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PREKÄRE BESCHÄFTIGUNG. 05 /2007

WIE AUF DEM RÜCKEN DER FRAUEN DER ARBEITSMARKT DEREGULIERT WIRD

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SCHWERPUNKT

PREKÄRE BESCHÄFTIGUNG.

WIE AUF DEM RÜCKEN DER FRAUEN DER ARBEITSMARKT DEREGULIERT WIRD.

• Rollenklischees leben auf: Die

Prekarisierung ist (nicht nur) weiblich 5 • Prekarität gibt es schon lang:

Für Frauen sind atypische Jobs kein

neues Phänomen 7

• Minijobs bleiben Frauensache:

Zunahme vor allem in Privathaushalten 8

• Zuverdienerinnen in der Minderheit:

Unfreiwillige Teilzeit ist Unter-

beschäftigung 9

• Familienplanung wird erschwert:

Befristungen hebeln Schutzrechte aus 10 • Hingehalten und ausgebeutet:

Der Praktikant ist häufiger eine

Praktikantin 11

• Selbstständig aus Not: Existenz-

gründung ohne soziales Auffangnetz 12

• Weg zurück gesperrt: Ein-Euro-Jobs

erfüllen Erwartung nicht 13

• Zeitarbeit auf dem Vormarsch 13

• Die Brücke als Sackgasse: Hoffnung auf positive Effekte am Arbeitsmarkt

hat sich nicht erfüllt 14

• Vom Zuverdienst ins Zentrum:

Erwerbsverläufe in den Blick nehmen 16

VORGEFÜHLT

• Pflegezeit bleibt strittig: Pflegereform

soll bessere Vereinbarkeit bringen 18

NACHGEFASST

DGB UND BDA: KINDERGARTEN OHNE GEBÜHREN

Gemeinsam setzen sich die Bundesvereini- gung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für eine bessere frühkindlichen Bil- dung ein. „Der Kindergarten als erste Stufe des Bildungssystems muss konsequenterwei- se für die Eltern gebührenfrei sein“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme. Als erster Schritt sollen die Beiträge im letzten Kindergartenjahr wegfallen.

Darüber hinaus müsse die Aus- und Weiterbildung der ErzieherInnen verbessert werden. Mit Verweis auf die Praxis in nahezu allen EU-Ländern halten DGB und BDA zumindest für die Leitungsebene eine Hoch- schulausbildung für notwendig. Das Berufs- bild der Erzieherin müsse aufgewertet, die Aus- und Weiterbildung reformiert werden.

Dabei gehe es auch um männliche Erzieher.

Denn der Erzieherinnenberuf gilt bislang als typischer Frauenberuf. „Es müssen deutlich mehr Männer als Kindergartenmitarbeiter gewonnen werden,“ fordern BDA und DGB.

www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_

doks/k/kita_stellungnahme.pdf

LANDESFRAUENRÄTE FÜR MINDESTLOHN

Die Konferenz der Landesfrauenräte, die am 7. bis 9. September in Aachen getagt hat, verlangt vom Bundesgesetzgeber, sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindest- lohns von mindestens 7,50 Euro einzuset- zen. Von dem Koalitionskompromiss zum Mindestlohn seien Frauen überproportional negativ betroffen, so die Vertreterinnen der Frauenverbände. Sie befürchten, dass das Lohngefälle zwischen Männern und

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Frauen zunehmen wird. Da Frauen häufi g in prekären Beschäftigungsverhältnissen und überwiegend in tarifungebundenen Bereichen arbeiten, seien sie mit der ge- planten Neuregelung schwer erreichbar. Die Zahl der AufstockerInnen, also derjenigen, die neben einer Beschäftigung ergän- zendes Arbeitslosengeld II bekommen, werde sich kaum verringern. Die geplanten unübersichtlichen Regelungen führten zu branchenspezifi schen und regionalen Unterschieden. In Branchen mit frauenty- pischen Arbeiten würden auch niedrigere Mindestlöhne festgeschrieben.

ZWEITER AKTIONSPLAN GEGEN GEWALT AN FRAUEN BESCHLOSSEN

Das Bundeskabinett hat am 26. September den Zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschlossen.

„Gewalt gegen Frauen ist kein Problem am Rand unserer Gesellschaft, sondern fi ndet mitten unter uns statt,“ erklärte Frauenministerin Ursula von der Leyen. Der Aktionsplan II, der auf dem Vorläufer von 1999 aufbaut, bündelt 133 Maßnahmen gegen alle Formen von Gewalt an Frauen, wie häusliche und sexualisierte Gewalt, Stalking, Frauenhandel, Zwangsverheira- tung oder Genitalverstümmelung. Schwer- punkte sind der Schutz von Migrantinnen, die Sensibilisierung und Aktivierung von Ärzten und Ärztinnen sowie eine bessere Prävention. Die einzelnen Maßnahmen zielen unter anderem auf den Ausbau und Vernetzung von Hilfsangeboten für von Gewalt betroffene Frauen, eine verstärkte Kooperation zwischen staatlichen Institu- tionen und nichtstaatlichen Einrichtungen sowie die Täterarbeit.

Neues aus Wissenschaft und Forschung

Die Ostdeutschen sind wie in keinem ande- ren Land der EU mit Ausnahme der skan- dinavischen Länder von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf überzeugt. In West- deutschland werden die Konsequenzen der Erwerbstätigkeit der Frau dagegen we- sentlich kritischer betrachtet als in vielen anderen europäischen Ländern. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie über Einstel- lungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Fa- milie in Deutschland und Europa.

Jörg Dittmann, Angelika Scheuer: Berufs- tätigkeit von Müttern bleibt kontrovers.

In: Informationsdienst Soziale Indikatoren, Heft 38, www.gesis.org/Publikationen/Zeit- schriften/ISI/pdf-files/isi-38.pdf

Die vom Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration in NRW in Auftrag gegebene Studie „Zeit, dass sich was dreht – Technik ist auch weiblich!“ identifi- ziert erfolgreiche Projekte zur Gewinnung von weiblichem Nachwuchs für techni- sche Bereiche. Die Studie offenbart aber auch, dass einzelne Unternehmen und For- schungseinrichtungen sich zwar für eine bessere naturwissenschaftlich-technische Bildung engagieren, oft jedoch ohne spezi- fische Konzepte für junge Frauen.

www.kompetenzz.de/vk06/service/studie_

zeit_dass_sich_was_dreht

Zunehmend mehr Beschäftigte mit Kindern arbeiten früh morgens, abends, am Wochen- ende oder in Wechselschichten. Die öffentli- chen Kindertagesstätten sind jedoch bislang nicht ausreichend auf den neuen Bedarf eingestellt. Auch im Osten, wo Ganztagsstät- ten die Regel sind, fehlt es an Flexibilität.

Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Michaela Schier vom Deutschen Jugendinstitut und Peggy Szymenderski von der TU Chemnitz in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung.

www.boeckler.de/pdf/impuls_2007_13_7.pdf

QUOTE

Ost 39,7%

West 8,0%

HÖCHSTE QUOTE

Saalkreis 57,7%

Kreis Schönebeck 55,8%

Jerichower Land 55,5%

NIEDRIGSTE QUOTE

Kreis Nienburg/Weser 1,0%

Kreis Cloppenburg 1,1%

Kreis Ostallgäu/Straubing-Bogen 1,8%

BETREUUNG DER

KRIPPENKINDER UNEINHEITLICH

Quelle: Statistisches Bundesamt, Angaben für 2006 Mehr zum gleichen Thema steht in der Broschüre

„Kindertagesbetreuung regional 2006“.

www.destatis.de/Publikationen

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PER REISSVERSCHLUSS MEHR PARLAMENTARIERINNEN Mit einer Änderung des Landeswahlgeset- zes wollen die oppositionellen Grünen in Schleswig-Holstein den geringen Frauenan- teil im Landtag von 30,4 Prozent erhöhen.

Per Reißverschlussverfahren, das durch ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtags abgesichert ist, sollen die Wahllisten abwechselnd mit Männern und Frauen besetzt werden. Aus- nahmen sind möglich, wenn ein den Frauen vorbehaltener Listenplatz nicht besetzt werden kann.

Der Deutsche Juristinnenbund hält solche Regelungen auch im Bundestag und anderen Landesparlamenten für notwendig, wo der Frauenanteil nur wenig über dem in Schleswig-Holstein liegt.

