange- legt zu sehen. Den Einwand, er spre- che von der natürlichen Selektion wie von einer Gottheit und personifiziere die Natur, lässt Darwin indes nicht gelten und verweist auf die Metapher

„Wahlverwandtschaften“ in der Che- mie. Ein Jahr vor seinem Tod besucht ihn der Arzt Ludwig Büchner in Down. Ihm gegenüber erwähnt Dar- win, dass er sich im Alter von 40 Jah- ren vom Christentum abgewendet ha- be („Ein Besuch bei Darwin“, 1882).

Hat Darwin lediglich das Bevöl- kerungsgesetz des Geistlichen und Ökonomen Thomas R. Malthus (1766–1834) auf die Natur übertra- gen, wie Karl Marx und Friedrich Engels einwandten? Sähe die Evolu- tionslehre völlig anders aus, wenn eine Gesellschaft sich nicht auf Wettbewerb und Eigennutz ihrer Mitglieder, sondern auf deren Ko- operation gründete? 1838 liest Dar- win Malthus’ Essay über das Bevöl- kerungswachstum (1798) und hat endlich eine Theorie, „mit der ich ar- beiten konnte“. Malthus zufolge ist das „Vermögen des Bevölkerungs- wachstums (. . .) viel größer als die

Fähigkeit der Erde, Nahrungsmittel für die Menschen zu produzieren“.

Daraus resultiert eine „Bevölke- rungsbremse“, die Darwin seine An- nahme korrigieren lässt, Pflanzen und Tiere pflanzten sich stets nur so weit fort, dass ihre Bevölkerungs- zahl stabil bleibe. Doch die Idee der natürlichen Selektion lernt Darwin nicht aus Malthus’ Schrift, sie ist ihm aus der Tier- und Pflanzenzucht bekannt. Mit dem „Prinzip von Mal- thus“ kann er endlich erklären, wie Lebewesen sich an wandelnde Um- stände anpassen: Die Ursache für Anpassungen liegt nun nicht mehr im Organismus, sondern in seiner Wechselwirkung mit der Umwelt.

Bis heute reibt mancher sich am Begriff des Zufalls in Darwins Ent- wicklungslehre. Veränderungen des Genoms sollten demnach nicht zu- fällig erfolgen, sondern nach Re- geln, die im biologischen System selbst begründet seien. Vermutlich basieren diese Vorbehalte auf einem Missverständnis. Darwin selbst hat sich nur vage über den Zufall geäußert. Wenn wir von Zufall spre- chen, meinen wir vor allem ein Gefühl von Unwahrscheinlichkeit:

Je unwahrscheinlicher ein Ereignis uns vorkommt, desto zufälliger er-

scheint es uns. Das heißt aber nicht, dass es vollkommen chaotisch und regellos erfolgt („blinder, reiner Zu- fall“). Der Unterschied zwischen determinierten und zufälligen Er- eignissen besteht darin, dass letztere nicht exakt vorhersagbar sind. Ihnen liegen jedoch spezifische Gesetz- mäßigkeiten zugrunde, die mithilfe der Wahrscheinlichkeitsgesetze be- schreibbar sind. Mit Darwin ziehen solche Wahrscheinlichkeiten in die Biologie ein. Berücksichtigt man dies, sind „zufällige“ Veränderun- gen im Genom, etwa Mutationen, Crossing-over, Gendrift, „springen- de Gene“ und Genverdopplungen, vereinbar mit den Regeln eines bio- logischen Systems. Nur sind sie eben nicht determiniert und damit nicht exakt vorhersagbar.

War Darwin Sozialdarwinist? Bei näherer Betrachtung war er viel- leicht nicht einmal Darwinist. Zeit- lebens trennt er deutlich die von ihm vertretene Selektionstheorie und Abstammungslehre von einem Mo- nismus im Sinne einer allgemeinen Weltanschauung, wie ihn der Zoo- loge Ernst Haeckel (1832–1919) vertritt. Der verbindet bereits 1863 mit dem Begriff „Darwinismus“

mehr als die Theorie der natürlichen Selektion. Ihm zufolge treten „pro- gressive Darwinisten“ für „Ent- wicklung“ und „Fortschritt“ ein, Evolution und Fortschritt werden nahezu gleichgesetzt. Dagegen ist die Natur für Darwin keine ethische Instanz – die Naturgesetze hält er nicht für göttliche Gesetze. Den sogenannten naturalistischen Fehl- schluss des Sozialdarwinismus, der aus dem Prinzip der natürlichen Selektion in der Natur Normen menschlichen Handelns abzulei- ten sucht, begeht er also nicht. In

„Die Abstammung des Menschen“

(1871) betont Darwin die Bedeu- tung der Kooperation und stellt die Idee der Humanität über eine Ver- nunft, die sich lediglich an der Ge- sundheit der Spezies orientiert.

Zwar kann moralischer Fortschritt

biologisch negative Folgen für die menschliche Spezies nach sich zie- hen, doch aus ethischen Gründen ist die Unterstützung Hilfsbedürftiger geboten. Deren Vernachlässigung gehe mit einer Verrohung und Zer- setzung des moralischen Sinns ein- her. Damit stehe einem Nutzen ein überwältigendes Übel gegenüber.I Christof Goddemeier

LITERATUR

1. E.-M. Engels: Charles Darwin. München 2007.

2. U. Kutschera: Tatsache Evolution – Was Darwin nicht wissen konnte. München 2009.

3. J. Neffe: Darwin – Das Abenteuer des Lebens. München 2008.

4. T. Weber: Darwin und die Anstifter. Köln 2000.

5. F. Wuketits: Darwin und der Darwinismus.

München 2005.

Den Fehlschluss, aus dem Prinzip der natürlichen

Selektion in der Natur Normen menschlichen Handelns

abzuleiten, begeht Darwin nicht.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Wenn er Darwin in einer Fußnote „entgegen einer weithin vertretenen Auffas- sung“ leichthin als „Sozialdarwinis- ten“ bezeichnet, weil er sich kritisch zum Sozialstaat

zuerst in den Fachzeitschriften der eigenen oder einer fremden Disziplin, eher in (oft uberfachlich angeleg ten) elementaren Einfuhrungen und ofter noch in popu

We- der gab es einen „schwarzen Tag für die Ärztekammern", noch wurde diesen ein „Maul- korb" umgehängt, schon gar nicht muß die Bundesärztekam- me „weg"; auch

Wo jenes Vertrauen in Richterrecht und Rechtsdogmatik fehlt, sieht sich der Gesetzgeber zu umfassenden und sich in Details verlierenden Rege- lungssystemen gezwungen. Auch auf

In der Praxis bedeutet dies: mehr transdisziplinäre Forschung, idealerweise auf Grundlage verbindlicher globaler Governance-Mechanis- men für Forschungskooperation, und mehr

Diese Erkenntnis war der Ausgangspunkt für Darwins Theorie und führte dazu, dass man die untersuchten Vögel fortan Darwin-Finken nannte.. Was hat

Aber sie ist, wie Henry Kelly, Präsident der Federation of American Scientists, formuliert, „die robusteste Theorie der Wissenschaftsgeschichte“: fast 150 Jahre alt und noch

So wie sie einen Uhrmacher brauchte, muß auch die Welt zu ihrer Entstehung jeman- den benötigt haben — und nicht nur ein intelligen- tes Wesen, sondern einen