Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der SWP-Forschungsgruppe Globale Fragen; Dr. Charles Martin-Shields arbeitet SWP-Aktuell 69 im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in der Abteilung »Governance, Staatlichkeit und Sicherheit«, Oktober 2017 Dr. Benjamin Schraven in der Abteilung »Umweltpolitik und Ressourcenmanagement«.
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SWP -A ktue ll
Stiftung Wissenschaft und
Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Einleitung
Mehr Entwicklung – mehr Migration?
Der »migration hump« und seine Bedeutung für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Subsahara-Afrika
Steffen Angenendt / Charles Martin-Shields / Benjamin Schraven
Bei den deutschen und europäischen Bemühungen, die irreguläre Zuwanderung vor allem aus Subsahara-Afrika zu verringern, ruhen große Hoffnungen auf der Entwick- lungszusammenarbeit. Sie soll helfen, möglichst viele Ursachen für solche Wanderun- gen zu beseitigen. In allen einschlägigen Konzepten wird ihr eine Schlüsselrolle zuge- wiesen. Dies wirft grundsätzliche Fragen nach dem Zusammenhang von Entwicklung und Migration auf. In der wissenschaftlichen Debatte gilt seit längerem als belegt, dass sozioökonomische Entwicklung Migration fördert, statt sie zu reduzieren. Tatsächlich aber ist diese Kausalbeziehung nicht so eindeutig, wie es das entsprechende Modell des
»migration hump« suggeriert. Offenbar werden Wanderungsentscheidungen durch weitere Faktoren beeinflusst. Daher ist es problematisch, wenn die Politik diese Schein- evidenz aufgreift und daraus simple Strategien ableitet. Der Kontext von Migration und Entwicklung muss differenzierter analysiert werden. Auf diese Weise lassen sich entwicklungspolitische Ansätze auch für die Zusammenarbeit mit afrikanischen Part- nerstaaten gewinnen.
Der Begriff »migration hump« (auf Deutsch etwa »Migrationsbuckel«) wurde in den 1990er Jahren geprägt. Ihm liegt die Beob- achtung zugrunde, dass wachsende Pro- Kopf-Einkommen in Entwicklungsländern meist mit höheren Auswanderungsraten ein- hergehen. Steigende Pro-Kopf-Einkommen, so die Erklärung, hingen oft mit einem besseren Bildungs- und Ausbildungsniveau zusammen, aber die Betreffenden fänden auf den beschränkt aufnahmefähigen ein- heimischen Arbeitsmärkten keine angemes- sene Beschäftigung. Wachsende Ansprüche und Erwartungen ließen die Auswande-
rung dann attraktiv erscheinen. Zudem erleichtere ein höheres Einkommensniveau die Migration, weil diese immer ein gewis- ses Kapital voraussetze. Verstärkt werde dieser Zusammenhang noch, indem die Auswanderung wiederum die Entwicklung des Herkunftslandes fördere. Durch Geld- überweisungen, die laut Weltbank inzwi- schen mehr als dreimal so hoch sind wie die gesamte öffentliche Entwicklungshilfe, unterstützen Migrantinnen und Migranten nicht nur Investitionen und Konsum in den Heimatländern, sondern auch die Ausgaben für Bildung und Gesundheit. Demnach
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förderten sich Entwicklung und Migration gegenseitig. Erst wenn ein bestimmtes sozioökonomisches Entwicklungsniveau erreicht sei, sänken die Auswanderungs- raten wieder. Die graphische Darstellung der Migrationsrate in Abhängigkeit von der sozioökonomischen Entwicklung eines Landes hat die Form eines Buckels oder eines auf dem Kopf stehenden U, daher die Bezeichnung »migration hump«.
Dieser Zusammenhang ist für verschie- dene Länder und Zeiträume empirisch nachgewiesen worden, auch für Subsahara- Afrika. Danach nimmt die Auswanderungs- rate erst wieder ab, wenn sich die betref- fenden Länder gemäß der Weltbank-Klassi- fizierung im mittleren Bereich der »Upper Middle Income Countries« befinden. Derzeit sind dies Länder, deren Bruttonational- einkommen pro Kopf im Jahr 2016 zwischen 3956 und 12 235 US-Dollar lag.