FAMILIENATLAS 2007 VERGLEICHT REGIONEN Der Familienatlas 2007, erstellt von der Prognos AG im Auftrag des Bundesfami-

lienministeriums in Kooperation mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammer- tag, liegt vor. Er untersucht die Lebensbe- dingungen der Familien im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Wohnen, Bildung und Ausbildung sowie Freizeitgestaltung. Die Studie nennt Top-Re- gionen ebenso wie gefährdete Städte und Landkreise, zeigt regionale Unterschiede und Potenziale auf und gibt Anregungen für Handlungsmöglichkeiten.

Viele Regionen, insbesondere in Ost- deutschland, die heute noch unter einer schlechten wirtschaftlichen Situation leiden, investieren in Familienfreundlichkeit. Ihr Vorteil sind eine gute Betreuungsinfra- struktur und häufi g überdurchschnittliche Schulbedingungen (kleine Klassen, gute Schüler-Lehrer-Relationen). Verglichen damit tun viele Landkreise, denen es gegenwärtig wirtschaftlich gut geht, wenig für die Familien.

www.prognos.com/familienatlas

Würdigung. Thema sind das vorgeschlagene Anteilsverfahren und das von der Arbeitsge- meinschaft sozialdemokratischer Frauen als Alternative ins Gespräch gebrachte Durch- schnittssteuerverfahren.

www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_doks/

w/wipo_schnelldienst10_07.pdf

Einen Folder zur Gestaltung der Elternzeit haben die IG BCE und der Bundesarbeitgeber- verband Chemie herausgegeben. Er beinhaltet neben Vorschlägen zum Kontakt während der Elternzeit und zur Rückkehr auch einen Ge- sprächsleitfaden für Elternzeitgespräche.

Ebenfalls von der IG BCE gibt es eine Bestands- aufnahme mit Praxisbeispielen zur besseren

Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter der Frage „Berufsrisiko Familie!?“ – www.igbce.de Ein selbstverständlicher Umgang mit ande- ren Lebensweisen kann ohne weiteres in den Schulalltag integriert werden, davon gehen die in der GEW aktiven lesbischen Lehrerinnen und schwulen Lehrer aus. Sie stellen in einer handlichen Broschüre Aufgabe und Chancen der Schule vor. Von der Wertschätzung von Vielfalt und unterschiedlichen Lebensweisen profitieren Schülerinnen und Schülern wie auch Beschäftigte.

GEW-Hauptvorstand, Vorstandsbereich Frau- enpolitik, Reifenberger Str. 21, 60489 Frank- furt; bitte einen adressierten und mit 90 Cent frankierten DIN-lang-Umschlag beilegen.

2004/2006 FRAUEN MÄNNER Neugeborene 82,1 Jahre 76,6 Jahre 60-Jährige 24,5 Jahre 20,6 Jahre 2003/2005 FRAUEN MÄNNER Neugeborene 81,8 Jahre 76,2 Jahre 60-Jährige 24,3 Jahre 20,3 Jahre

LEBENSERWARTUNG GLEICHT SICH WEITER AN

Quelle: Statistisches Bundesamt

Broschüren für Frauen von Gewerkschaften

Einen Leitfaden „Frauenspezifische Aspekte des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“ hat die Rechtsanwältin und Expertin im Gleichstel- lungsrecht Inge Horstkötter für den DGB und ver.di erarbeitet. Von der Einstellung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses werden die Diskriminierungsgefahren und Möglich- keiten des AGG besprochen.

bestellservice@toennes-bestellservice.de Die mit dem Jahressteuergesetz 2008 geplan- te Reform der Besteuerung abhängig be- schäftigter Eheleute unterzieht der DGB im Wipo-Schnelldienst 10/2007 einer kritischen

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ROLLENKLISCHEES LEBEN AUF

DIE PREKARISIERUNG IST (NICHT NUR) WEIBLICH VON KLAUS DÖRRE Als Prekarisierung von Arbeits-

und Lebensverhältnissen ist das Aufl ösen der mit Erwerbsarbeit verknüpften sozialen Sicherungs- standards defi niert. Dr. Klaus Dörre beschreibt die paradoxe Wirkung auf die Geschlechterverhältnis- se. Einerseits werde das an einer männlichen Erwerbsbiografi e orientierte Normalarbeitsverhältnis brüchig. Andererseits lebten über- wunden geglaubte Stereotype auf.

Lange Zeit nur wenigen Experten bekannt, sind Begriffe wie Prekarisierung und Prekariat inzwischen in aller Munde. Sie bezeichnen einen Trend zur Ausbreitung unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse, der inzwischen auch die reichen Gesell- schaften des Westens erfasst. Feministinnen verfolgen die aktuelle Prekarisierungsde- batte freilich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Frühzeitig hatte die Frauenbewegung Verschränkungen von Normalarbeitsverhältnis und männlicher Dominanz attackiert. Flexible Beschäftigung galt hingegen als wichtiger Ansatzpunkt für eine Demokratisierung der Geschlech- terverhältnisse. Dies vor Augen, erscheinen zeitgenössische Prekarisierungsdiagnosen mitunter als nostalgische Verklärung einer längst vergangenen Vollbeschäftigungsge- sellschaft.

Überfl üssig, destabilisiert, diszipliniert

Solche Deutungen übersehen jedoch, dass es sich bei der Prekarisierung um eine disziplinierende Kraft handelt, die auch die Geschlechterbeziehungen in höchst problematischer Weise erfasst. Empirisch lassen sich mindestens drei Kristallisations-

punkte von Prekarität identifi zieren. Der vollständige Ausschluss von Erwerbsarbeit erzeugt Gruppen von „Überfl üssigen“, die im Grunde keine Chance zu einer Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt haben. Daneben wächst das Heer jener, die trotz anziehen- der Konjunktur dauerhaft auf unsichere Jobs angewiesen sind, um sich einiger- maßen über Wasser zu halten. Für diese Beschäftigten gilt, dass Erwerbsarbeit nicht mehr als Basis einer stabilen, in die Zukunft gerichteten Lebensplanung dienen kann.

Ihr Leben gleicht einem Ritt auf der Rasier- klinge. Jeder „Fehltritt“ kann zum endgülti- gen Absturz führen. Die Angst, den oftmals hart erarbeiteten gesellschaftlichen Status nicht mehr halten zu können, bezeichnet einen dritten Prekarisierungsherd, der sich bei Arbeitnehmern mit formal noch immer geschützter Beschäftigung fi ndet.

Entscheidend ist indessen, dass die bloße Existenz von „Arbeitnehmern zweiter Klas- se“ disziplinierend auf Stammbelegschaften zurückwirkt. Prekär Beschäftigte vor Augen, die oftmals die gleiche Arbeit für deutlich weniger Geld und bei erheblich schlech- teren Arbeitsbedingungen verrichten, er- scheint eine unbefristete, einigermaßen gut bezahlte Beschäftigung vielen als Privileg, das es um jeden Preis zu verteidigen gilt.

Einem „Bumerangeffekt“ gleich erzeugt die Prekarisierung so gefügige Arbeitskräfte, die für Interessenvertretungen und Gewerk- schaften nur schwer ansprechbar sind.

Zwangsfeminisiert hier, entweiblicht dort

Von dieser Entwicklung werden auch die Geschlechterbeziehungen erfasst. Das nicht nur, weil Frauen bei der Ausübung der meisten prekären Beschäftigungsformen

Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universi- tät in Jena und forscht zum Thema Prekariat.

Die blosse Existenz

von „Arbeitnehmern

zweiter Klasse“ wirkt

disziplinierend auf

Stammbelegschaften

zurück.

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(Ausnahme Leiharbeit) deutlich überre- präsentiert sind. Ebenso wichtig ist, dass klassische geschlechtsspezifi sche Segmen- tationslinien am Arbeitsmarkt in Bewe- gung geraten. Was auf den ersten Blick als Angleichung von Risiken erscheinen mag, wirkt geschlechterpolitisch geradezu verheerend. Denn je geringer die materiel- len und fi nanziellen Ressourcen sind, desto größer ist offenbar die Neigung, Unsicher- heit und Anerkennungsverluste subjektiv mittels Rückgriff auf längst überwunden geglaubte Rollenklischees kompensieren zu wollen. Leiharbeiter mit traditionellem Männlichkeitsverständnis zum Beispiel fühlen sich „zwangsfeminisiert“, weil sie die Rolle des lebenslangen Ernährers der Familie nicht mehr auszufüllen vermögen.

