Vorwort der Herausgeber
Die Reihe »Militärgeschichtliche Studien« besteht seit über drei Jahrzehnten. In dieser Zeit konnte das Militärgeschichtliche Forschungsamt gemeinsam mit dem Boldt Verlag insgesamt fünfunddreißig Bände zu unterschiedlichen Aspekten und Perioden der Militärgeschichte herausgeben. Viele der vorgelegten Arbeiten zählen heute zu den Standardwerken der modernen deutschen Militärgeschichtsschrei- bung.
Nach der Übernahme des Boldt Verlages durch den R. Oldenbourg Verlag im Jahre 1996 erscheint die Reihe nunmehr zwar in einem neuen Gewand, ihr inhalt- licher Zuschnitt bleibt jedoch erhalten. Sie verfolgt weiterhin den Anspruch, soli- de erarbeiteten und anregenden Forschungsarbeiten aus allen Bereichen der Militärgeschichte eine Plattform zu bieten. Zwar dürften naturgemäß auch künf- tig Dissertationen den größten Anteil stellen, grundsätzlich stehen die »Militär- geschichtlichen Studien« jedoch auch anderen monographischen Untersuchun- gen offen.
Mit der vorliegenden Arbeit von Burkard Schmitt, die als Dissertation an der Universität Erlangen im Jahre 1996 angenommen wurde, legt das Militärge- schichtliche Forschungsamt den sechsunddreißigsten Band der Reihe vor. Der Verfasser, eine Zeitlang Visiting Fellow bei der Westeuropäischen Union in Paris, wendet sich einem Zeitraum zu, in dem die Nordatlantische Vertragsgemeinschaft von kontrovers geführten Diskussionen um die Ausgestaltung des Bündnisses geprägt war. Schmitt untersucht die französische Position in den Auseinander- setzungen innerhalb der NATO über atomare Mitbeteiligung der Westeuropäer und die Änderung der Bündnisstrategie von der »massive retaliation« zur »fle- xible response«.
Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die gut belegte These, daß Frankreich nicht gegen die Bündnisinteressen an den Aufbau einer eigenen nationalen Atom- macht gegangen sei. Erst das Scheitern der verschiedenen Ansätze zur transat- lantischen Kooperation habe nach dem Amtsantritt Kennedys den französischen Präsidenten zu der Entscheidung veranlaßt, diesen Weg im bewußten Konflikt mit den USA und als erklärter Vertreter westeuropäischer Interessen fortzuset- zen. Nachdem auch die europäischen Bündnispartner indes die damit verbun- dene Vorstellung ablehnten, französische Führungswünsche als europäische Groß- macht gegen die Führungsmacht USA zu unterstützen, vollzog de Gaulle 1966 den endgültigen Schritt zur Herauslösung der französischen Streitkräfte aus der militärischen Einbindung in die NATO.
Der Verfasser zeichnet diese Entwicklung sehr sorgfältig nach und stützt sei- ne abwägende Argumentation auf eine umfassende Auswertung des zugängli- chen Aktenmaterials und der neuesten Forschungsliteratur ab. So entsteht ein
VIII Vorwort der Herausgeber
überzeugendes, sehr detailsicheres Bild von Bündnisinteressen und französi- schem Nationalinteresse an der nuklearen Frage in diesem entscheidenden Jahr- zehnt.
Friedhelm Klein M.A.
Oberst i.G.
Amtschef des Militärgeschicht- lichen Forschungsamtes
Prof. Dr. Hans-Erich Volkmann Direktor und Professor
Leiter der Abteilung Forschimg im Militärgeschichtlichen Forschimgsamt
»... il y a un moyen terme entre l'intégration, qui est en réalité la colonisation américaine et qui appartient au passé, et l'hostilité, qui ne mènerait à rien et qui ne correspond pas aux sentiments de la France. Ce moyen terme, c'est la coopération sans hégémonie, la seule formule d'avenir.«
Charles de Gaulle, zit. nach: Alain Peyrefitte, C'était de Gaulle, Paris 1994, S. 355.
Einleitung
1. Thema und Fragestellung
Von 1956 bis 1966 standen die Beziehungen innerhalb der westlichen Allianz ganz im Zeichen der Nukleardebatte und der Auseinandersetzung um die Gestal- tung der atlantischen Partnerschaft. Beides hing unmittelbar miteinander zusam- men: In dem Moment, in dem die amerikanische Nukleargarantie für Westeu- ropa durch das heraufziehende nukleare Patt der beiden Supermächte an Glaubwürdigkeit verlor, wurde automatisch die gesamte »Geschäftsgrundlage«
des nordatlantischen Bündnisses bedroht. Die Frage, wie die Kernwaffenpolitik des Westens unter den veränderten strategischen Bedingungen organisiert wer- den sollte, setzte daher eine Grundsatzdebatte in Gang, die das Verhältnis der Westeuropäer untereinander ebenso berührte wie deren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.
Gesucht wurde eine Formel, die an die Stelle des bisherigen US-Monopols tre- ten und die nukleare Verantwortimg innerhalb der Allianz neu verteilen sollte.
Wie immer die Antwort darauf ausfallen würde: Sie mußte von ausschlaggeben- der Bedeutung für die Stellung der einzelnen Mitglieder im Bündnis sein und konnte darüber hinaus erhebliche Rückwirkungen auf den gesamten internatio- nalen Kontext haben. Die Nukleardebatte läßt sich deshalb vor allem als eine poli- tische Debatte deuten, obwohl sie militärische Hintergründe hatte und die Stra- tegiediskussion stets einer ihrer wichtigen Teilaspekte blieb.
Angesichts der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, Gestaltungsräume und Ambitionen der einzelnen Verbündeten entwickelte sich eine höchst kontro- verse Diskussion. Hatten die USA als Führungsmacht aus politischen und strate- gischen Gründen ein natürliches Interesse an der Aufrechterhaltung ihres Mono- pols, so wuchs diesseits des Atlantik die Zahl derer, die auf europäische Mitwirkung an den nuklearen Belangen der Allianz drängten. Dabei einte die kontinentaleuropäischen Verbündeten zwar das Unbehagen darüber, weder am Besitz noch an der Planung, der Strategie oder der Verfügungsgewalt über die