Daraus folgt aber auch, dass sich die volle Entfaltung eines »migration hump«- Zyklus bis hin zu abnehmenden Auswande- rungsraten über einen äußerst langen Zeit- raum hinziehen kann, ein stabiles ökono- misches Wachstum vorausgesetzt. In Län- dern mit sehr geringem Einkommen wie Niger oder Tschad kann es sich sogar um weit mehr als hundert Jahre handeln.
Nur eine Frage des Einkommens?
Die in dem Modell untersuchte Korrelation zwischen Einkommenshöhe und Auswan- derungsneigung ist allerdings zu einseitig und undifferenziert. Vor allem Studien des US-amerikanischen Center for Global Devel- opment (CDG) haben erwiesen, dass das Bild vielschichtiger ist und Auswanderungs- entscheidungen durch weitere Faktoren be- einflusst werden.
Demographischer Wandel. In wirtschaft- lich stark wachsenden Entwicklungsländern ist bei zunächst hoch bleibenden Geburten- raten und einem Rückgang der Kindersterb- lichkeit oft ein erhebliches Bevölkerungs- wachstum zu verzeichnen. Es entsteht ein Jugendüberhang, der von einer wachsen- den Jugendarbeitslosigkeit begleitet sein
kann. Das kann die Auswanderungsneigung in einem Land erhöhen, denn diese ist bei jüngeren Menschen in der Regel größer als bei älteren.
Strukturwandel. Wirtschaftliche Trans- formationen verändern immer auch die relative Bedeutung einzelner Wirtschafts- sektoren, vor allem des Agrarsektors, sowie Lebens- und Arbeitsweisen. Der Anpassungs- druck kann Binnenwanderung, aber auch Auswanderung zur Folge haben.
Ungleichheit. Wirtschaftswachstum und steigende Einkommen gehen oft einher mit Ungleichheit und relativer Deprivation, also der Erfahrung, verglichen mit anderen und hinsichtlich eigener Erwartungen wirt- schaftlich und sozial zurückzufallen. Auch dies kann die Auswanderungsneigung steigern.
Nachahmungseffekte. Je größer eine Dia- spora, also die Gruppe von Zugewanderten, die aus einem bestimmten Herkunftsland stammen, desto leichter fällt es potentiellen Migranten und Migrantinnen, sich über die Arbeitsmarkt- oder Wohnungssituation im Zielland zu informieren. Dies kann weitere Wanderungen erleichtern.
Kreditrestriktionen. Der Zugang zu Krediten oder generell zu Finanzmärkten bleibt in vielen Entwicklungsländern auch bei steigenden Einkommen schwierig. Gera- de in Wachstumsphasen kann Migration daher eine sinnvolle Strategie sein, um In- vestitionskapital zu erhalten.
Wanderungshürden. Die formellen und informellen Einwanderungsbarrieren in reicheren Staaten, etwa Visa- und Einreise- bestimmungen oder die Anerkennung von Bildungsabschlüssen, sind für Menschen aus den ärmsten Ländern zumeist höher als für Menschen aus jenen mit etwas besseren Einkommen. Wenn Länder sich wirtschaft- lich fortentwickeln, werden für sie oft die Zuwanderungshürden niedriger und die Wanderungen nehmen zu.
Komplexe Wanderungsfaktoren Offensichtlich können einzelne Faktoren für sich allein genommen den »migration
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3 hump« nicht erklären. Sie müssen in ihrem
Zusammenwirken betrachtet werden, weil die Entscheidungen für Migration höchst komplex sind. Zwar werden diese individu- ell getroffen, stehen aber oft unter dem Ein- fluss anderer Akteure wie Familien oder Netzwerken sowie der jeweiligen wirtschaft- lichen, politischen, demographischen und kulturellen Rahmenbedingungen. Nicht allein der Wunsch, das Herkunftsland zu verlassen, ist ausschlaggebend dafür, das Vorhaben auch in die Tat umzusetzen.