Umgekehrt empfi nden es Frauen, die ihren prekären Job mit dem Selbstverständnis der

„Zuverdienerin“ ausüben, als „Entweibli- chung“, wenn ihnen ein Arbeitszeitregime mit kurzfristigen Flexibilitätsanforderun- gen die Möglichkeit nimmt, einen „gute Hausfrau und Mutter“ zu sein. Arbeitslose Frauen ohne Anspruch auf ALG-II-Leistun- gen fallen nicht nur aus allen Fördersyste- men heraus, sie werden zudem geradezu genötigt, die einstige Alternativrolle der Hausfrau und Mutter in eine Hauptrolle umzudefi nieren, um so Anschluss an die gesellschaftliche „Normalität“ zu halten.

Prekarisierung – geschlechter- politisch paradox

Den Beispielen ließen sich leicht weitere hinzufügen. Sie alle belegen eine geradezu paradoxe Wirkung von Prekarisierungspro- zessen. Obwohl sie das männlich domi- nierte Vollzeiterwerbsverhältnis brüchig werden lassen, wirken sie zugleich wie eine

Maschine zur symbolischen Ratifi zierung männlicher Herrschaft. Denn sie hauchen bereits überwunden geglaubten Konstrukti- onen von „typisch weiblicher“ und „typisch männlicher“ Arbeit wieder neues Leben ein. Zu einer Art zweiter Natur geronnen, selektiert ein sich neu verfestigender ge- schlechtlicher Habitus Handlungsstrategien und sorgt so – trotz aller durch Bildungs- prozesse, Frauenbewegung und feminis- tische Kritik erreichten Veränderungen – für eine Naturalisierung von Geschlech- terdifferenzen. Das gilt, obwohl zur alten Vollzeit-Beschäftigungsgesellschaft kein Weg zurückführt.

Das emanzipatorische Potential fl exibler Beschäftigung, wie es die Frauenbewegung zu Recht einklagt, lässt sich jedoch nur erschließen, wenn die Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft zumindest eingedämmt wird. Gerade Frauen benötigen „Haltelini- en nach unten“, wirksame Mindestlöhne sowie angemessene gewerkschaftliche und politische Repräsentanz. Ein lohnendes Betätigungsfeld für neue Allianzen von feministischer und (gewerkschaftlicher) Sozialkritik, sollte man meinen!

Je geringer die Ressour- cen sind, desto grösser ist offenbar die Neigung, Unsicherheit und Aner- kennungsverluste sub- jektiv mittels Rückgriff auf längst überwunden geglaubte Rollenklischees kompensieren zu wollen.

Literaturtipp

Klaus Dörre: Prekarisierung und Ge- schlecht. Ein Versuch über unsichere Beschäftigung und männliche Herr- schaft in nachfordistischen Arbeitsge- sellschaften. In: Brigitte Aulenbacher, Maria Funder, Heike Jacobsen, Susanne Völker (Hrsg.): Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesell- schaft. Verlag für Sozialwissenschaf- ten, Wiesbaden 2007.

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PREKARITÄT GIBT ES SCHON LANG

FÜR FRAUEN SIND ATYPISCHE JOBS KEIN NEUES PHÄNOMEN So lange das männlich dominierte

Normalarbeitsverhältnis unange- tastet blieb, wurde prekäre Be- schäftigung als weibliche Rander- scheinung auf dem Arbeitsmarkt geduldet. Inzwischen fressen sich ungesicherte Jobs in immer mehr Bereiche. Das verändert die Sicht auf das Problem dramatisch.

Im Sommer 2006 hatte die Friedrich-Ebert- Stiftung in einer Studie das „abgehängte Prekariat“ als gesellschaftliche Gruppe ausgedeutet, mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen, ostdeutsch und männlich dominiert. Letzteres zumindest ist einer verengten Sichtweise geschuldet. Denn prekäre Beschäftigung gibt es schon lange.

„Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftig- ten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Sicherungsniveau sinken, das in der Ge- genwartsgesellschaft als Standard defi niert und anerkannt wird“, sagt der Soziologe Dr. Klaus Dörre.

Frauen wurden schon lange vor Hartz in prekäre Beschäftigung verwiesen. Minijobs hießen früher geringfügige Beschäftigung und sollten vor allem Frauen in ihrer traditionellen Rolle als Zuverdienerinnen ansprechen, mit nur wenigen Stunden, ohne soziale Absicherung, die ja über den hauptverdienenden Mann gewährleistet war, und ohne grundlegende arbeitsver- tragliche Rechte. Zwar sozialversicherte, aber nicht existenzsichernde Teilzeit und Befristungen waren jahrelang ebenfalls Frauendomänen, worauf das kombinierte Teilzeit- und Befristungsgesetz hinweist.

Doch erst seit nicht nur der Zuverdiene-

rin, sondern auch dem Familienernährer solche Beschäftigungen zugemutet werden, erkennt der männlich dominierte öffentliche Blick ein gesellschaftliches Problem. Die so- zial und rechtlich zweitklassigen Zuverdie- nerinnen-Verhältnisse stießen das Tor auf zu einer radikal veränderten Arbeitsmarkt- politik. Sie setzt darauf, durch den Abbau von Einkommens- und Schutzstandards die Arbeitgeber zu neuen Job-Angeboten zu veranlassen und damit die Arbeitslosigkeit zu senken. Erwünschter Nebeneffekt ist, die Arbeitgeber von lästigen Sozialbeiträgen zu entlasten.

Der DGB und seine Gewerkschaften haben die Absicherung prekärer Beschäftigung auf ihre politische Tagesordnung gesetzt und konzentrieren sich dabei auf sieben Hand- lungsfelder: Zeitarbeit, Solo- und Schein- selbstständigkeit, Befristung, Minijobs, Schein-Praktika, Unterbeschäftigung und Teilzeitarbeit sowie öffentlich geförderte Beschäftigung in Form von Ein-Euro-Jobs (S. 8-13).

„Frau geht vor“ nimmt diese Handlungs- felder geschlechtsspezifi sch unter die Lupe und hat die Sozialwissenschaftle- rin Dr. Karin Schulze-Buschoff danach gefragt, wie prekäre Beschäftigung auf den Arbeitsmarkt und damit auf Normalarbeits- verhältnisse – defi niert als unbefristete, existenzsichernde und sozialversicherte Erwerbstätigkeit – einwirkt (S. 14-15).

Jenny Huschke, Arbeitsmarkt-Expertin im Bereich Gleichstellungs- und Frauenpolitik beim DGB, gibt Hinweise auf eine gewerk- schaftliche und frauenpolitische Strategien zur Absicherung prekärer Beschäftigungen (S. 16-17).

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MINIJOBS BLEIBEN FRAUENSACHE

ZUNAHME VOR ALLEM IN PRIVATHAUSHALTEN

Der Boom geringfügiger Beschäf- tigung hält an. Als klassischer Zuverdienerinnen-Job, lückenhaft sozial abgesichert und mit gerin- gem Entgelt, bleiben die Minijobs eine Frauendomäne, auch wenn sie im Zuge der Hartz-Reformen zu „zumutbarer Arbeit“ für ALG-II- EmpfängerInnen mutiert sind.

MinijobberInnen arbeiten vorwiegend in der Gebäudereinigung, der Gastronomie, im Gesundheitswesen und Einzelhandel, im Westen häufi ger als im Osten. Mehr als 6,5 Millionen geringfügig Beschäftigte, zu zwei Dritteln Frauen, waren im Juni 2007 bei der Minijob-Zentrale, der zentralen Einzugs- und Meldestelle, registriert. Eine Steigerung zum Vorjahr um 3,6 Prozent.

Frauen sind zu rund 80 Prozent in Arztpra- xen, Krankenhäusern, Altenwohnheimen und Einrichtungen für Kinder und Jugend- liche beschäftigt. Seit März 2007 ist die Anzahl der 400-Euro-JobberInnen am stärksten in den Wirtschaftszweigen Erzie- hung und Unterricht (plus 17,6 Prozent) und im Gastgewerbe gestiegen. Die größte Altersgruppe bilden die 40- bis 45-Jähri- gen. Die zweitstärkste Gruppe sind die über 65-Jährigen, in der mehr Männer als Frauen vertreten sind.

Mehr noch als in der Wirtschaft nimmt die Zahl der Minijobs in Privathaushalten zu. Knapp 142.000 Beschäftigte, zu 93 Prozent Frauen, putzen, waschen, bügeln und betreuen Kinder, 14,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Das tatsächliche Beschäf- tigungsvolumen liegt nach Einschätzung vieler Fachleute deutlich höher. Das Ziel, mit einem vereinfachten Meldeverfahren

für Minijobs im Privathaushalt diese Form der Schwarzarbeit stärker zu legalisieren, ist bis heute kaum erreicht.

