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A1350 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 197. Mai 2004
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u sehen ist ein Koloss. Er ist zwar nur 50 cm groß, wirkt aber massig, kraft- voll – doch er ist gefesselt. Ge- gen eine vorschnelle Interpre- tation der Skulptur als Dar- stellung von Gefangenschaft oder Folter spricht die schon auf den ersten Blick erkenn- bare unrealistische Gestal-tung. Ganz offensicht- lich zeigen die Banda- gen, die „Zwangs- jacke“, die Klammer und die „Verblok- kung“ der Figur keine von außen zugefügten Eingriffe. Ganz im Gegenteil: Sie verwei- sen auf innere Pro- zesse. Diese Figur schnürt sich selber ein. Und auch dies verweist augenschein- lich nur auf einen Teil- aspekt der Darstel- lung. Ebenso wichtig wie die Einengungen sind die Kräfte, die sich ihnen entgegen- stemmen. Diese Figur wirkt kraftvoll, prall, vital trotz all ihrer Gebundenheit.
Sie scheint ihre Kraft zu konzentrieren, auf den Mo- ment zu warten, an dem sie alle Hemmnisse ablegen, ab- sprengen wird, um sich zu erheben, sich zu recken, in ihrer ganzen Kraft entgegen- zutreten.
Hierin liegt die Faszination, die von den nur vordergründig geschnürt, geklammert und geblockt wirkenden Figuren Hede Bühls ausgeht. Die Künstlerin macht etwas Un- sichtbares anschaulich: Es sind die inneren Grenzsetzungen und Verbote, die den Einzel- nen an der Entfaltung seiner Kraft, seiner Persönlichkeit hemmen. Es sind die Tabus aus der Kindheit, aus Familie und Gesellschaft, die blockieren.
„Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen“ ist geradezu das Charakteristikum der Tabus;
für den Koloss könnten wir das wichtige „Nichthandeln“
noch anfügen.
Mit Tabus regeln Gemein- schaften, was zu ihnen gehört – und was nicht. Tabus sind Meidungsgebote, die wir oft schon früh in uns aufgenom- men haben und deren Nicht- beachtung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist.
Insofern helfen Tabus, die Identität des Einzelnen und seiner Gemeinschaft zu si-
chern. Eine Weiterentwick- lung erfordert jedoch zumeist Tabubrüche. Es muss neu hin- geschaut und hingehört wer- den, wir müssen neu zu- packen, aufstehen und neue Wege gehen. Der Koloss von Hede Bühl befindet sich un- mittelbar davor, dies alles zu
tun. Hartmut Kraft
Foto:Eberhard Hahne
Biografie Hede Bühl
Geboren 1940 in Haan. 1958 bis 1963 Studium der Bildhauerei an der Kunstaka- demie Düsseldorf bei Sepp Mages und Joseph Beuys. Neben dem auf Körper und vor allem auf Köpfe zentrierten Werk in Stein und Bronze entstehen zahlreiche Arbeiten auf Papier. 1971 Stipendium des Kulturkreises der Deutschen Industrie;
1973 Villa-Romana-Preis, Florenz. Lebt in Düsseldorf.
Literatur
Bühl H : Köpfe. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Lübeck 1990.
Jaeschke H: Hede Bühl. Medizin und Kunst, 2003; 15: 24–26.
Kraft H: Tabu – Magie und soziale Wirk- lichkeit. Düsseldorf: Walter Verlag 2004.
Koloss (1975), Bronze, Exemplar 4/6, Höhe 50 cm
Kunst und Psyche
Der Koloss und das Tabu
Mit 140 Konzerten an mehr als 40 verschiedenen Spielstät- ten, die vom sakralen Raum und noblen Schloss-Ambiente über Klostergasse,
Kreuzgang und Kur- haus bis zum Aus- flugsschiff auf dem Rhein reichen, bietet das in Deutschland größte Musikfestival auch im 18. Jahr sei- nes Bestehens ein umfangreiches Pro- gramm. Das Leipzi- ger Gewandhausor- chester unter Her-
bert Blomstedt bringt zum Beispiel am 1. Juli Mahlers Neunte Sinfonie zu Gehör, das Orchestra Philharmonique de
Monte Carlo unter Marek Ja- nowski am 7. Juli Beethoven, Ravel und Debussy. Für den Abschluss des Rheingau Mu- sik Festivals (RMF) werden am 28. Au- gust der Montever- di Choir London und die English Ba- roque Soloists un- ter Sir John Eliot Gardiners Dirigat sorgen: Sie führen Bachs Hohe Messe h-Moll in der Ba- silika von Kloster Eberbach auf. Wei- tere Informationen und Kar- tenvorverkauf über RMF Servicegesellschaft. Telefon:
0 18 05/74 34 64. BSR
Die Auszeichnung für
„Das beste Konzert- programm der Saison 2003/2004“ geht in die- sem Jahr nach Köln: Das Gürzenich-Orchester Köln unter Leitung sei- nes Kapellmeisters Mar- kus Stenz erhält erstma- lig den Preis des Deut- schen Musikverleger- Verbands e.V. Beson- ders die neue Form der Programmgestaltung, an das angekündigte zwei- teilige Programm einen vorher nicht genannten drit- ten Teil, den „3. Akt“, anzu- fügen, schafft nach eigenen Angaben „Raum für Sponta- nes, Unbekanntes und Uner-
wartetes und appelliert an die Neugier des Publikums“.
Kartenbestellungen: Telefon:
02 21/28 01, www.koelnticket.
de. EB
Rheingau Musik Festival
Glanzvolle Höhepunkte
Kapellmeister Markus Stenz
Gürzenich Orchester
Bestes Konzertprogramm
Foto:Gürzenich/Thomas Brill
Foto:RMF
V A R I A