Ebenso wichtig sind die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, in das Ziel- land zu gelangen. Deswegen ist der »migra- tion hump« von Land zu Land unterschied- lich ausgeprägt. Die Wirkung einzelner Faktoren auf die Auswanderung lässt sich nicht bestimmen.
Unzulässig vereinfachend ist daher auch die oft geäußerte Vermutung, mehr Wachs- tum und höhere Einkommen etwa in den Ländern südlich der Sahara würden zwangs- läufig immer mehr Menschen dazu ver- leiten, sich (auf irregulärem Wege) nach Europa aufzumachen. Vertreter dieser An- nahme verkennen die Komplexität der Motive irregulärer Migration aus Afrika nach Europa.
Tatsächlich handelt es sich häufig um
»gemischte Wanderungen«, bei denen sich Migrations- und Fluchtmotive vermengen.
Vor dem Sturz des Gaddafi-Regimes bei- spielsweise waren Menschen als reguläre Arbeitsmigranten nach Libyen gekommen, verloren dort wegen des Bürgerkrieges aber ihren Arbeitsplatz. Viele von ihnen sehen die gefährliche Überfahrt nach Europa als letzten Ausweg aus ihrer Notlage. Andere Migrantinnen und Migranten aus Subsahara- Afrika wiederum haben ihre Heimat nicht nur auf der Suche nach höheren Einkom- men verlassen. Ein Grund für ihre Ent- scheidung lag auch in den sich verschlech- ternden Lebensbedingungen, die mit der Schwäche staatlicher Institutionen, Korrup- tion, unzureichender Rechtsstaatlichkeit und Gewaltherrschaft zusammenhängen.
Es steht außer Frage, dass auch repressive Regime, Menschenrechtsverletzungen und
staatliche Fragilität bei vielen Betroffenen den Wunsch verstärken, ihrem Heimatland den Rücken zu kehren.
Hier kann Entwicklungspolitik allerdings sehr wohl Einfluss nehmen, denn sie ist da- rauf ausgelegt, politische, soziale, ökologi- sche oder wirtschaftliche Rahmenbedingun- gen mitzugestalten. Mit Instrumenten wie der Förderung von Demokratie und guter Regierungsführung kann sie dazu beitragen, Repression zu mildern und Rechtsstaat- lichkeit zu stärken. So könnte es ihr gelin- gen, die Zahl erzwungener und »gemisch- ter« Wanderungen zu senken. Wer aber Entwicklungszusammenarbeit reduziert, um irreguläre Migration zu unterbinden, könnte damit das Gegenteil bewirken.
Fazit: Migrationsgestaltung statt Migrationsverhinderung
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit kann und soll Migration nicht verhindern.
Der »migration hump« zeigt, dass Migration und Entwicklung sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern wechselseitig ver- stärken. Es kann daher nicht Ziel der Ent- wicklungszusammenarbeit sein, Migration insgesamt zu verringern. Vielmehr sollte sie anstreben, erzwungene, unsichere und irreguläre Wanderungen so weit wie mög- lich zu vereiteln, und darüber hinaus frei- willige, sichere und legale Formen der Migration fördern.
Die Mitgliedstaaten der Vereinten Natio- nen haben sich in der New Yorker Erklä- rung vom Dezember 2016 zu der Auffassung bekannt, dass geregelte Migration eine Haupttriebkraft für Entwicklung darstellt.
Zudem haben sie sich im Ziel 10.7 der Sustainable Development Goals (SDGs) ver- pflichtet, »eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen [zu] erleichtern, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrations- politik«. Diese Beschlüsse werden auch im Global Compact for Migration (GCM) ihren Niederschlag finden, der 2018 verabschie- det werden soll.