Vielmehr verdrängen Minijobs sozialver- sicherungspfl ichtige Beschäftigung in der Wirtschaft. Damit verlieren die Sozialversi- cherungen Beitragseinnahmen in Millio- nenhöhe. Der Druck auf „normale“ Ar- beitsverhältnisse steigt. Der Trend hat sich verstärkt, seit diese Jobs als zumutbare Arbeit für Langzeitarbeitslose gelten. Doch wer ausschließlich geringfügig beschäftigt ist, erwirbt nur unzureichende Ansprüche, vor allem in der Rentenversicherung. Das betraf 2004 zu rund 67 Prozent Frauen. Sie gehen häufi ger mehreren Minijobs nach, während Männer eher zusätzlich zur sozi- alversicherungspfl ichtigen Beschäftigung minijobben. Doch auch nach Erhöhung der Abgabenpauschale für Arbeitgeber zum Juli 2006 liegen die Sozialbeiträge mit 15 Prozent unter dem vollen Satz (19,5 Prozent).

Armut oder die Abhängigkeit vom Partner oder vom Staat im Alter, im Pfl egefall oder bei Arbeitslosigkeit sind vorprogrammiert, die Rolle der Frau als Zuverdienerin verfes- tigt sich. Hinzu kommt, dass geringfügig Beschäftigte wenig Aussicht auf Aufstieg und Qualifi zierung haben und überdurch- schnittlich oft für geringe Stundenlöhne arbeiten – unabhängig von ihrer Qualifi ka- tion. Die Aufhebung der Höchstarbeitszeit von ehemals 15 Wochenstunden hat diesen Missstand verschärft. Arbeitszeit- verlängerungen zum gleichen Lohn sind die Folge. Die Durchsetzung von arbeits- rechtlichen Ansprüchen ist schwierig.

Britta Jagusch Infos und Statistiken

rund um geringfügige Beschäftigung:

www.minijob-zentrale.de

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ZUVERDIENERINNEN IN DER MINDERHEIT

UNFREIWILLIGE TEILZEIT IST UNTERBESCHÄFTIGUNG Entgegen der landläufi gen Annah-

me, Teilzeitkräfte seien in der Regel fi nanziell und sozial abgesichert und verdienten lediglich dazu, leben mehr als zwei Drittel vom eigenen Verdienst. Viele suchen eigentlich eine Vollzeitstelle.

Eine wachsende Zahl der Teilzeitbeschäf- tigten erzielt kein existenzsicherndes Einkommen und kann nicht ausreichend für das Alter vorsorgen. 84 Prozent sind Frauen. Während im früheren Bundesgebiet Frauen hauptsächlich wegen familiärer Aufgaben berufl ich kürzer treten, sucht die Mehrheit der teilzeitbeschäftigten Frauen im Osten eigentlich eine Vollzeitstelle.

Der Anteil der unfreiwilligen Teilzeitkräfte an allen Erwerbstätigen, also der Unter- beschäftigten, stieg von Januar 2005 bis Januar 2006 von 10,9 auf 13,9 Prozent. Im Jahresdurchschnitt 2005 arbeiteten knapp 60 Prozent der Unterbeschäftigten weniger als 35 Stunden pro Woche. Fast 40 Prozent verdienten weniger als 400 Euro im Monat.

Teilzeit erweist sich vor allem für Frauen in Westdeutschland als einzige Möglichkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren. Dennoch fi nden sich diese Mütter (und Väter) nicht in den Statistiken zur Unterbeschäftigung wieder. Denn als unterbeschäftigt gilt nur, wer dem Arbeitsmarkt innerhalb von zwei Wochen zur Verfügung steht. Das ist bei Eltern aber wegen fehlender Betreuungsan- gebote nicht der Fall.

Die Übergänge von sozialversicherungs- pfl ichtiger Teilzeit in geringfügige Beschäf- tigung oder Scheinselbständigkeit sind vielfältig, oft unfreiwillig und durch Druck des Arbeitgebers veranlasst. Regulierte

Teilzeitarbeit in der Elternzeit unterlaufen Arbeitgeber häufi g mit Angeboten zur Scheinselbstständigkeit oder geringfügigen Beschäftigung. Das gleiche passiert bei Umstrukturierungen, sofern Beschäftigte in Elternzeit nicht gleich ganz aus dem Betrieb gedrängt werden.

Teilzeitbeschäftigte haben häufi g keinen Zugang zu berufl icher Weiterbildung und Qualifi zierung. Dies ist jedoch unabdingbar, um aus der prekären Beschäftigungssitua- tion herauszukommen. Und statt ihre Stun- den aufzustocken und damit mehr Geld zu verdienen, machen viele Teilzeitbeschäftigte aus Angst um den Arbeitsplatz „schwarze“

Überstunden.

Zentraler Ansatzpunkt für Lösungen ist der rasche Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen, die Abschaffung der Minijobs, des Ehegattensplittings sowie der Lohn- steuerklassen III und V als Negativanreiz für die Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung.

Notwendig ist auch, mit dem Arbeitsrecht Brücken von prekärer Beschäftigung in ein existenzsicherndes Arbeitsverhältnis zu bauen. Ein Weg wäre, das Recht auf Auf- stockung der Stundenzahl oder Rückkehr in Vollzeit stärker zu machen, als das im Teilzeit- und Befristungsgesetz bisher der Fall ist. Profi tieren würden sowohl Beschäf- tigte, die ungewollt Teilzeit arbeiten, als auch Beschäftigte, die aus einer zunächst gewollten, etwa familiär begründeten Teil- zeitbeschäftigung herauswachsen wollen oder müssen.

Christel Degen, Bereich Struktur- und Regionalpolitik im DGB-Bundesvorstand

ÜBERWIEGENDES

EINKOMMEN ALLE MÄNNER

Erwerbstätigkeit 66% 54%

Angehörige 23% 14%

Arbeitslosenunter-

stützung 3% 8%

Rente/Pension 6% 19%

ÜBERWIEGENDES EINKOMMEN

FRAUEN WEST

FRAUEN OST

Erwerbstätigkeit 67% 79%

Angehörige 28% 3%

Arbeitslosenunter-

stützung 1% 10%

Rente/Pension 3% 6%

EINKOMMEN IN TEILZEIT

Quelle: Mikrozensus 2003; fehlende Anteile zu 100%

„sonstiges“

Entgegen der landläufigen Auffassung leben die meisten Teilzeitbeschäftigten überwiegend vom eigenen Entgelt. Viele suchen eigentlich eine Vollzeitstelle, am häufigsten Frauen in Ostdeutschland.

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FAMILIENPLANUNG WIRD ERSCHWERT

BEFRISTUNGEN HEBELN SCHUTZRECHTE AUS

Immer mehr Menschen sind befris- tet beschäftigt und genießen damit keinen Kündigungsschutz. Auch andere Schutzrechte, vor allem Mutterschutz und Elternzeit, versu- chen Arbeitgeber mit Befristungen zu umgehen.

Drei Millionen Menschen waren 2004 befristet beschäftigt. Das sind 9,2 Prozent aller Beschäftigten. Seit 1991 ist der Anteil der Befristungen an allen Beschäftigungs- verhältnissen in Ostdeutschland von 11,3 auf 14,5 Prozent im Jahr 2004 gestiegen, in Westdeutschland von 6,5 auf acht Prozent. Nach einer Umfrage der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) sind Frau- en mit 9,2 Prozent etwas häufi ger betroffen als Männer (acht Prozent).

Vor allem jüngere Menschen werden be- fristet eingestellt. 40 Prozent der unter 20-Jährigen – ohne Auszubildende – hatten 2004 einen Vertrag auf Zeit. Dazu zählten auch SchülerInnen und Studierende. Bei den 20- bis 24-Jährigen lag die Quote bei 22 Prozent, bei den 25- bis 29-Jährigen bei 16 Prozent. In allen drei Altersgruppen hat sich der Anteil im Vergleich zu 1991 verdoppelt.

Überdurchschnittlich oft sind auch gering qualifi zierte Menschen sowie Arbeitneh- merInnen mit einem mittleren oder hohen allgemeinen Bildungsabschluss betroffen.

Häufi g werden auch Menschen mit Behin- derung, AusländerInnen und Arbeitslose befristet eingestellt.

Viele bleiben nur kurz im Betrieb. Nach dem Mikrozensus 2001 wechselten in Westdeutschland 41,5 Prozent der Befriste-

ten innerhalb eines Jahres den Arbeitsplatz, in Ostdeutschland war es sogar die Hälfte.

Auf die Arbeitslosenquote scheinen sich Befristungen nicht günstig auszuwirken.

In Westdeutschland wechselte 2000 und 2001 nur ungefähr jedeR vierte Beschäf- tigte in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, in Ostdeutschland nur rund 17 Prozent.

Kleine Unternehmen stellen Personal auf Zeit häufi ger ein als große. Und sie weisen die höchsten Übernahmequoten auf. Doch nur in ostdeutschen Kleinbetrieben mit bis zu 19 Beschäftigten gibt es mehr Übernahmen als Neueinstellungen. Vor allem mittlere und große Unternehmen schauen sich auch bei guter Auftragslage lieber nach externen Be- werberInnen um, statt die Befristeten regulär einzustellen.

Befristete fühlen sich als Arbeitende zweiter Klasse: Sie verdienen häufi g weniger Geld als Unbefristete, haben schlechtere Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten und müs- sen sich mobiler zeigen. Betriebe versuchen gerade bei jungen Frauen den Anspruch auf Elternzeit zu umgehen. Auch die Familien- und Lebensplanung wird erschwert.

Der DGB fordert, das Teilzeit- und Befris- tungsgesetz zu ändern, so dass befristet Beschäftigte Anspruch auf bevorzugte Einstellung haben. Der Befristungsgrund sollte schriftlich und auf den Arbeitsplatz bezogen festgehalten werden. Die Sonder- regelung bei Existenzgründungen sowie der Sachgrund „Befristung wegen befristeter Haushaltsmittel“, der sich ausschließlich auf den öffentlichen Dienst bezieht, sollten gestrichen werden.

Carmela Mudulu Literaturtipp

Tatjana Fuchs: Arbeit & Prekariat.

Ausmass und Problemlagen atypi- scher Beschäftigungsverhältnis- se. Forschungsprojekt im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung 2006.

www.boeckler.de

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HINGEHALTEN UND AUSGEBEUTET

DER PRAKTIKANT IST

HÄUFIGER EINE PRAKTIKANTIN Junge Berufseinsteigerinnen – egal

ob mit Hochschulabschluss oder schulischer oder betrieblicher Aus- bildung – absolvieren öfter Praktika als ihre männlichen Kollegen. Und sie werden schlechter bezahlt.

Der Begriff „Generation Praktikum“

bezeichnet eine Praxis, die in den vergan- genen Jahren einen negativen Trend am Arbeitsmarkt gesetzt hat: Statt in regulären Jobs zu arbeiten, werden viele Arbeitsu- chende in „Schein-Praktika“ hingehalten – und ausgebeutet. In der öffentlichen Debatte spielen dabei hauptsächlich Hoch- schulabgängerInnen eine Rolle, obwohl dieser Trend auch junge Menschen auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz betrifft, oder auch ältere ArbeitnehmerInnen.

Mitte 2006 gab es 600.000 Praktikan- tinnen und Praktikanten bundesweit laut IAB-Betriebspanel. Da Praktika in der Regel einen oder mehrere Monate dauern, dürfte ihre Gesamtzahl im Jahr jedoch um einiges höher liegen. Im IAB-Betriebspanel wurde genauso wenig nach Bildungsgrad oder Geschlecht unterschieden wie in der gesamten Debatte, obwohl alle vorliegen- den Zahlen eindeutig sind: Frauen machen häufi ger Praktika und werden – wenn diese Praktika überhaupt vergütet sind – auch noch schlechter bezahlt.

So kam die im Februar 2007 veröffentlichte DGB-Jugend Studie „Generation Prakti- kum? Prekäre Beschäftigungsformen von Hochschulabsolventinnen und -absolven- ten“ zu folgenden Ergebnissen:

• Die Zahl der Praktika nach dem Studium ist in den vergangenen Jahren stark

gestiegen, von 25 Prozent beim Absol- ventenjahrgang 2000 auf 41 Prozent beim Jahrgang 2002/2003.

• Fast die Hälfte aller Frauen (44 %), aber „nur“ etwas weniger als ein Viertel der Männer (23 %) absolvierten nach ihrem Studium mindestens ein Praktikum.

• Bei den Frauen waren 55 Prozent aller absolvierten Praktika nach dem Studium unbezahlt, bei den Männern 41 Prozent.

• In bezahlten Praktika haben Frauen durchschnittlich 543 Euro pro Monat erhalten, Männer 741 Euro pro Monat.

Dass höhere Praktikumsquoten bei Frauen nichts mit deren Fächerwahl zu tun haben, zeigt die HIS-Studie (siehe Literaturtipp).

Auch bei gleicher Fachrichtung landeten Absolventinnen häufi ger im Praktikum als Absolventen. Besonders deutlich tritt dieser Unterscheid in den Fachrichtungen Bauingenieurwesen/Vermessungswesen, Maschinenbau sowie Agrar-/Ernährungs- wissenschaften, Architektur/Raumplanung, Biologie, Mathematik, Pädagogik, Sprach- und Kulturwissenschaften wie auch Wirt- schaftswissenschaften zutage. Umgekehrt haben lediglich Pharmazeuten/Lebens- mittelchemiker und Lehramtsabsolventen für die Grund-, Haupt- und Sonderschulen häufi ger Praktika gemacht, als Frauen aus diesen Fachrichtungen.

Und im weiteren Verlauf zeigt die DGB- Studie: Frauen sind in dem dreieinhalb- jährigen Befragungszeitraum häufi ger von Arbeitslosigkeit betroffen und ihr späteres Einkommen liegt deutlich unter dem ihrer männlichen Kollegen.

Silvia Helbig, Bereich Jugend beim DGB-Bundesvorstand

Literaturtipp

Dieter Grühn und Heidemarie Hecht:

Generation Praktikum? Prekäre Be- schäftigungsformen von Hochschul- absolventinnen und -absolventen.

Hrsg. von Hans-Böckler-Stiftung und DGB-Jugend, Februar 2007.

www.studentsatwork.org/mediabig/

6131A.pdf

Kolja Briedis und Karl-Heinz Minks:

„Generation Praktikum – Mythos oder Massenphänomen?“ HIS-Projekt- bericht, April 2007.

www.his.de/generation- praktikum.pdf

(12)

SELBSTSTÄNDIG AUS NOT

EXISTENZGRÜNDUNG OHNE SOZIALES AUFFANGNETZ

Seit die Bundesagentur für Arbeit Existenzgründungen verstärkt för- dert, hat die Zahl der Solo-Selbst- ständigen deutlich zugenommen.

Auch Frauen suchen vermehrt den Weg in die Selbstständigkeit, oft ohne ausreichende soziale Absiche- rung.

2004 waren von gut 3,8 Millionen Selbst- ständigen mehr als 1,1 Millionen Frauen, fast 30 Prozent. Und ihr Anteil wächst stärker als der der Männer. Fehlende Alter- nativen auf dem Arbeitsmarkt und die Hoff- nung, Familie und Beruf mit einer selbst- ständigen Tätigkeit leichter vereinbaren zu können, treibt viele aus der Arbeitslosigkeit in die Existenzgründung.

Oft steht nicht die Geschäftsidee im Vorder- grund, sondern die Not. Die arbeitsmarkt- politischen Instrumente fördern das noch.

Nach Ich AG, Existenzgründerzuschuss und Überbrückungsgeld gibt es jetzt den Gründungszuschuss. Die Bundesagentur für Arbeit förderte 2005 rund 179.000 ExistenzgründerInnen. Insbesondere die Solo-Selbstständigkeit hat dadurch enorm zugelegt. Inzwischen beschäftigt jeder zweite Selbstständige keine weiteren ArbeitnehmerInnen. Bei Frauen liegt der Anteil sogar bei 67 Prozent.

Den größten Bereich bildet der Dienstleis- tungssektor. Frauen gründen bevorzugt im Gesundheits- und Sozialwesen, im Handel und im Gastgewerbe. Ob das Nagelstudio daheim oder ein Betreuungsdienst für Se- nioren, die Ideen sind vielfältig, die Selbst- ständigkeit aber oft nicht von langer Dauer.

Nur 40 Prozent aller ExistenzgründerInnen halten mehr als vier Jahre durch.

Existenzgründungen in Teilzeit versuchen zwar beide Geschlechter, Doch während Frauen meist keiner weiteren Erwerbstä- tigkeit nachgehen, sondern die Arbeit in der Familie übernehmen, üben Männer ihre Selbstständigkeit zusätzlich zu einer abhängigen Beschäftigung aus. Sie sichern sich dadurch sozial ab, während Frauen oftmals von Angehörigen unterstützt werden.