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Um Migration sinnvoll zu steuern und dabei besonders die afrikanischen Staaten zu berücksichtigen, empfehlen sich folgen- de Ansätze:
Entwicklungspolitisch gestaltete Migra- tionsprogramme. Die Staaten der EU wer- den mittel- und langfristig mehr Program- me für Migranten aus Subsahara-Afrika anbieten müssen, wollen sie ungeregelte Wanderungen nachhaltig reduzieren. Da- bei sollten gering qualifizierte Tätigkeiten im Mittelpunkt stehen. Der Bedarf ist in vielen Mitgliedstaaten groß, wurde aber bisher oft durch irreguläre Beschäftigung von Einheimischen und Migranten gedeckt.
Hier besteht erhebliches Verbesserungs- potential. Ein gemeinsames Programm der EU, mit dem sich zumindest ein Teil des europäischen Saisonarbeiterbedarfs decken ließe, könnte Transit- und Herkunftsländer zu mehr Kooperation bei der Bewältigung des Problems bewegen.
Die Möglichkeiten für qualifizierte Migranten sind ebenfalls noch nicht aus- geschöpft. Sofern die europäischen Arbeit- geber genug Interesse an solchen Fach- kräften zeigen, könnten Programme aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt werden. Mit Hilfe von Sprach- förderung, Qualifizierung und Einbindung von Diaspora-Organisationen sollte ver- sucht werden, den Migrantinnen und Migranten Chancen auf den Arbeitsmärk- ten in der EU zu eröffnen.
Unterstützung intraregionaler Migrati- on. Ein Großteil der Wanderungsbewegun- gen von Afrikanerinnen und Afrikanern findet innerhalb des afrikanischen Kontinents statt. Auch dort kann sichere und geregelte Migration der Entwicklung nützen. Dazu müssen aber die Rechte der Migrantinnen und Migranten geschützt, Migrationsprozesse erleichtert sowie der Austausch zwischen Migranten und ihren Herkunftsländern intensiviert werden.
Unterstützung verdienen die Bemühungen der afrikanischen Regionalorganisationen, intraregionale Migration anzukurbeln und zu gestalten. Auch sollten innerafrikani- sche Programme entwicklungspolitisch
gefördert werden, etwa das Joint Labour Migration Program for Africa, das unter anderem von der Afrikanischen Union und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ins Leben gerufen wurde. Zudem sollte die Entwicklungszusammenarbeit den Partnerländern beim Aufbau migrationspo- litischer Kapazitäten zur Seite stehen.
Verhinderung von Braindrain. Die Ab- wanderung dringend benötigter Fachkräfte bildet für viele Herkunftsländer ein Ent- wicklungsrisiko. Gerade in essentiellen Wirtschaftszweigen wie dem Gesundheits- sektor kann Entwicklungszusammenarbeit die Arbeitsbedingungen mit gezielten Investitionen verbessern und damit der Abwanderung entgegenwirken. Neue Ansätze sind auch hier nötig. Dazu zählen transnationale Ausbildungspartnerschaf- ten, mit denen Fachkräfte gleichzeitig für den Bedarf in den Heimatländern und den Industriestaaten ausgebildet werden.
Förderung von guter Regierungsführung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Entwicklungszusammenarbeit kann dabei mitwirken, stabile politische Rahmen- bedingungen zu schaffen, vor allem indem sie Demokratie und gute Regierungsfüh- rung voranbringt. Auf diese Weise kann sie verhindern helfen, dass Staaten mit Men- schenrechtsverletzungen, mangelnder Rechtsstaatlichkeit oder Gewalttätigkeiten Wanderungen auslösen. Dieses Engagement ist nach wie vor eine Kernaufgabe der Ent- wicklungszusammenarbeit. Damit kann sie entscheidend dazu beitragen, irreguläre Wanderungen immer mehr durch geregelte und entwicklungsfördernde Migration zu ersetzen.
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Dieses SWP-Aktuell erscheint auch als Publikation des Deutschen Instituts für Ent- wicklungspolitik (DIE).
In einer Reihe gemeinsamer Veröffentlichungen präsen- tieren die Stiftung Wissen- schaft und Politik (SWP), das Deutsche Institut für Entwick- lungspolitik (DIE) und das Bonn International Center for Conversion (BICC) Ergeb- nisse von Forschungsprojek- ten, die mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen- arbeit und Entwicklung (BMZ) realisiert wurden.