Die in Deutschland ohnehin schlechte soziale Absicherung von Selbstständigen trifft Frauen dann besonders hart. Denn wer wenig einzahlt, bekommt auch kaum Leistungen. Renten-, Arbeitslosen-, sowie Kranken- und Pfl egeversicherung sind für die meisten Selbstständigen keine Pfl icht.

Für verschiedene Berufsgruppen gibt es zwar Sondersysteme, teils auch mit arbeit- geberähnlichen Beiträgen. Hier sind jedoch nur ein Viertel aller Selbstständigen pfl icht- versichert. Aufgrund niedriger Einkommen und unregelmäßiger Erwerbsverläufe, wie der Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit und versicherungspfl ich- tiger Beschäftigung, wäre eine solche – erschwingliche – Versicherungspfl icht aber besonders notwendig.

Hinzu kommt der fehlende Arbeitsschutz und Einnahmeverluste im sozialen Sicherungssystem, denn gut verdienende Selbstständige versichern sich privat und steigen somit aus dem Solidarsystem aus.

Nur in der Arbeitslosenversicherung haben GründerInnen seit Februar 2006 die Chan- ce, sich freiwillig zu versichern.

Britta Jagusch

(13)

WEG ZURÜCK GESPERRT

EIN-EURO-JOBS ERFÜLLEN ERWARTUNG NICHT

Geförderte Arbeitsgelegenheiten forcieren den Personalabbau, ver- drängen reguläre Arbeit und bieten nur sehr selten einen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt.

Der Projektverbund Monitor Arbeitsmarkt- politik (MonApoli) der Hans-Böckler-Stif- tung zieht im Mai 2007 eine bittere Zwi- schenbilanz: Ein-Euro-Jobs sind nicht nur keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, sie wirken sich sogar negativ auf das Wachs- tum sozialversicherungspfl ichtiger Beschäf- tigung aus – vor allem in Ostdeutschland.

Obendrein erfüllen fast der Hälfte aller Anbieter zumindest einen Teil der gesetzli- chen Voraussetzungen nicht.

Rund 718.000 Menschen leisteten 2006 einen Ein-Euro-Job. In Westdeutschland liegt der Frauenanteil bei 41 Prozent, in Ostdeutschland bei 49 Prozent. Angebote kommen zu mehr als zwei Dritteln aus den sozialen Dienstleistungen. Vor allem kleinere Unternehmen beschäftigen Ein- Euro-JobberInnen. Mehr als die Hälfte der Arbeitgelegenheiten werden in Ostdeutsch- land angeboten. Während im Westen Haus- meisterdienste, handwerkliche Arbeiten und Verwaltungstätigkeiten im Vordergrund stehen, sind es im Osten Tätigkeiten in der Garten- und Landschaftspfl ege, der Betreu- ung und Altenpfl ege.

Vor allem viele weibliche Ein-Euro-Jobber in Ostdeutschland sind gut qualifi ziert. Im Westen werden dagegen mehrheitlich Un- und Angelernte herangezogen. Doch ob- wohl Ein-Euro-JobberInnen mit berufl icher Ausbildung eine bessere Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, ist die Bilanz schlecht. Im Westen halten Betriebe nur 37

Prozent der Frauen für geeignet, einen Job im regulären Arbeitsmarkt zu übernehmen, im Osten sind es rund 60 Prozent. Nur 15 bis 20 Prozent schaffen den Übergang in sozialversicherungspfl ichtige Beschäftigung.

Es mangelt an passgenauer Vermittlung und Qualifi zierung.

Britta Jagusch

Zeitarbeit auf dem Vormarsch

Zeitarbeitskräfte werden in den un- terschiedlichsten Branchen eingesetzt.

Niedrige Löhne, unsichere Beschäfti- gungsverhältnisse und schlechtere Ar- beitsbedingungen prägen die Branche.

Stammbelegschaften werden durch ZeitarbeiterInnen ersetzt, die Löhne ge- drückt, die Betroffenen als Beschäftigte zweiter Klasse behandelt.

Im Juni 2006 waren 600.000 Menschen als ZeitarbeiterInnen beschäftigt, Ten- denz steigend. In keiner anderen Bran- che ist die Dynamik so hoch und das Arbeitsverhältnis so instabil. Rund 60 Prozent der ZeitarbeiterInnen halten weniger als drei Monate durch. Die Fluktuation ist achtmal so hoch wie in der übrigen Wirtschaft. Frauen bilden mit rund 25 Prozent eine Minderheit, doch ihr Anteil steigt. Den grössten Zeitarbeitsanteil gibt es in der Metall- und Elektrobranche (28 Prozent), in den Dienstleistungen (17 Prozent) und im Verwaltungs- und Bürobereich (12 Pro- zent). Besonders problematisch ist, dass ZeitarbeiterInnen trotz ihrer häufig guten Qualifikation oft nur als Hilfs- arbeiterInnen eingruppiert sind, was geringere Entgelte zur Folge hat. Jede achte Zeitarbeitskraft ist auf ergänzen- de Sozialleistungen angewiesen.

(14)

DIE BRÜCKE ALS SACKGASSE

HOFFNUNG AUF POSITIVE EFFEKTE AM ARBEITSMARKT HAT SICH NICHT ERFÜLLT

Prekäre oder atypische Beschäfti- gung ist nicht nur ein Problem für die Betroffenen. Sie belastet oben- drein die Sozialversicherungen und disziplinieren jene, die noch „nor- male“ Arbeitsverhältnisse haben, sagt die Arbeitsmarktexpertin Dr.

Karin Schulze Buschoff.

Obwohl die Zahl der Erwerbstä- tigen von 38,6 Millionen im Jahr tigen von 38,6 Millionen im Jahr 1991 auf 38,8 Millionen im Jahr 2005 leicht gestiegen ist, gibt es immer weniger reguläre Jobs.

Geringfügige und befristete Jobs, Soloselbstständigkeit und Leih- arbeit nimmt zu. Wohin führt die Entwicklung?

Der deutsche Arbeitsmarkt zerfällt zuneh- mend in zwei Klassen, den regulären Ar- beitsmarkt und den wachsenden prekären Arbeitsmarkt. Zunehmend sind auch Voll- zeitbeschäftigte am unteren Ende der Lohn- skala betroffen. Europaweit gibt es zwar ähnliche Tendenzen, aber in Deutschland ist die Zunahme prekärer Beschäftigung besonders prägnant. Dies führt zu hohen Einnahmeverlusten in den Sozialversiche- rungssystemen. Allein durch die Zunahme der Minijobs gingen 2004 mehr als drei Milliarden Euro verloren.

Gibt es Arbeitsmarktbereiche mit Gibt es Arbeitsmarktbereiche mit besonders vielen prekären

Beschäftigungsverhältnissen?

Das ist vor allem im Dienstleistungssektor der Fall. Hier ergeben sich durch neue Informations- und Kommunikationstech- niken auch neue Tätigkeitsfelder. Aber auch der Einzelhandel und Tätigkeiten im Gesundheitsbereich, in der Pfl ege oder Lehrtätigkeiten, die höhere Anforderungen

an die Qualifi kation setzen, sind vermehrt betroffen.

Was bedeutet diese Arbeits- Was bedeutet diese Arbeits- marktentwicklung für Frauen?

Die Zunahme der prekären Beschäftigung führt zu einer geschlechtsspezifi schen Seg- mentierung des Arbeitsmarktes. Während Männer eher in regulären Arbeitsverhält- nissen tätig sind, wird ein Großteil der pre- kären Beschäftigung von Frauen geleistet.

Sie sind in den betroffenen Arbeitmarktbe- reichen überproportional vertreten. Allein zwei Drittel der MinijobberInnen sind Frauen. Niedrige und unstete Einkommen führen aber zu Lücken in der sozialen Absicherung. Diese Jobs sind oft noch auf die Rolle der Frau als „Zuverdienerin“ zu- geschnitten. Hinzu kommt, dass alle prekär Beschäftigten ein erhöhtes Risiko tragen, wieder arbeitslos zu werden.

In Deutschland ist die Schaffung In Deutschland ist die Schaffung von flexibleren und Niedrig-

lohnarbeitsplätzen seit Jahren erklärtes politisches Ziel. Wie hat sich die Arbeitsmarktpolitik in dieser Hinsicht verändert?

Man kann von einem Politikwechsel sprechen. Mit der Förderung des Nied- riglohnsektors wurden gleichzeitig die Sanktionselemente ausgebaut und weniger für die Qualifi zierung von Arbeitslosen getan. Die Leiharbeit wurde aufgewertet und niedrigschwellige Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit heraus gefördert.

Eine solche Arbeitsmarktpolitik ist aber nur dann akzeptabel, wenn Beschäftigun- gen im Niedriglohnbereich eine Brücke zum Übergang in eine existenzsichernde Beschäftigung bilden.

Soziale Sicherheit und

soziale Rechte sind

hierzulande besonders

eng mit Erwerbsarbeit

verbunden.

(15)

Mit der Förderung des Niedriglohnsektors wurden gleichzeitig die Sanktionselemente aus- gebaut und weniger für die Qualifizierung von Arbeitslosen getan.

Und ist das der Fall?

Diese Hoffnung hat sich nicht bestätigt.

Die mit den Hartz-Reformen eingeführten Maßnahmen haben die Situation nicht positiv beeinfl usst. Die Minijobs führten nicht in eine sozialversicherungspfl ichtige Beschäftigung, die Personal-Service-Agen- turen zur Vermittlung von Arbeitslosen über den Arbeitnehmerverleih waren in dieser Hinsicht sogar kontraproduktiv.

Auch die so genannten Ein-Euro-Jobs erwiesen sich bisher nicht als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt.

Wie wirkt sich diese Politik auf Wie wirkt sich diese Politik auf dem Arbeitsmarkt aus?

Der Druck auf das Lohngefüge steigt und Standard-Beschäftigte sind zunehmend verunsichert. Schließlich wird ihnen vor Augen geführt, dass sie leicht durch LeiharbeiterInnen oder MinijobberInnen ersetzt werden können. Das hat einen Disziplinierungseffekt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass reguläre Vollzeit- jobs durch Minijobs und andere subven- tionierte Arbeitsverhältnisse verdrängt werden. Kritisch ist auch, dass die mit verringerten Sozialabgaben verbundene Subventionierung dieser Jobs die ohnehin leeren Sozialkassen noch stärker belasten.

Gesamtwirtschaftlich betrachtet führen unsichere Beschäftigungen und niedrige Löhne zusätzlich zum Verlust an Kaufkraft.

Europaweit nehmen atypische Beschäftigungsverhältnisse zu.

Beschäftigungsverhältnisse zu.

In welchen Aspekten unter- scheidet sich die Entwicklung in Deutschland?

Im Bereich der sozialen Sicherung ist Deutschland auffällig. Soziale Sicherheit und soziale Rechte sind hier besonders eng mit Erwerbsarbeit verbunden. In den vollen Genuss der sozialen Rechte kommen nur Beschäftigte in normalen Ar- beitsverhältnissen. Bestimmte Berufsgrup- pen von Selbstständigen sind sogar ganz von den staatlichen Sozialversicherungs- zweigen ausgeschlossen. Im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten ist die soziale Absicherung atypisch Beschäftigter viel lückenhafter. Auch der Übergang von einem Job im Niedriglohnbereich in eine besser bezahlte Beschäftigung ist schwie- rig. Gemeinsam mit den USA, Großbritan- nien und Frankreich gibt es in Deutschland die geringste Aufwärtsmobilität unter den Niedriglohnbeschäftigten.

Wie könnten Flexibilität und Beschäftigungssicherung in ein Wie könnten Flexibilität und Beschäftigungssicherung in ein ausgewogenes Verhältnis ge-

bracht werden?

Wir müssen alternative und ergänzende Grundsicherungsmodelle entwickeln, denn unser beitragsbezogenes Sicherungssystem mit Geringfügigkeitsgrenzen ist wenig geeignet, die mit der atypischen Beschäf- tigung verbundenen spezifi schen Risiken abzufedern. Staatliche Systeme, die auf dem Einwohnerprinzip basieren, Grund- sicherungsmodelle integrieren und eine teilweise Steuerfi nanzierung vorsehen, sind dafür bessere Modelle.

Interview: Britta Jagusch

Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Karin Schulze Buschoff arbeitet als wissenschaftli- che Mitarbeiterin in der Ab- teilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung im Wis- senschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

(16)

Welche strategischen Herausfor- derungen für gewerkschaftliches Handeln zieht die Dominanz von Frauen in vielen prekären Beschäfti- gungssegmenten nach sich? Dieser Frage geht Jenny Huschke, Arbeits- marktexpertin im Bereich Gleich- stellungs- und Frauenpolitik beim DGB, nach.

Die Prekarisierung der Arbeitswelt und die damit einhergehende Verschiebung und Umgestaltung von Beschäftigungsver- hältnissen sowie zunehmend gebrochene Erwerbsbiographien stehen als Themen in den Gewerkschaften längst ganz oben auf der Agenda. Der DGB hat auf seinem letzten Kongress im Mai 2006 unter der Maßgabe „Von Arbeit muss man leben können“ beschlossen, sich verstärkt den verschiedenen Feldern der prekären Beschäftigung und der Gestaltung des Niedriglohnsektors zu widmen.

Arbeitswelt wird prekärer Die bis vor wenigen Jahren eher wissen- schaftlich geführten Diskussionen über

„das Ende des Normalarbeitsverhältnisses“

geraten nicht zuletzt deswegen ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung, weil prekäre Beschäftigung – also Arbeits- verhältnisse wie Minijobs, ungeregelte Praktika oder Leiharbeit und Arbeitsbe- dingungen wie Niedrig(st)löhne – längst ein bedeutender Teil der gegenwärtigen Arbeitswelt geworden sind und damit kein Randphänomen (mehr) darstellen.

Prekäre Beschäftigung weitet sich quan- titativ aus. Mehr und mehr Arbeitnehmer- Innen sind betroffen. Es gilt, sie gezielt anzusprechen, Konzepte für die Vertretung

ihrer Interessen zu entwickeln und sie auch gewerkschaftlich zu organisieren, da gerade die Durchsetzung ihrer Rechte von Urlaubsanspruch über Anspruch auf Mutterschutz bis hin zu betrieblicher Interessenvertretung oft schwierig ist.

Unter dem Stichwort prekäre Beschäftigung werden verschiedene Beschäftigungsver- hältnisse mit je unterschiedlichen Pro- blemlagen zusammengetragen. Sie sind in ihrer Breite in diesem Heft aufgeführt und diskutiert. Das ermöglicht eine aktuelle Bestandsaufnahme und damit konkrete Handlungsoptionen wie Gesetzesinitiativen, Tarifverhandlungen oder Betriebsvereinbah- rungen.

Erwerbsverläufe mit Brüchen und Unsicherheiten

Die Thematik der prekären Beschäftigung muss auch auf Erwerbsbiographien im Lebensverlauf bezogen werden und damit eine personenbezogene Perspektive eröff- nen. Erwerbsverläufe werden unsteter und es gibt Phasen und Wechsel, zum Beispiel zwischen prekärer und „normaler“ Arbeit oder auch zwischen prekären Segmenten.

Der Focus auf individuelle Erwerbsbiogra- phien bietet die Möglichkeit, Betroffene sektorübergreifend zu organisieren und Probleme wie Altersarmut zum Thema zu machen. Denn es gilt, RisikoträgerInnen wie beispielsweise MinijobberInnen in den Blick zu rücken, die aufgrund einer unzureichen- den Absicherung in der Sozialversicherung keine nennenswerten eigenen Rentenan- sprüche erwerben und damit besonders gefährdet sind, im Alter zu verarmen.

Prekäre Beschäftigung wirkt auch auf qua- litativer Ebene. Sie verändert das Gefüge

VOM ZUVERDIENST INS ZENTRUM

ERWERBSVERLÄUFE IN DEN BLICK NEHMEN

Prekarisierung – für Frauen kein neues Thema, sagt Jenny Huschke.

Literaturtipp

Anregungen und Vorschläge für die gewerkschaftliche Dis- kussion gibt es in dem Reader

„Prekäre Beschäftigung. He- rausforderung für Gewerk- schaften“, hrsg. vom Bereich Arbeitsmarktpolitik des DGB, Berlin, September 2007.

www.dgb.de/service/publika- tionen/index_html

(17)

der Arbeitswelt, da sie längst weit in den Bereich der so genannten Normalarbeit hineinragt und damit auch Stammbeleg- schaften betrifft. Damit kann sich auch ge- werkschaftliche Arbeit nicht mehr nur allein auf traditionelle Bereiche konzentrieren.

Es ist sicherlich eine Herausforderung bei- spielsweise für Betriebs- und Personalräte, neben der Arbeit für „die, die sie eigentlich gewählt haben und für die sie etwas tun müssen“ im Blick zu behalten, dass prekäre Beschäftigung auch „normale“ Arbeitsver- hältnisse unter Druck setzt.

Gleichstellungspolitische Ansatzpunkte

Gleichstellungs- und genderpolitisch bietet die Diskussion um prekäre Beschäftigung jede Menge Ansatzpunkte. Frauen sind bis heute nicht gleichwertig in den Arbeits- markt integriert, weder in Bezug auf Ihre Löhne und Gehälter noch in Bezug auf andere Ressourcen wie Aufstiegschancen, berufl iche Weiterbildung oder Führungs- positionen.

Marginalisierung und Prekarisierungsten- denzen sind Frauen nicht neu, aber erst seit diese auch das Zentrum des regulären Beschäftigungssystems und damit Männer in neuem Ausmaß erreicht haben, gewin- nen sie an Bedeutung auf der politischen Agenda. Das führt unter anderem zur Um- defi nierung von Begriffen und Slogans, die traditionell gleichstellungspolitisch geprägt sind wie zum Beispiel „Equal pay – gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“, der nun auf die Zeitarbeitsbranche Anwen- dung fi ndet.

Und es gilt, die Relationen zwischen Geschlechtern und Beschäftigungssegmen-

ten immer wieder zu verdeutlichen. So sind in den Segmenten prekärer Beschäftigung Männer und Frauen unterschiedlich ver- treten. Dies betrifft zum einen die reinen Zahlen: Die beschäftigungsstärksten prekären Sektoren, die Minijobs und die unfreiwillige Teilzeit, sind deutlich von Frauen dominiert. Und es betrifft zum anderen die Frage, wie diskriminierende Mechanismen im Wohlfahrtsstaat aufrecht erhalten werden, wenn Frauen in ihren Teilzeit- oder geringfügigen Beschäfti- gungsverhältnissen oder in arbeitsmarkt- politischen Maßnahmen wie den Ein-Euro- Jobs nach wie vor als Zuverdienerinnen defi niert werden. Denn eine eigenständige Existenz inklusive ausreichender Altersvor- sorge ist von den dort erzielten Löhnen nicht machbar.

Unbezahlte Arbeit ist weiterhin kein Thema

So nachdrücklich die aktuellen Diskurse über prekäre Beschäftigung die Frage nach sozialer Gerechtigkeit stellen, bleibt den- noch ein grundsätzliches Manko festzustel- len: Unbezahlte und vor allem von Frauen geleistete Haus- und Reproduktionsarbeit hat bisher keinen Eingang in die Debatte gefunden.

Die zentrale Forderung der DGB-Frauen nach einer eigenständigen Existenzsiche- rung für Frauen ist aktueller denn je. Wir fordern die Abschaffung von Mechanis- men wie das Ehegattensplitting und die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepart- nerInnen, die die geschlechtsspezifi sche Arbeitsteilung zementieren. Wir wollen si- chere Beschäftigungsverhältnisse und eine geschlechtergerechte Arbeits(umver)teilung.

Nicht gleichwertig integriert Frauen arbeiten überdurchschnitt- lich häufig in Teilzeit oder in Mini- jobs. Dies betrifft mehr als 40 Prozent der Frauen in Deutschland, Teilzeit- stellen waren 2004 zu 80 Prozent mit Frauen besetzt. Frauen arbeiten trotz guter Qualifikation sehr viel häufiger im Niedriglohnsektor. Pro- blemtisch ist hier vor allem ihre un- terwertige Beschäftigung. Branchen mit „Frauenberufen“ sind viel niedri- ger entlohnt. Beschäftigte mit nicht existenzsichernden Einkommen sind am häufigsten im Dienstleistungssek- tor zu finden, dreimal häufiger als im produzierenden Gewerbe.

Die überdurchschnittlichen Anteils- werte an sozialversicherungspflich- tig Beschäftigten, die ergänzende Leistungen bekommen, gehen in den betroffen Wirtschaftszweigen einher mit einem hohen Anteil geringfügi- ger Beschäftigung in diesen Berei- chen. Der Anteil der alleinerziehen- den Frauen an den Hilfebedürftigen ist sehr hoch. Diese haben auch die geringsten Chancen, aus dem ALG II- Bezug herauszukommen.

(18)

PFLEGEZEIT BLEIBT STRITTIG

PFLEGEREFORM SOLL BESSERE VEREINBARKEIT BRINGEN

Mitte September präsentierte die Gesundheitsministerin ihren Referentenentwurf zur Reform der gesetzlichen Pfl egeversicherung.

Die Vorschläge zur besseren Verein- barkeit von Beruf und Pfl ege sind in der Koalition jedoch strittig.

Positiv bewertet der DGB, dass Ulla Schmidt an der Pfl egeversicherung als eigenstän- digem Zweig der Sozialversicherung nicht rüttelt und die geplante Betragserhöhung zum 1. Juli 2008 paritätisch fi nanziert werden soll. Damit wäre die von der Union favorisierte Kopfpauschale, der zusätzliche Eigenbeitrag der Versicherten, vom Tisch.

Geopfert wird dafür der noch im Koalitions- vertrag enthaltene Risikostrukturausgleich zwischen sozialer und privater Pfl egver- sicherung. Die wichtigsten Punkte des Referentenentwurfs stärken den Grundsatz ambulant vor stationär:

• Aufbau von Pfl egestützpunkten und Pfl egebegleitung: Eine Vernetzung regionaler Pfl egeangebote soll Beratung aus einer Hand bieten und die ambulanten Versorgungsstrukturen verbessern. Pfl ege- kassen sollen FallmanagerInnen für je rund 100 Pfl egebedürftige beschäftigen.

• Pfl egepools und Förderung neuer Wohnformen: Pfl egesachleistungen sollen zum Beispiel in Wohngemeinschaf- ten oder in der Nachbarschaft gemeinsam genutzt werden können. Individuelle Ansprüche würden gemeinsam mit anderen Pfl egebedürftigen effi zienter und bedarfs- gerechter abgerufen.

• Pfl egezeit zur besseren Verein- barkeit: Der Entwurf erfüllt eine wichtige

Forderung des DGB. Die im Referentenent- wurf bis zu sechs Monate lange unbezahlte Pfl egezeit soll einen befristeten vollen oder teilzeitigen Berufsausstieg (mit Sozialver- sicherungsschutz) zur Pfl ege von Ange- hörigen mit Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz ermöglichen.

Die Pfl egezeit für ein und denselben Pfl ege- fall kann auch von mehreren Angehörigen in Anspruch genommen werden. Der DGB kritisiert allerdings, dass Betriebe bis zehn Beschäftigte von der Regelung ausgenom- men werden sollen.

• Qualität, Rehabilitation und Transparenz: Höhere Leistungen für Demenzkranke, häufi gere Regelüberprü- fungen in Einrichtungen, Prüfberichte in verständlicher Sprache und Konzepte zur aktivierenden Pfl ege sind geplant.

• Stärkung des Ehrenamts: Es soll sichergestellt werden, dass die Vergütung der Beschäftigten in den Einrichtungen dem Lohnniveau im Wirtschaftskreis entspricht.

Der DGB plädiert für den TVöD als Grund- lage. Bürgerschaftliches Engagement soll verstärkt werden. Der DGB begrüßt zwar, dass Ehrenamtliche in die Netzwerkstruktur um Pfl egestützpunkte eingebunden werden sollen. Das kann jedoch professionelle Pfl ege nicht ersetzen. Im Gesetz muss des- halb geklärt werden, auf welche Tätigkei- ten mit welchen Qualifi kationen bürger- schaftliches Engagement begrenzt ist.

• Kurzzeitige Arbeitsverhinderung:

Die im Entwurf vorgesehene bis zu zehntä- gige bezahlte Freistellung in einem akuten Pfl egenotfall hat die Union blockiert.

Beate Eberhardt

2007 2008 2010 2012 AMBULANT

Stufe I 384 420 450 450

Stufe II 921 980 1.040 1.100 Stufe III 1.432 1.470 1.510 1.550 Härtefall 1.918 keine Veränderung STATIONÄR

Stufe I 1.023 keine Veränderung Stufe II 1.279 keine Veränderung Stufe III 1.432 1.470 1.510 1.550 Härtefall 1.688 1.750 1.825 1.918 PFLEGEGELD

Stufe I 205 215 225 235

Stufe II 410 420 430 440

Stufe III 665 675 685 700

PFLEGESÄTZE SOLLEN STEIGEN

Quelle: Bundesgesundheitsministerium, August 2007

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